Es beginnt

Es liegt in der Luft des ausdünstenden Sommers. Es steckt in jedem Detail dieses scheinheiligen Morgens. Der Nordstrand glitzert, aber es sind nicht die Sandkörner sondern die Scherben. Die hereinkommenden Anrufe tragen die falschen Nummern, die Pracht der nächtlichen Gesellschaft wird langsam zu einer rein formellen Mitgliederversammlung. Das Taxi bringt sie dahin, wohin sie will, obwohl sie sich auf einen Umweg eingestellt hatte. Die Hitze frißt sich in den Mauern fest, obwohl es längst in Strömen regnet.

Die grausam lächelnden Strahlen des letzten Monats verbrennen ein paar unwichtige Hautpartien, die Ängstlichen sind eingefettet, aber ohnehin schon am Zusammenpacken. Die Tapferen scheucht spätestens der Ostwind zurück in ihre jämmerlichen Quartiere aus Holz und Strohfeuern. In den Nächten schiebt der Herbst seine modrige Zunge bereits tief in den Schlund des Sommers und grunzt zufrieden dabei. Vor Scham lassen die Bäume Federn, vor Wut schäumen die Flüsse, vor Ehrfurcht ziehen die Dächer der Stadt ihren Hut. Nur der Wetterfeste weiß, dass nichts ist, wo nichts war, wo nichts sein wird. Eine kleine Gruppe Wegelagerer schließt sich dem allgemeinen Meinungsumschwung an und zieht mit den letzten Barbecue Schwaden gen Osten. Der Rest fängt jetzt an, sich zu verstecken. Die Zeit der Lockvögel bricht an.

Ich lächle bösartig, als ich das heiße Wasser in der Dusche andrehe. Wenn die Kraft der Allgemeinheit versiegt und sie matt von der ganzen Unberechenbarkeit darnieder liegen, wenn sie entkräftet ächzen, während der Sommer sie langsam verlässt, wenn sie stöhnen unter den immer tiefer sinkenden winterlichen Damoklesschwertern, dann ist meine Zeit gekommen. Dann vermag ich zu gaukeln und zu spuken, werde mich drehen und vor allen Augen verschwinden, nur um an den entlegensten Stellen dieser Stadt wieder aufzutauchen.

Denn es tagt, während andere schlafen. Es sieht während es die Stadt mit Schneeblindheit schlägt, es kommt an wenn der Sommer verkommt und es brennt, wenn der September ausgelodert hat. Der Sommer begeht Fahnenflucht aber es hat gerade erst begonnen.

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  1. Wow! T.C. Burnie!

    Wer Worte, wie „In den Nächten schiebt der Herbst seine modrige Zunge bereits tief in den Schlund des Sommers und grunzt zufrieden dabei.“ ans Tageslicht bringt, möge bitte nie wieder aufhören zu schreiben…

  2. Verdammt, Burnster, ja. Fahnenflüchtige Sommer als Erste an die Wand. Die zerfetzte Standarte selber in die Hand nehmen und wie Marianne auf zerschossenen Wagen und den Überresten verfluchter und vergessener Haubitzen stehen, knöcheltief durch die letzte Glut alleingelassner Stadtparkgrillfeuer wandern, salzig-bitteren Geschmack von Aschestaub auf der Zunge zergehen lassend. Schweiß, wie eine Mischung aus Olivenöl, Knoblauch, Rosmarin und Thymian auf der Haut. Fernab vom Kreischen spielender Kinder, fernab vom zahnlosen Grinsen zutiefst zufriedener alter Männer, fernab vom Scherbengeklirr fröhlich geleerter Rotweinflaschen tropft der Himmel in einer Farbmischung aus beherzt aufgeschnittenen Pulsadern und abgestandenem Badewasser in den Horizont. Und es hat gerade erst begonnen.

  3. Auf dünnem Eis läuft sich’s recht schwer im Sommer. Und auf des Messers Schneide balancieren halt nur die Schneidigen. Heut nachmittag hat er sich verabschiedet, der Halodrisommer. Ich habs vom Park aus gesehen. Festhalten, Freunde: Ab jetzt wird’s windig.

