Das falsche Tagebuch: 15. Juli 2015

Wünschte, ich könnte nachts nicht schlafen. Könnte nämlich die ganze Zeit schlafen. Den ganzen Sommer hindurch. Wetter ist mir egal, aber ich ihm nicht. Es macht mich absichtlich wahnsinnig, meine Haut, mein Immunsystem. Zirka 15x im Telekomladen gewesen. Motherfuckers. Zirka 15x hat der Filius diesen Monat das Frühstück zurückgehen lassen. Motherfucker. Nein, natürlich nicht, ich verstehe ihn. Es war halt nicht so wie er sich das vorgestellt hatte. Wie soll ich ihn glaubwürdig schimpfen, wenn ich das gut verstehe. Es ist ja nie ganz so.

Die Übersetzung von diesem Thriller, in dem Leute in New Mexico ständig Geldscheine falten und die Sicherheitsbügel ihrer Colt Anacondas überprüfen, treibt mich in den Wahnsinn mir ihrer akribischen Schwüle. Abends esse ich nichts. Will das Gift loswerden, den Körperwohlstand. Kann man sich auch hineinsteigern. Wie in die Vorstellung, dass mit der Haut was nicht stimmt. Wenn man sich dann das Gesicht abschabt wegen der Vorstellung.

Das Griechenland-Theater. Das erste Mal denke ich, an Verlagübergreifendem Kampagnen-Journalismus ist was dran. Die deutsche Großkotzigkeit überrascht mich dennoch. Ich dachte, die Bescheidenheit nach dem Zweiten Weltkrieg hielte vordergründig noch an. Da lassen jetzt einige die Masken fallen. Einige, die das nicht sollten. Masken fallen lassen macht man lieber daheim. Nennt sich Zivilisation, nennt sich Respekt und Liebe. Ich muss jetzt aufhören, die Familie kommt und will irgendwas. Und es ist gut, dass sie jetzt schon da ist, auch wenn sie zu früh kommt und ich noch übersetzen müsste. Denn grade das mit Nick Caves Sohn gelesen, das hat mich verstört mit seiner Grausamkeit. Wie macht man weiter? Ich muss was trinken. Ich muss Duzi machen.

Das falsche Tagebuch: St. Maxime

Neulich an der Côte d’Azur gewesen. Ein paar Sachen sind mir aufgefallen: weniger in die Ewigkeit hineindarbende Bausünden als an der italienischen Adriaküste oder der Costa Brava, keine Imbisse, ständig nur Spezialmenüs aus der gottgleichen provenzalischen Küche zu gesalzenen Preisen, alle Männer tragen leicht herausgewachsenes weißes Haar und Poloshirts mit Emblemen drauf, ähnlich abstößlich wie von Camp David.

Der Opel Klopp (verwirrenderweise auch firmierend unter Opel Mokka) war unser Leihauto und abgesehen davon, dass man das Telefon per Bluetooth anschließen konnte, um fünfmal hintereinander Kendrick Lamars „Backstreet Freestyle“ auf Wunsch des Vierjährigen zu hören, weil K.L. da einen Maserati („Vroom Vroom“) nachmacht und außerdem so schön und oft „Biatch“ sagt, was der Vierjährige jetzt auch kann – also davon abgesehen ist dieser Opel Mokka ein fahrbarer Haufen unnütze Technologie mit einer Bedien-Konsole, die selbst einen Windows XP-Benutzer verwirren muss.

Zurück zu den Franzosen. Natürlich sprechen sie wirklich kein Englisch. Und kein Spanisch. Und kein Deutsch. Stell dich also mal ohne die Leo-App (weil kein Internet) und ohne Sprachführer in den Supermarkt und frag nach Haferflocken. Die Resultate sind ganz erstaunlich. Ganz erstaunlich war auch die Alarmanlage von der Nachbarsvilla, die zwei Nächte fröhlich durchgeblasen hat wie ein kaputter Defenders-Automat über die Rock-Am-Ring-Hausanlage. Aber hey, der Inhaber war im Ausland, die Polizei hat gesagt, heute ist Sonntag und der Greenkeeper hat behauptet, es wäre das Auto vom Parkplatz gegenüber.

