Castagneto Carducci

Und zum dritten Mal jauchzte dein Mai, o Italia, höher,
Als wieder dein Bürgertum sprach.
(Giosuè Carducci)

Der Tag nach dem Urlaub ist der grässlichste. Wenn du bei REWE stehst und fassungslos die Verkäuferin mit den lila Strähnen anschaust, ihr Mund bewegt sich tranig, wie in Zeitlupe, und heraus schält sich dieses ordinäre Deutsch, das dir mit der inbrünstigsten Gehässigkeit sagt, dass sie eben keine andere Salami als diesen fetttriefenden Hohn von einer Mailänder hat. Wenn du nach Hause gehst und dich im Juni auf den Balkon stellst, auf die Feuerwand starrst und dir ein frostiger Ostwind den Teint im Sekundentakt wieder aus den Poren zieht. Das ist ein gottverlassener Ort, diese Stadt, dieses Berlin, dieses Deutschland, denkst du.

Heute morgen hättest du fast geweint, als du über die Via Aurelia in Richtung Livorno durch die samtenen Nebelbänke geglitten bist und rechts von dir wie ein Feuerball über der Savanne die Sonne hinter den etruskischen Hügeln hervorgestiegen ist. Geweint, weil es wie die willkürlichste Gemeinheit, der grausigste Zufall erscheint, dass es Leute gibt, die als Südländer geboren sind und andere als Deutsche. Weil die einen ihre Freizeit am Sonntag gerne auf Autobahnraststätten verbringen, während die anderen bei einem Glas Rotwein auf der Viale dei Cipressi campen, weil sie wissen, dass sie die schönste Straße der Welt vor der Haustür haben. Weinen, weil Leute wie wir im Weinbergspark oder auf dem Gärtnerplatz sitzen, und dem sogar noch etwas Mediterranes abringen, während man auch in Bolgheri oder oben in Sassetta, oder auf dem ewig dämmernden Park auf den Dächern von Castagneto einen Vermentino zu sich nehmen könnte.

Aber es muss, es darf gar nicht nur dieser schwäbisch angehauchte, pseudohumanistische Landschafts- und Weintourismus sein, der einen in den italienischen Müßiggang treibt. Es ist das Beiläufige, das Wurschtige dieser Region, die sich in den 16 Jahren, in denen du nicht da warst, nicht um einen Deut verändert hat. Das geordnete Herumtreiben der Landbevölkerung, das permanente sich-Verhocken, die lässige Selbstverständlichkeit von hohem Gras und hohen Pinien vor Sandstränden und die charmant indifferente Einrostung der Aufspannmechanik der Sonnenschirme in Marina Di Castagneto. Das sanfte und überhaupt nicht boshafte Ignorieren, dass du überhaupt da bist mit deiner Vorstellung von Italien, deinem blasphemisch Goethe-istischen Anspruch von dem gottgegebenen Land, das Gott leider unrechtmäßig den Italienern und nicht uns Deutschen gegeben hat. Das sanfte Wegschauen und Weghören, hinweg hören über unsere brutale und verbrecherische Sprache ohne Lust und Melodie. Und die kulinarische und grenzenlose Loyalität Kindern gegenüber, selbst wenn es die von den Deutschen sind.

Morgens um acht sitzen sie alle vor den Bäckereien in Donoratico und reden und essen und trinken einen Kaffee und reden. Dann sitzt lange mehr niemand irgendwo. Erst zwölf Stunden später sitzen wieder alle und dann wird durchgesessen bis spät in die Nacht, während du ja längst schläfst wegen den ganzen Ausflügen und atemlosen Aufsaugen der Szenerie. Ständig mäht jemand eine Wiese, irgendwo parkt jemand ein und wieder aus und in aller Seelenruhe verfallen die alten Häuser und Bauernhöfe, falls nicht jemand einen Agriturismo draus macht oder ein Schweizer vorbeischaut und alles aufkauft. Dem sanften Verfall schaut man überaus gern zu, wenn der Mond längst aufgegangen ist und die letzten Fäden eines glutroten Sonnenuntergangs aus dem Himmel hängen, während man im Wasser liegt und darüber nachdenkt, was für eine Verschwendung an Energie doch die eigene Mentalität ist.

Der Tag nach dem Urlaub ist der grässlichste.

