Im Schnee

„Winterreifen sind nicht vorgeschrieben, sagt der Chef. Also gibt’s auch keine Winterreifen, sagt der Chef.“ sagt der Taxler und müht sich die Saarbrücker Straße hinauf, um mit einem irren Seitwärtsdrift in die Schönhauser hinein zu stoßen.

In diesem einen Lokal sitzt einer exponiert auf einem Stuhl und knüpft aus kleinen bunten Luftballons, die er selbst aufbläst, einen chinesischen Drachen von acht Meter Länge. Das alles dauert seine Zeit, genauer gesagt einen halben Tag. Unterdessen saufen sich die Leute die Leute schnuckelig und jeder sieht aus, als müsste man ihn irgendwoher kennen, hoffentlich auch wir. Die Schuhmode der Damen bewegt sich in dieser Stadt ohnehin am ethischen Grenzwert und das Jeans in die Hose schubsen verhallt langsam als drei Jahre alter letzter Schrei und hat zudem schon die niederbayerische Provinz erreicht, aber was man heute Abend an entarteter Fellkunst sieht, gleicht einer Ausstellung über das Leben des Homo heidelbergensis zur Eiszeit.

Horden von Touristen belagern den Reichstag und wenn das Markttor von Milet im Pergamon-Museum heute umfallen würde, träfe es Hunderte und nicht die Falschen. Unter den Linden hat seine jüngst wiedergewonnene Pracht mal wieder zu Gunsten einer dieser unsäglichen WM-Baustellen abgegeben und die Welt wird sich wundern wenn sie bei Freunden zu Gast ist: So pedantisch und organisiert, wie sie sich das dachten, ist er nicht, der Deutsche. Zumindest nicht der Berliner. „Ich habe unfertig“ lautet unser Motto hier.

Auf der Baustelle weiß der Gerüstbauer nicht, ob er die dicken Handschuhe anziehen soll, denn dann merkt er nicht wo er hinlangt, oder die dünnen und ihm die Extremitäten abfrieren, weil der Körper muss ja Herz und Nieren erwärmen. Da kann man auf ein paar Zehen und Finger im Notfall verzichten. Die Schneeraumfahrzeuge sind so beeindruckt von dem weißen Spektakel, dass sie die Räumschaufeln gar nicht mehr senken, sondern einfach so aktionslos die Hauptstraßen patrouillieren.

Die Rodelbahn am Potsdamer Platz, für die man Ende November exklusiven Originalschnee aus Saalbach, Hinterglemm einfliegen ließ, ist dermaßen mit Berliner Schnee abgefüllt, dass ein Betrieb der Bahn nicht möglich ist. Italiener, Spanier, Engländer und vor allem Franzosen überfallen gleichzeitig die Einkaufsarkaden, während der Maronistand unbeachtet vor sich hindampft.

Um vier Uhr in der Früh fährt ein kleines Räumfahrzeug über den Bordstein am Nordstrand vorbei, aber räumt nicht.

„Es sind verrückte Tage. Sagt auch der Chef.“ sagt der Taxler.

4 comments / Add your comment below

  1. Du und der Chef?
    Oder Du und der Taxler?

    Oder Chef, Taxler und Du?
    Oder Du und Scoring-Mitnahme?

    Schuld ist der Maroni-Stand.

    Schade, dass Du nicht hier Sly feierst, Buzzcut. Aber bei diesen Witterungsverhältnissen hättest Du eh eine Survival-Anreise gehabt. Blame ist on Petrus, dem Schwein.

    Derzeit fühlen sich doch wirklich nur Michel und Christoph zuhause.

  2. Ich mag den Satz „Um vier Uhr in der Früh fährt ein kleines Räumfahrzeug über den Bordstein am Nordstrand vorbei, aber räumt nicht.“ und frage mich: Wie kann er das wissen?

    Und Maroni mag ich auch. Am PP, ja?

  3. Am PP, dem Epizentrum original Berliner Weihnacht. Und ich weiß es weil ich am Nordstrand wohne. So heisst mein Makrokiez, falls Sie es nicht wussten.

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