    You are like a hurricane
    There’s calm in your eye.
    And I’m gettin‘ blown away
    To somewhere safer
    where the feeling stays.
    I want to love you but
    I’m getting blown away.
    (Neil Young)

  4. Dem verendenden Sommer stopft ihr Fichtenzweige zwischen die schmalen, rosafarbenen Lippen und weidet ihn aus. Greift mit beiden Händen fest zu und grinst euch an, wenn einem der Anblick der aufplatzenden Gedärme die letzten bunten Eiskugeln verleidet.
    Sauba, weida macha. Bis Kiata habts Zeid.

  5. Die Autopsie wird ergeben: Herr Sommer verstarb an inneren Blutungen, verursacht durch einen devastösen Aufprall auf dem Boden der klimatischen Tatsachen.

  6. Auf seinem Weg in die Morgue schleppte sich der Sommer gestern durch eine Kleinstadt 70 Kilometer südlich von Hamburg. An einem kleinen feinen Badesee ruhte er sich für einige Momente aus. Sofort versammelten sich wenig nacktraktive Nacktaktive.
    Von meiner Mutter hatte ich gelernt: man spuckt dem Sommer nicht ins Gesicht.
    Also planschte ich wenigstens im türkisfarbenen Wasser und winkte der scheidenden Jahreszeit zum Abschied.
    Ich freu mich auf ein Wiedersehen…

  7. Aber wehe, Sie sind melancholisch, Herr Mika. Dann gibt’s was hinter die sonnengebräunten Löffel. Alle Nachweiner lad ich nämlich persönlich zum Nordstrand ein und lass sie die erste Seite von Gotthelfs Schwarzer Spinne auswendig aufsagen. Da könnt’s schon mal üben:

    „Über die Berge hob sich die Sonne, leuchtete in klarer Majestät in ein freundliches, aber enges Tal und weckte zu fröhlichem Leben die Geschöpfe, die geschaffen sind, an der Sonne ihres Lebens sich zu freuen. Aus vergoldetem Waldessaume schmetterte die Amsel ihr Morgenlied, zwischen funkelnden Blumen in perlendem Grase tönte der sehnsüchtigen Wachtel eintönend Minnelied, über dunkeln Tannen tanzten brünstige Krähen ihren Hochzeitreigen oder krächzten zärtliche Wiegenlieder über die dornichten Bettchen ihrer ungefiederten Jungen.

    In der Mitte der sonnenreichen Halde hatte die Natur einen fruchtbaren, beschirmten Boden eingegraben; mittendrin stand stattlich und blank ein schönes Haus, eingefaßt von einem prächtigen Baumgarten, in welchem noch einige Hochäpfelbäume prangten in ihrem späten Blumenkleide; halb stund das vom Hausbrunnen bewässerte üppige Gras noch, halb war es bereits dem Futtergange zugewandert. Um das Haus lag ein sonntäglicher Glanz, den man mit einigen Besenstrichen, angebracht Samstag abends zwischen Tag und Nacht, nicht zu erzeugen vermag, der ein Zeugnis ist des köstlichen Erbgutes angestammter Reinlichkeit, die alle Tage gepflegt werden muß, der Familienehre gleich, welcher eine einzige unbewachte Stunde Flecken bringen kann, die Blutflecken gleich unauslöschlich bleiben von Geschlecht zu Geschlecht, jeder Tünche spottend.

    Nicht umsonst glänzte die durch Gottes Hand erbaute Erde und das von Menschenhänden erbaute Haus im reinsten Schmucke; über beide erglänzte heute ein Stern am blauen Himmel, ein hoher Feiertag. Es war der Tag, an welchem der Sohn wieder zum Vater gegangen war zum Zeugnis, daß die Leiter noch am Himmel stehe, auf welcher Engel auf- und niedersteigen und die Seele des Menschen, wenn sie dem Leibe sich entwindet, und ihr Heil und Augenmerk beim Vater droben war und nicht hier auf Erden; es war der Tag, an welchem die ganze Pflanzenwelt dem Himmel entgegenwächst und blüht in voller Üppigkeit, dem Menschen ein alle Jahre neu werdendes Sinnbild seiner eigenen Bestimmung. Wunderbar klang es über die Hügel her, man wußte nicht, woher das Klingen kam, es tönte wie von allen Seiten; es kam von den Kirchen her draußen in den weiten Tälern; von dorther kündeten die Glocken, daß die Tempel Gottes sich öffnen allen, deren Herzen offen seien der Stimme ihres Gottes. „