Aber ich will nicht nur meitern, wie man im Süden Deutschlands sagt. Denn selten so was Schönes wie St. Tropez gesehen, selten – eigentlich noch nie – ein dergestalt gutes Pistazien-Softeis gelutscht. Auch in Port Grimaud, einer Art mediterranem Bauhaus-Venedig in petite sehr wohl gefühlt und oben in den buchstäblich hautengen Gassen von Gassin. Letztlich doch ein schöner Urlaub, wären da nur nicht die vielen Familienmitglieder gewesen, die einen ständig vom „Risiko“ (von Steffen Kopetzky)-Lesen abgehalten haben mit so Sonderwünschen wie Badengehen, Ausflügemachen, Windelwechseln oder Transformers-Rollenspielen.

Aber am Schönsten war das Ende vom Urlaub, als ich am Flughafen in Nizza die Reisetasche vom Sohn hab stehen lassen. Als ich zehn Minuten später an den Ort des Geschehens – ergo des Vergessens – zurückkehre, hat eine Division von Sicherheitsbeamten schon ein Dreieck aus Absperrband um die Tasche gespannt, aus der vorwurfsvoll der Bärbär vom Vierjährigen lugt. Das Bombenkommando wird auf meinen ausdrücklichen Wunsch abbestellt und ich muss auch die angedrohten 7.000 Euro nicht zahlen – es ist wie gesagt alles etwas teurer in Südfrankreich. Als ich auf Englisch wissen will, wo die Tasche gefunden wurde, versteht man mich nicht. Ist ja auch nur eine potenzielle Massenlebensgefahr durch einen Sprengstoff-Teddy, wer muss dazu Englisch können. Ansonsten Bombenurlaub.

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PS: Schade um Dusty Rhodes.

Das falsche Tagebuch: 30. April 2015

Mich kränken nicht Niederlagen vom FC Bayern München, die ärgern mich nur einen Abend lang, dann geht das Leben – ja, tatsächlich – so weiter wie bisher. Aber ich finde diese Häme grauslich. Weil Häme so eine grausliche Angelegenheit per se ist. Ich hau im Brennerpass schon auch mal ein bisschen drauf, daber das ist humoristisch und fachlich motiviert, behaupte ich mal (eigentlich will ich auch nur Aufmerksamkeit). Ich mag im Grunde alle Vereine auf ihre Art, auch den BVB, und ich würde mich nie genüsslich öffentlich darüber ergehen, wenn ein Verein verliert. Dass man so fühlt – geschenkt – man ist ja ein Mensch. Aber genau wie zum Menschsein die niedersten und ekligsten Instinkte gehören, gehört auch dazu, dass man sie sich in der Regel verkneift. Das unterscheidet uns ja von dieser rasenden kriegstreiberischen Meute, die wir ohne Filter und Etikette wären. Und klar darf jetzt jeder sagen, der gestopfte Bayernfan, der verwöhnte fette Erfolgsgockel kann’s halt nicht verkraften, wenn er mal verliert – fair enough – say it to my face, aber sei Dir stets bewusst, dass es traurig wirkt, wenn Du es ins Netz schreibst.

Dann die BND-Affäre. Warum spioniert man überhaupt Frankreich aus? Redet man nicht ohnehin pausenlos miteinander? Und was gibt es in diesem Zeitalter aus Glas eigentlich noch herauszufinden? Okay, Wirtschaftsspionage, I give you that. Aber was außer Geld ist da an Vorteilen heraus zu ziehen? Und ist Geld in unserer Zeit nicht zu einem völlig profanen Wert verkommen, für den man schräg angeschaut wird? Nein, ich weiß, so weit ist es noch nicht, aber soweit kommt es. Ich bin mir sicher, diesen Spionen ist arschlangweilig. Stelle man sich mal vor: Jahrhunderte lang besteht dein Job draus, Kleinstwissen mit unmenschlichem Aufwand zu erzeugen und dann kommt das Internet, du hast plötzlich alle Instrumente, von denen du je geträumt hast, aber bist nur noch von Freunden umgeben. *goodgracious* Der Mensch braucht ein Ziel, welches ist immer erst sekundär. Und wenn der Spion nicht spionieren darf, dann ist er kein Spion mehr und ergo vielleicht auch kein Mensch, weil ein Mensch ohne Aufgabe ist ein Rasender, siehe Thema Häme oben.