Die Lesereise

In the beginning was the three-pointed star,
One smile of light across the empty face,
One bough of bone across the rooting air,
The substance forked that marrowed the first sun,
And, burning ciphers on the round of space,
Heaven and hell mixed as they spun.
(Dylan Thomas – In The Beginning)

Zunächst einmal die erste Schwindelei entlarvt, weil es ja gar keine Lesereise am Stück war, sondern in Häppchen. Und dann gleich das nächste Geständnis: Ich bin nicht der beste Vorleser – man nennt mich auch die Haspel vom Gäuboden – und ich mochte das Vorlesen bis zur Mitte der Lesereise noch nicht einmal besonders. Aber was muss, das muss auf die Bühne, denn es soll ja schließlich auch der Eindruck entstehen, der Autor wäre ein gefragter Schausteller und was nicht ist, kann ja zudem auch noch werden. Hier also, so weit ich mich erinnern kann, ein kleiner Bericht über die erste Lesereise meines Lebens.

17.01.2012 Berlin, Buchbox
So schön das ist, in einem Berg aus Büchern zu sitzen und aus dem eigenen vorzulesen, so wichtig ist es, im Vorfeld sicher zu stellen, dass die jeweilige Buchhandlung auch Alkohol verkauft. Denn erstens basiert mein gesamtes Schaffen auf der übertriebenen Einnahme von Alkohol und man möchte doch ein Publikum dem Zustand des Autors anpassen, vor allem wenn der nach der Pause und dem dritten Bier anfängt sich gehen zu lassen. Dann soll sich auch das Publikum gehen lassen können, dann fallen auch die Verleser nicht mehr so auf oder sie geraten zu Lachern. Fast hätte es keinen Alkohol gegeben, obwohl ich in einer Mail den lieben Herrn Mesche von der Buchbox vorgewarnt hatte, dass mein Publikum zu 75% aus Alkoholikern besteht. Markus Kavka ist mein spezieller Gast an dem Abend und ein Leseprofi, nicht zuletzt wegen seiner ausgedehnten Tour mit seinem Buch „Rottenegg“. Und weil er Profi und Freund zugleich ist, hält er nicht nur den Ablauf des Abends zusammen, sondern komplettiert mich selbstlos mit Anekdoten und herrlichen Spitzfindigkeiten und erträgt auch einige Gemeinheiten, die ich ihm unterjuble. Ich sage nur: Bauarbeiter-Musical. Und dann ist das auch ein Jugendtraum, der in Erfüllung gegangen ist: Einmal mit Markus Kavka moderieren und dann auch noch als mein Andrack. Es ist voll in der Buchbox, ich bin voll und wir haben am Ende soviel Klamauk verbrochen, dass der eigentliche Vorlesevorgang kaum mehr eine Rolle gespielt hat. Danach sind wir in der NEU-Bar und ich trinke Jameson. Das ist ein guter Anfang, denke ich.

20.01.2012 Köln, 1LIVE-Clubbing
Ein paar Tage später gibt es keinen Sidekick mehr, ich bin plötzlich mutterseelenallein meinem eigenen Roman ausgeliefert. Und dann stellt man schnell fest, dass sich die meisten Teile des Buches gar nicht zum Vorlesen eignen, weil sie ja handlungsgetrieben sind, oder zu dialoglastig, oder einfach völlig pointenleer. Es wird meine Aufgabe in den folgenden Wochen sein, genau jene Extrakte aus dem Roman zu finden, die in wenigen Zeilen seine Gemeinheit wiedergeben und gleichzeitig unterhaltsam sind. Gottseidank ist der WDR ein unglaublicher freundlicher und literaturinteressierter Gastgeber und sein Lesepublikum hängt an jedem Wort aus dem Buch. Die brauchen keine Pointen, denen genügt das Wort. Und so ist die Livelesung im Radio auch die einzige, bei der ich mich traue, den pathosschwangeren Anfang des Buches zu lesen. Danach bin ich im King Georg und trinke Jack-Daniels-Cola. Auf der Suche nach etwas zu essen, irre ich eine Stunde lang durch die Stadt, bis ich soviel Hunger habe, dass ich mich am Hauptbahnhof durch McDonald’s und Burger King in einem Aufwasch durchfressen muss. Alle sind nett in Köln. Ich bin da immer sehr gerne.