  8. Gwampojewski,

    birds are crying for the two of us, can’t sleep cause the moon, reminds me of your face(…)
    ob das wohl ein Liebeslied ist..
    wenn dann, post mahlzeit

    gwamps, die pest ist weg und dafür kann der Herbst kommen, selbst der ist besser als provinzielle plattitüden der güteklasse Sissy

    Du bist jedenfalls ein fantastischer Gwampi from the block

    bussi, von der Sissyrella

  9. des is schön, dass’d auf an raatsch vorbeischaust, sissy. und wenn uns fad ist, ekeln wir uns mal wieder vor unseren pubi-egos oder lesen ein gedicht vom colin. und nie vergessen: blut ist dicker als brennsuppn. und tu mir net immer so freizügig mit den kommas umgehen, irgendwann hast keine mehr und dann ist das wehklagen groß. dein brudding.

  10. Es gibt niemanden, dessen Koteletten so exakt nach den Staatsgrenzen von Winnipeg aussahenm, wie die von Neil Young. Onkel Samson findet den Staat doof, aber ich sage: „Keep on rockin‘ in the free world!“

  11. Die Melancholie liegt mir im Blut. Meist schaff ich es mit einem dämlichen Grinsen charmanten Lächeln davon abzulenken. Aber nachweinen werde ich auf keinen Fall. Schon allein, weil ich mir nicht so viele Sachen auf einmal merken kann.

  12. Ole: Onkel Samson ist ein Nestbeschmutzer und ich sage nochmal rückbeziehend auf den Post: „Rust Never Sleeps“!

    Mika: Siehst du, so erzieht man die Melancholiker. Frau Modeste könnte ich damit allerdings nicht schrecken, die kann eh schon alles auswendig.

  13. beautiful, just beautiful! sagt der dick und klaubt sich eine tomate vom strauch, schnürt das bündel und schürzt die schürze. die augustäpfel liegen auf dem boden und wollen, wie alle in diesem spätsommer, endlich wieder nach oben. (die alten weiber, die opfer im schlamm, die gefallen-und-nie-aufgehobenen).

  14. Außerdem bleib ich lieber bei Shakespear:
    …sometimes too hot the eye of heaven shines, and often is his gold complexion dimm’d…

    In diesem Sinne, muss jetzt raus.
    Der Sommer ist noch immer nicht verschwunden.
    Heute gibts noch mal Longboard, Baseball, Schwimmen, BBQ und Bier.
    Hyvää Päivä.

  15. Bei mir gab’s selbstgekochte Kartoffelcrèmesuppe, Spinatfeta-Taschen und rote Grütze mit Vanillesoße, gefoltgt von Rasenmähen und einem abendlichen, noch ausstehenden Kinobesuch…

  16. Der Sommer ist hier bei mir und zeigt mir zum Abschied nochmals wie er gekonnt hätte, wenn nur, ja wenn nur… auf dass ich richtig wehmütig werde.
    Bis eben saßen wir draußen im Garten meiner Schwester mit Champagner und Käse von dort und feierten. Doch das Morgengrauen ist schon herbstlich, jeden Tag wird es später hell, das Aufstehen fällt schon schwerer.

  17. Das mit dem Aufstehen ist mir allerdings auch schon aufgefallen. Es kann der Frömmste nicht in Frieden aufstehen, wenn es draussen kalt ist, oder wie war das?

  18. Bin zwar etwas spät, aber das hat auch mir ausgesprchen gut gefallen, Herr Burnster! Ich liebe diesen Übergang zwischen Sommer und Herbst – jedenfalls wenn er milde ausfällt und viel oranges Licht in die Stadt trägt. Trotzdem mag niemand die stinkende Zunge, denn der Herbst ist ja nur der Vorbote des Winters.

  19. Dankeschön für die Herbstblumen. Man tut dem Herbst ja oft Unrecht. Nur weil ihm der allzu sesshafte Winter auf dem Fuß folgt, ist er noch lange kein modriger Pausenclown. Immerhin schneidet er dem Sommer jedes Jahr langsam die Kehle durch. Und jetzt ein Smiley hinterher. ..

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