Mein Sohn hat mich neulich gefragt, warum es uns gibt, da habe ich gesagt, das liegt an einer Konstellation. Das führte irgendwann zum Thema Aliens und er hat vermutet, Aliens leben schon längst unter uns, deshalb wüssten wir auch nicht wie sie aussehen. Außerdem hat er vermutet, dass Obi Wan Kenobi im ersten Star Wars längst tot ist, als er Luke hilft und gegen Darth Vader kämpft. Er war ohnehin nur ein Geist, sagt er, deshalb ist er auch einfach verschwunden statt gestorben, als ihn das rote Lichtschwert trifft. Weil ich mich im Beruf gerade mit der Schaubühne und Lars Eidinger beschäftige, habe ich viel über das Theater nachgedacht. Und eben die Actionfiguren und zugehörigen Mythologien meines Sohnes. Es ist alles ein Parnassus-Ort, ein Spiegelkabinett mit Moral, Resolutionen und abgeschlossenen Geschichten. Mit Aufgaben. Deshalb ist Eskapismus eigentlich immer auch nur die utopische Sehnsucht nach einem inhärenten Regelwerk für den ganzen Nonsens, den wir täglich verrichten. Ob das Richard III. oder Avengers II ist, es geht immer um einen Regelkreislauf, von dem wir sicher sein können, das ihn jemand steuert oder erstellt hat. Das unterscheidet die Fiktion von der Realität.

Das falsche Tagebuch: 16. März 2015

Auf der Buchmesse gewesen, kleiner gefühlt als notwendig. Alles wie immer eine Frage der Entourage. Und eigentlich nehme ich mir das schon lange vor: einmarschieren statt nur auftauchen. Aber heutzutage haben ja alle Freunde Jobs, Familie, Burnout, Tinder oder alles gleichzeitig. Da bekomm‘ mal eine ordentlich Entourage zusammen. Das Wetter in Leipzig war eine einzige Feindseligkeit, Graupelschauer Euphemismus. Notiz an mich selbst: City Gyros beim nächsten Mal meiden, wenn der Magen vom Durcheinanderschnapseln noch angeschlagen ist. Und den Kaugummi nicht immer hinunterschlucken, denn Mama hatte doch recht: der Magen pappt zusammen. Heute gehe ich zu Richard III. in die Schaubühne und schau mir Lars Eidinger an, wie er sich dem Wahnsinn hingibt und dafür Geld bekommt. Traumjob eigentlich. Ich hätte Lust „Much Ado About Nothing“ zu spielen, zwei Leute für alle Rollen und alle Kostüme. In einer 40minütigen „Previously on Much Ado“-Version. Irgendwie gefällt mir die Zeit grade. Alles ist angenehm unberechenbar aber man hält sich selbst irgendwie zusammen. Alt fühle ich mich nur, wenn ich überlege, was ich noch gerne alles machen würde bis ich fünfzig bin. Da wird dann die Zeit schon mit 40,4 knapp. Denk ich also lieber an Folgendes:

Salviathymol, Pappardelle, Salsiccia, Nofretete, Tsikoudia, Kimbo Gold, Epos Polluce, Ford Escort, James Taylor, Matala, Phineas & Ferb, Brandon Stroud, Frankfurt am Main, A Tribe Called Quest, Bryan Alvarez, Cheap Heat, Splitterbrötchen, Duke Ellington.