16.03.2012 Leipzig, Ilses Erika (mit Oliver Uschmann)
Ich bin ernsthaft verliebt in Leipzig. Die Stadt ist weitläufig und dennoch putzig, die Leute sind arschfreundlich, man kann jeden jedes fragen, die Mädchen sehen toll aus und die Fassaden sprechen mit mir. Es gibt Schutt und Löcher und viel Unvollständiges, was man in Berlin gerade in panischer Eile beseitigt. Kurz, die Investorenschwärme haben die Stadt noch nicht vollständig überzogen und man sollte eigentlich sofort hinziehen, bevor das passiert, weil lange kann das nicht mehr dauern bei so einer wilden Schönheit. Ich bin zunächst auf der Buchmesse, aber das taugt mir nicht besonders gut. Zu viele Leute, zu viele Bücher, zu viele abgewürgte Gespräche. Es ist der Tag, an dem der Winter aufhört. Die jungen Leute in ihren Anime-Kostümen schwitzen, die Vertreter in ihren Anzügen schwitzen und ich in meiner Winterjacke schwitze. Von der Buchmesse aus fahre ich in die Innenstadt, den Death-Row-Sound der Neunziger so laut, dass die Außenspiegel bei jedem Bassdrumschlag vibrieren. Nuthin‘ But A G Thang. In der Stadt riecht es nach Grill, die Mädchen haben von einer Stunde auf die andere nackte Beine und ich kaufe mir unnötigerweise eine teure Sonnenbrille. Abends gehen wir vor der Lesung noch essen. Mein Agent, einer der Lektoren und ich. Man hat uns gewarnt, dass wenn wir im Werk2 essen, nicht rechtzeitig zur Lesung wieder da sind, weil das Essen so lange dauert. Wir essen wahnsinnig gut und sind wahnsinnig verspätet. Oliver Uschmann sitzt schon im Ilses Erika und hat angefangen zu lesen. Er bittet mich auf die Bühne. Weil’s eh schon ziemlich rock’n’rollig ist, viel zu spät zur eigenen Lesung zu kommen, bitte ich ihn noch um etwas Geduld und bestelle mir erst einen Jack Daniels an der Bar. Irgendwann sitze ich auf der Bühne neben Oliver Uschmann und seinem Pointeninferno über Festivalkultur und gebe auf, mein Buch zu promoten. Ich konzentriere mich jetzt ausschließlich darauf, der Mann mit dem Hot-Water-Music-Tattoo zu sein, den Herr Uschmann in seinem Buch als einen der Prototypen eines Rockfestivals beschreibt. Ich hasse Festivals. Das Publikum schmeißt sich weg ob der Versus-Darbietung da oben und es ist ein gelungener Abend. Danach sind wir auf der Party der jungen Verlage und mein Lektor beweist erneut, dass er trinkfest genug ist, um mit Fug und Recht bei Heyne die Rock’n’Roll-Themen zu betreuen. Auf der Party treffen wir Nagel, was schön ist. Unschön ist die Bekanntschaft mit einer Frau, die so unbarmherzig auf mich einredet hat, bis ich leer bin. Ich schicke ja nie Leute weg, oder brüskiere sie, ich unterbreche sie ja noch nicht einmal, wenn sie unbedingt reden wollen. So einer wie der Nagel sagt dann was schlaues Gehässiges und damit hat sich der Fall, aber ich sag einfach nichts. Bis zu diesem Abend, denn irgendwann sage ich, beziehungsweise meine leblose Hülle, zu der Frau, dass ich nicht mehr kann, dass ich so ausgelaugt und brüchig bin, dass mich der nächste Windstoß davon weht und dass ich deshalb weder reden noch zuhören kann. In Wirklichkeit sage, ich bin schon so betrunken, ich kann nicht mehr folgen. Und das ist auch nicht gelogen, ist doch der Themenkreis so weit gesteckt, dass eine Kindheit in einer Sekte, ein brasilianischer Wunderheiler, esoterische Unternehmensberatung, die bloße Einbildung des Bewussten zu Ungunsten des Eingeständnis der rein molekularischen Existenz und sogar Max Frisch darin Platz finden. Ich trinke Cola mit Rum, weil es keinen Whiskey gibt, soviel zur Party der jungen Verlage. Wir lernen Studentinnen der Buchwissenschaft aus Mainz kennen. Gutenberg und so. Also der Buchdrucker, nicht der Buchfälscher. Die Musik wird immer schlechter, statt Hits machen die Djs plötzlich Übergänge. Um acht Uhr morgens bin ich dann im Hotel und um halb zehn beim Frühstück mit meinem Lektor, der erstaunlich fit ist, dafür dass er sich schon seit vier Tagen durch diverse Buchmessen-Parties säuft. Es riecht noch mehr nach Grill als am Vortag und die weiße Winterhaut der Leipziger Mädchen leuchtet die Gassen der Altstadt aus. Verliebt in Wetter, Stadt und Leute stehe ich stundenlang auf dem französischen Balkon des Hotels und höre The Jealous Sound. Gegen Mittag fahr ich mit meinem Agenten auf das Völkerschlacht-Denkmal. Das groteske, das aberwitzige. Da oben ist es so hell und warm wie in einem David-Hamilton-Film und ich bin vollkommen übersäuert von den vielen Longdrinks. Da oben auf diesem absurdesten Denkmal der Deutschen Geschichte lasse ich los (figurativ), als wäre ich schon seit zwei Wochen auf Kreta in einem der süßen Dörfer unten im Süden und würde Ouzo mit Eiswasser trinken und mich von griechischem Joghurt mit Nüssen und Honig ernähren. So kann es weitergehen, denke ich.

