Das falsche Tagebuch: 6. Oktober 2017

Selten so viele Defizite an mir festgestellt, wie im letzten Jahr. Oder noch schlimmer: gemerkt, die man immer noch in alten Defiziten verhaftet ist, von denen man dachte, man hätte sie abgelegt. Oder noch schlimmer: wie man wieder in alte Defizite zurückgefallen ist.

Gestern bei dem Sturm kam ich grade aus Blade Runner, auf den ich mich nicht so gut konzentrieren konnte, weil ich eine dysphorische Beziehungssituation per SMS klären wollte. Als ich an der S-Bahn stand und immer mehr Leute kamen und immer mehr Leute wieder gingen, überkam mich wieder dieses Gefühl, dass ich absolut nichts mehr unter Kontrolle habe. Ich reservierte schnell das einzige Drive-Now-Auto in der Gegend und rannte los. Draußen flogen Zweige an mir vorbei – ich war am Potsdamer Platz wohlgemerkt. Ich saß dumm in diesem Mietauto und vergaß, wie ich es starte. Das Gefühl, nichts mehr kontrollieren zu können, noch nicht einmal das dämliche Auto.

Meine Tochter ist schwer erkrankt und wird vielleicht in näherer Zukunft sterben, das hätte mich die Illusion von Kontrolle eigentlich aufgeben lassen können, aber es ist ja das Katastrophenmanagement, was dann übernimmt. Irgendwann startet das Auto, denn es liegt ja nur an meiner panischen Dummheit, dass es nicht fährt. Ich kreise ums Mall of Berlin, sehe wie Leuten beinahe davonfliegen und bin verwirrt und vulnerabel und sonstwas. Langsam erkenne ich den Weg zurück in meine Straße und stehe zwar im Sturmstau, weiß aber jetzt wieder, wo ich hin muss. Ein bisschen Kontrolle ist da wieder. Während ich fahre, denke ich darüber nach, wie defizitär ich bin. Eine Katastrophe wie die Krankheit bringt ja oft das Beste im Menschen hervor, sagt man. Man sagt auch, er lernt, den Moment zu schätzen. Meine Katastrophe bringt vor allem hervor, wie viel Angst ich habe, alles zu verlieren. Wie ungeduldig ich bin, wie wertend, wie rastlos, wie panisch, noch mehr Kontrolle zu verlieren.

Die Ehe hat’s zerbröselt im Jahr der Therapien und Bestrahlungen, ich wohne jetzt ein paar Häuser weiter weg von Daheim und die Kinder machen mir plötzlich Mühen, vorher waren sie oft der beste Zeitvertreib. Ich habe eine neue Freundin, die mir Dinge beigebracht hat, wie ich sie nicht mehr dachte, lernen zu können, aber ich bin zu nervös für Beziehungen, ich bin zu nervös für das ganze Leben. Meditieren hilft mir manchmal. Auch der Sturmstau ist eine Meditation. Als ich ankomme, fühle ich mich erleichtert, etwas unter Kontrolle gebracht zu haben.

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