Das falsche Tagebuch: 19. Februar 2015

Wenn man so wie ich die Autobiografie von einem Automanen wie Terry Gilliam übersetzt, lernt man eine Menge über die Art dieses Menschen zu denken. Man interessiert sich plötzlich nicht nur für seine Vorlieben (Lon Chaney, Harvey Kurtzman, George Harrison), sondern auch für die Denkmuster und moralischen Grundsätze und ertappt sich dabei, die eine oder andere Sentenz ungefiltert bei einem Glas Jameson an der Theke auszuspucken, und erst im Nachschreck zu begreifen, dass das eigentlich nicht die eigene Meinung war. Kurz: Gilliam macht mich wahnsinnig. Und er zwingt mich förmlich, zusammen mit ihm über den Tod nachdenken. Der Mann ist schließlich 74 und grade im letzten Kapitel schwingt ein Hauch von kalter Ewigkeit mit. Und zwar mit einer gewissen Indifferenz, das macht ihn mir auf den sprichwörtlich letzten Metern wieder sympathischer.

Neulich war ich in Rerik an der Ostsee und auf dem Weg hatte ich meine erste richtige Autopanne. Mitten in der Meck-Pomm-Pampa sagt der Motor leise Arrividerci und schon steht man mit Kind, Baby und Frau auf weiter Flur, das Auto lehnt am Straßengraben, lächerlich überbepackt für vier Tage Ostsee. Muss man auch erst lernen, das Packen als Herde. Auf jeden Fall kommt jemand von der Freiwilligen Feuerwehr Boltenhagen und schleppt uns ab und erspart uns so die kalte Stunde, bis der ADAC sich aus Rostock herunter bequemt hat. Einfach so von Wildfremden in den Arm genommen zu werden (im übertragenden Sinn) fühlt sich toll an, wie die Lösung aller Menschheitsprobleme. Was aber, hätte ich einen Turban aufgehabt oder ausgesehen wie Gerald Asamoah? Man will es gar nicht wissen. Der Ford Focus fährt wieder mittlerweile, da war ein Leck an der Kühlung vom Motor. Hätte ich gewartet, bis der Motor wieder angeht und wäre noch ein paar Kilometer gefahren – Exitus.

Das Leben mit zwei Kindern ist fantastisch, aber frisst die ganze verbleibende Zeit. Doch dann finde ich mich im Theater wieder, sehe Hamlet (bzw. Eidinger muss weg), den Prozess oder das Kalkwerk, oder sitzte nachts im Dunkeln und schaue hintereinander Better Call Saul, Justified und Walking Dead. Irgendwoher kommt doch immer Zeit, man nimmt sie sich einfach vom Schlaf weg. Ich kann kaum ausdrücken, wie glücklich (und müde) mich das macht. Dass es immer noch die Nacht gibt, die einem ganz gehört. Also fast ganz, weil die Kinder ja einem auch nachts hin und wieder an den Qualitätszeitkragen wollen.

Mir fehlt ein bisschen das Geld zum Urlaubmachen und ein bisschen das Geld zum Umziehen und ein bisschen das Geld, um nicht über Geld nachzudenken. Es wäre eine gute Zeit für ein wirklich erfolgreiches Buch, aber noch ist sicher, wo und wie und ob überhaupt das nächste erscheint. Ein Fünftel davon ist fertig, es ist eine Geschichte aus den 80ern. Über Liebe, radioaktiven Regen und das tiefe Misstrauen in die Zeit und den Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Denke ich an die Achtziger, kommt mir alles schwarz vor.

Es ist erstaunlich, wie verunsichert man schon mit vier Jahren sein kann, denke ich, wenn ich meinen Sohn anschaue. Warum beschäftigt er sich mit Traumfängern, denkt über Tod, Umzüge und Entfernungen nach, wo doch jetzt die beste Zeit ist, hirnlos mit Feuerwehr-Autos zu spielen. Ich wünsche ihm keine grüblerische Natur oder dass er Künstler wird, wirklich nicht, aber der Zug könnte auch schon abgefahren sein. Immerhin will er kein Instrument spielen und kennt mehr Superhelden beim Namen als ich.

Ich selbst bin verunsichert, was das alles soll mit den Lebensstationen. Kinder werden älter, das ist gut und schön, aber muss man denn selbst ständig gesellschaftliche Evolution betreiben? Muss man mehr Geld verdienen, öfter ins Theater gehen, elaboriertere Interessen haben, Proust zitieren oder einen Porsche kaufen? Reicht es nicht, ein bisscher netter zu sich und anderen zu sein? Vielleicht noch ein paar Western mehr gesehen zu haben? Nicht mehr so oft die Grippe zu haben?

