Das falsche Tagebuch: 10. September 2014

Achtung, es kommen Fetzen. Ich fuhrwerke verbal vor mich hin. Ich nöle, ich ächze und will gut dabei aussehen. Aber ich bin nicht Botho Strauß mit seiner Gravitassyntax, bei dem sowas immer klingt, als hätte er eine große Idee und eine noch größere Ahnung, obwohl er auch nur fuhrwerkt. Ich sage wirklich nichts, ich sage nur:

Ich bin ein seltsames Gebräu aus sturem Positivist und Apokalyptiker dieser Tage. Einerseits spreche ich Großteilen der Menschheit ab, die nächste Stufe der geistigen Evolutionsleiter erklimmen zu können und auf Ewigkeit ein ungehalten revanchistisches Pack zu bleiben, andererseits glaube ich ungebrochen an die intellektuelle Evolution, nur nicht an ihre Geschwindigkeit. Die Apple Uhr ist da, aber mit der Post kam heute meine erste Taschenuhr. Jetzt steht ein Spagat bevor: Sich aus Genussgründen tief in der Analogie zu verschanzen, aber nur als Conaisseur. Als Entreprenuer technisch auf dem neusten Stand bleiben, um nicht so wie die Eltern zu werden, die SMS-schreiben gelernt haben wie in einem Kurs an der Volkshochschule. Geiz nicht, spreiz dich. Mach alles mit, wo was bei rumkommt, sagt man den jungen Leuten an jeder Lebensstation. Kompositionale Ambiguität ist das Rüstzeug für das moderne Leben, und wer geradewegs schizophren ist, ist der wetterfesteste Darwinist. Das hat uns ein ethisch und sozial rückständiges Land wie Amerika schon immer vorgelebt, das mit der Zerrissenheit leben. Doch diese situative Moral maskiert nichts anders als einen splitterfasernackten und menschenhassenden Egoismus. Krieg kann man wieder machen, hab ich gehört, dafür ist Kapitalismus out. Situativ halt. Widersprüchlich sind nur noch Leute, die an Widersprüchen scheitern.

Ich selbst bin ein dummer Sklave meiner eigenen Ansichten, ein Idiot der Neunziger, in denen wir unterinformiert wie Kindergartenkinder geglaubt haben, das Zeitalter der Kriege nähert sich zeitlich greifbar dem Ende. Und Bauklötze gestaunt haben, als sich Titos Kinder auf dem Balkan gegenseitig die Köpfe abgeschnitten haben. Aber den Positivismus haben sie mir damals eingeimpft. Mit Glasnost, alternativen Energien, den Grünen im Parlament und den ersten Klimaabkommen. Diesen Zahn kann man mir nicht mehr ziehen. Ich glaube an das Hirn wie ein Pannist an den ADAC.

Allerdings nicht immer an meins. Je älter ich werde, desto ängstlicher werde ich. Angstdemenz nenn ich das. Uns schuld sind Kinder. Kinder machen einen aufrechten Menschen bröslig und schwach. Die Liebe zu den Kindern macht einen angreifbar und weinerlich. Vorher hatte man wenig zu verlieren. Die Todesverachtung der Zwanziger kann ich mir gar nicht mehr retroaktiv ausmalen, aber sie steht schwarz auf weiß in meinen Liedern und Tagebucheinträgen (oh ja). Die Liebe ist die ungesündeste. Meine Schwester hat neulich gesagt, man muss loslassen bei den Kindern, und sie trotzdem genauso weiterlieben. Was banaleres und schlaueres hab ich die letzten fünf Jahre nicht gehört.

Zum Wetter: Dieses grausig langsame Sterben des Sommers ab Ende Juli, das ich sonst immer so schätze, setzt mir dieses Jahr irgendwie zu. Weil es im Schnellvorlauf die Geschichte menschlichen Siechtums ist und also Glück im Leben eines Erdbewohners immer ein resignatives sein muss, wenn er nicht eine glaubwürdige Religion findet, die ihm die Ewigkeit verspricht. Aber welche Religion ist schon glaubwürdig. Ab zwanzig ist der Mensch verkalkt und lebt nur noch aus der Einbildung, sagt Thomas Bernhard in seinen Weißweinseligen Mallorca-Monologen. Nur bei den Kindern sind die Venen noch frisch, die sind noch in der Wirklichkeit. Das bezieht er vermutlich nur auf die Wohlstandsgesellschaft, die sich tatsächlich neuerdings ein paar merkwürdige Maxime eingebildet hat: Persönliches Glück ist grade das Maß aller Dinge im Burnout-Zeitalter.

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