Das falsche Tagebuch: 9. Januar 2015

Das Schlimmste an humanitären Katastrophen im Jahr 2015 ist neben der Katastrophe an sich, die Tatsache, dass sich jeder Hirsch verpflichtet fühlt, sich dazu zu äußern. Ich habe mir übrigens neulich den Magen verdorben, glaube ich. Ausnahmsweise kein Virus, sondern Shrimps-Salat in Cocktailsauce von Netto. Um ehrlich zu sein, wusste ich schon beim Verzehr, dass das kein gutes Ende nimmt. Ich glaube, bei dem ganzen Theater um den Islam haben wir eines verschwitzt: in einer ideal abgelaufenen intellektuellen und sozialen Evolution müssten wir eigentlich längst über das Thema Religion hinweg sein. Moralische Grundsätze (und Grundgesetze) haben wir doch eigentlich zum Saufüttern genug. Manchmal wäre ich gerne wieder auf dem Dorf mit der Familie und würde dort alles deinstallieren, was ich nicht sehen will. Nur die Abendzeitung mit den Neuigkeiten vom FC Bayern würde ich noch lesen am Frühstückstisch – wie früher. Doch wenn dann der Magen wieder in Ordnung ist, die hässlichen Shrimps und das Facebook-Pharisäertum final wegverdaut sind, hab ich doch wieder Lust zu raufen. Und wenns nur mit mir selbst ist. Und ich fürchte, das ist es: die Leute sind beinahe froh, wenn sie sich über etwas anderes echauffieren dürfen als ihre eigenen gottverdammten Unzulänglichkeiten.

Das falsche Tagebuch: 6. Januar 2015

Ich finde Pegida gar nicht so schlecht. Als Moralpessimist gehe ich sowieso davon aus, dass ein Großteil unserer Bevölkerung seelenruhig in seinem Fremdenhass vor sich hin brodelt, und um dieses Brodeln wieder in ein Dimpfeln zu verwandeln, braucht es eben hin und wieder einen großen Gesellschafts- und Medienreflex wie die Anti-Pegida-Bewegung.

Das kann er nämlich – ganz ohne Hohn – ganz prima, der Nachkriegsdeutsche: Auf die Straße gehen, wenn das Gefühl entstehen könnte, er sein ein intolerantes Arschloch. Gegen sauren Regen, Wackersdorf, die Republikaner oder eben jetzt diese Hirnis mit Haupstadt Dresden, wo man damals kein Westfernsehen empfangen konnte, hat ein Freund heute beim Kaffee mal ganz leicht anpolemisiert. Insofern auch bitte gerne weiterhin schreihälsige Idiotie brandmarken, damit die stumme zuhause wenigstens so eine Art schlechtes Gewissen entwickeln kann. Die Kultur erzieht die Masse, umgekehrt ist immer verkehrt, siehe Helene Fischer.

Nur dass jetzt bei Facebook jeder zweite eine Pegida-Belehrung aus dem politisch korrektem Ärmel schüttelt, will mir nicht so recht einleuchten. Zumindest in meinen FB-Bekannten gibt es keinen einzigen, der bekennend mit AfD oder Pegida sympathisiert. Das pseudoaufklärerische Internet-Gehabe ist doch wieder mal nur PC-Geprotze und die Beruhigung des eigenen schlechten politischen Gewissens, weil man sonst auch nichts aus seinem Leben macht als Geld und Kinder anzuhäufen, um beides irgendwann in einer Eigentumswohnung zu dumpen.

Das falsche Tagebuch: Weihnachten 2014

Ich mag Weihnachten eigentlich ganz gerne, seit mein Opa tot ist und ich nicht mehr das Weihnachtsevangelium vorlesen, Stille Nacht singen oder Gitarre spielen muss wie ein dressierter Affe. Meistens geh ich ziemlich ausgebrannt in den heiligen Abend, das gehört dazu. Meistens passiert irgendwas Dämliches, meistens bin ich über meine Geschenke enttäuscht, immer fehlt irgendwas Wichtiges beim Kid, über das wir im Vorfeld angeblich gesprochen hatten.

Dieses Jahr habe ich nachts, bleischwer nach dem gloriosen Nachtisch meiner Frau (Vanille, Mascarpone, Apfelkompott), die gesamte Vorhangkonstruktion im Schlafzimmer heruntergerissen. Heute früh beim Reparaturversucht den Schraubenzieher in den Finger gespießt -> reign in blood. Die Kinder sind jetzt für immer verstört, aber dafür wurde mir Frühstück gemacht und gebracht, ohne dass ich einen Finger (sic) rühren musste. Aber keine Sorge, es ist nur Blut, hab ich zum Junior gesagt. Ich könnte das alles auch strukturierter und pointierter erzählen, aber dann wäre es eine Axel-Hacke-Kolumne.

Das Beste aus meinem Leben ist auch in diesem Jahr wieder die Tatsache gewesen, dass ich von den meisten Dingen keine Ahnung habe und nichts aber auch gar nichts darauf hindeutet, dass mir jemals langweilig werden könnte. Das Beste aus aller Welt ist, dass sie noch steht. Ist ja nicht selbstverständlich, wo doch spätestens 2014 der schwelende Trend vom „Ich hab zu allem einen Meinung, kehr aber nur vor der eigenen Haustür“ zum Mainstream avanciert ist. Apropos Mainstream: Der Reflex unserer Hauptmedien gegenüber Pegida war Spott und Pranger. Das beruhigt mich. Ich finde zwar alle Religionen stockbescheuert, aber niemals in der Weltgeschichte hat die Unterdrückung (und ich sehe auch dich an, China) von Religionen zu irgendeinem humanistisch gesehen positiven Ergebnis geführt. Man muss die Religion einfach Religion sein lassen, irgendwann erledigt sie sich von selbst. Intellektuelle Evolution. Da glaube ich fest dran.

Wir haben übrigens erstmals einen (halbwegs) großen Baum dieses Jahr, weil wir nicht in Bayern sind, wo meine Eltern sonst einen halben Wald in die Wohnung stellen. Ich hab auch das erste Mal unter den strengen Augen der Innenarchitektin den Baum geschmückt, leider aber ein bisschen zuviel in der CMYK-Palette gewildert und musste dann die blauschimmernden Kugeln wieder abnehmen. Dafür hat der Junior dann eine knallblaue drangemacht. (ätschbätsch, Innenarchitektin). Leider ist Berlin an Weihnachten nicht mehr leer, nur noch fad. Aber immerhin etwas. Jetzt gehen wir dann gleich mit der Verwandtschaft in ein Diner und machen uns eine Hamburgerwampe. Frohe Weihnachten allerseits.

Das falsche Tagebuch: 4. Dezember 2014

Eine Weile nichts in das falsche Tagebuch geschrieben, weil alles zu echt war. Ich bin kürzlich das zweite Mal Vater und das erste Mal Vater einer Tochter geworden und die Monate davor waren wie ein schlechter Traum. Es hat sich neben der Schlaflosigkeit – die jeztige ist ein Scheißdreck dagegen – eine Unsicherheit bei uns breit gemacht wie ein heimatloser fetter Verwandter. Der Verwandte ist wieder ausgezogen und an seiner Stelle liegt jetzt so ein tolles menschlisches Mini-Gerät. Ein bisschen Zerissenheit ist geblieben, weil man das Gefühl nicht los wird, dass man seinen Kindern keinen Gefallen tut mit dieser weitgehend brotlosen Schreiberei. Das ist natürlich Paranoia und resignativer Schwachsinn, aber es stimmt auch.

Das nur als Vorgeschichte zu dem, was mir neulich auffiel, als ich (beruflich) an diesem autobiografischen Terry-Gilliam-Text herumübersetzt habe. Natürlich ist Gilliam fast 75 und damit überwiegend ein lebendes Relikt aus einem anderen Jahrhundert, und vielleicht mag man ihm deshalb nachsehen, dass er Züchtigung, Schlachthausbesuche und auch Frauen am Herd für nichts verwerfliches hält, die Frage ist eher, was für eine Einstellung vermittle ich im Jahr 2014 zu antiquierten Gesellschaftsmodellen und Frauenbildern.

Es kommt mir vor, als ob Männer – insbesonders solche, die sich autobiografisch artikulieren – ihr Bedauern über ihr ständiges Unterwegssein, also die klassische Absenz des Vaters inklusive gloriosen Comebacks gegen 21:00 Uhr oder auch nur am Wochenende, meist mit einem Schmunzeln überliefern. Also eigentlich damit kokettieren, dass sie die Erziehung – und damit meine ich die tägliche Scheiße – gerne den Frauen überlassen. Die großen Entscheidungen über Gut und Böse trifft dann freilich der Patriarch.

Ich kaufe nie im Biosupermarkt ein, weil er mir zu weit weg und zu teuer ist, ich habe mich gegenüber Frauen und Männern nicht immer politisch korrekt verhalten und ich scheiß auch meinen Sohn manchmal recht lautstark zusammen (was Gilliam gutheißen würde). Ich bin also weiß-Gott kein Vorzeigemensch, und verlange das ja auch von niemand. Was mir allerdings Rätsel aufgibt, ist die Selbstzufriedenheit der Menschheit als selbstsüchtiges und im Grunde bis auf die Knochen opportunes und von Angst in die Vorverurteilung getriebenes Gebilde, ein einziges anti-humanistisches Mia san mia. Aber wenn wir schon in einer absoluten und adhoc-geilen Optimierungsgesellschaft leben, warum dann nicht auch den eigenen Charakter optimieren?

Das falsche Tagebuch: 28. Oktober 2014

Ach, falsches Tagebuch, wie gerne würde ich dir von meinen gelegentlichen Panikanfällen und der grotesken Angst, dem verschütt‘ gegangenen Urvertrauen und dem Unverstand, der sich in dieser Welt breit macht, erzählen. Aber du bist ja kein echtes Tagebuch und die grausliche Wahrheit hat nur in Extrakten und Sinnbildern hier etwas verloren.

Deshalb erzähle ich stattdessen von dem neuen Kaufhaus am Potsdamer Platz, der Mall Of Berlin. Und wie schön es hätte werden können, so an historischer Stelle, quasi in vermintem Grund und Boden. Wie schön kann so ein Kaufhaus sein, wenn aus den Lautsprechern Georg Friedrich Händel statt Ariana Grande blättert, wenn unten die Feinkost und das Kaffeehaus sitzt statt dem Schlüsseldienst und Aldi. Wenn oben sich die Himmel im Luxus lichten, wo nur die Betuchten noch kaufen, aber alle anderen dennoch wandern und verhandeln dürfen, statt durch Desigual, Berlin 54, Madonna und H&M zu hinken und nach reduzierten Angry-Birds-Mützen zu suchen.

Es könnten Schauspieler mit grellen Gesichtern aus Satyr-Spielen statt Saturn-Mitarbeiter auftreten, es könnten Liftboys statt Klofrauen das Kleingeld einsammeln. Wir könnten uns schwarz anziehen und durch lila-rote und nach Süßigkeiten duftende Arkaden (im mythologischen Sinn) lustwandeln statt von Camp-David-Proleten durch die Gänge geschubst zu werden von einem Smoothie-Stand zum nächsten von Nordsee über Subway bis zum Asia-Pavillion in Schwaden von Frittierfett.

So ein Kaufhaus kann doch ein Lichtblick in dunklen Zeiten wie diesen sein, eine Flucht nach Arkadien, ein Wellness-Aufenthalt im schönen Schein. Stattdessen ist es wie Berlin halt nun mal so ist. Kurzfristig, unsicher und visionslos. Ausnahme: der FC Bayern-Fanshop im Obergeschoss und der Hertha-Laden im Keller neben dem Schlüsseldienst. Da hatte jemand eine Vorstellung.