17.03.2012 Merseburg, Lachnacht
So geht es aber nicht weiter. Von Leipzig aus fahren wir rüber nach Merseburg. Immer noch der Neunziger Hip Hop auf höchster Lautstärke. Alles vibriert, ich bin auf Tour, denke ich. Vor Merseburg dann an der längsten Industrieanlage vorbei, an die ich mich erinnern kann. Es ist noch nicht so lange her, da konnte man seine Wäsche nur an einem Sonntag aufhängen, wenn die Maschinen still standen, hat mir später jemand erzählt. Es ist noch nicht so lange her, da mussten die Merseburger zur Luftkur abtransportiert werden. Davon merkt man nichts mehr, wenn man in die Stadt kommt. Ein bisschen DDR-Struktur unten beim Bahnhof, aber oben verwunschene Schlösser und Villen. Wir bekommen von unserem liebenswert Oasis-verrückten Gastgeber eine Domführung spendiert. Und wir sehen alles. Kriechen in der Architektur der alten Domorgel herum, ein barockes Ungetüm. Das erste Mal im Leben verstehe ich, wie das funktioniert mit dem Gebläse, wie bei einer gigantischen Flöte. Das schönste in der Königsgruft sind die untergehenden Sonnen an den Särgen, sie bedeuten, dass die Linie ausstirbt. Und dann im Hochsicherheitstrakt Schriften aus dem 13. Jahrhundert, zum Anfassen. Vor dem Safe stehen mit den originalen Merseburger Zaubersprüchen, von denen man uns sicher schon im Germanistik-Studium erzählt hat, nicht dass ich mich erinnern könnte. Mein Onkel war mal in Mersburg am Bodensee und hat nach den Zaubersprüchen gefragt. Sie haben ihn nicht verstanden. Dabei ist mein Onkel Germanist. Auf einer Postkarte im Museumsshop sieht man, wie der Dom-und-Schlosskomplex zur DDR-Zeit aussah, so bräunlich und überwuchert. Wie von einem Instagram-Bild. Daneben eine aktuelle Postkarte. Gesünder, gepflegter, aber nicht mehr so wild und süßlich vergilbt. In dem Hotel, in dem ich und mein Agent unterkommen, ist nie jemand an der Rezeption. Ich habe in zwei Tagen da nicht einmal jemand gesehen. Es riecht schon wieder nach Grill, aber weit und breit ist kein Mensch auf der Straße. In einer menschenleeren Sportsbar trinke ich ein Bier und einen Jack Daniels, esse einen Schinken-Käse-Toast und sehe wie der FC Bayern irgendeine Mannschaft dezimiert. Aber ich ahne, dass das nur wieder ein kurzzeitiges Hoch ist. Vom FC Bayern. Die Merseburger Lachnacht ist eine reine Comedy-Veranstaltung und es gibt keinen Bourbon. Die Komödianten vor mir sind sehr quirlig und feuern Pointen aus allen Rohren. 100 Punchlines per Minute. Einer von denen ist ziemlich gehässig zu iPhone-Besitzern und überhaupt hat er’s auf die Technik abgesehen. Man könnte meinen, er ist achtzig, aber er kann noch keine Vierzig sein. Otto Kuhnle gefällt mir gut. Selbst wenn er Klamauk macht, hat er diese angenehme Prise Weltverneinung. Die ganze Zeit überlege ich, was ich machen könnte, um mit meinem Leseteil nicht vollkommen die Luft aus der Veranstaltung zu lassen. „Mach den Dieter Mandel“, sagt mein Agent. Der Dieter Mandel ist ein bayerischer Fahrlehrer aus meinem Buch und sorgt bei Lesungen manchmal für Lacher. Es ist die einzige Figur, die ich kann. Ich gehe auf die Bühne, lege das Buch zur Seite und rede als Dieter Mandel. Keine einzige Pointe habe ich vorbereitet, verlasse mich nur auf die Figur und ihren Dialekt. Das Publikum schaut mich befremdet an. Ich beschließe, so schnell auf keiner Comedy-Veranstaltung mehr zu lesen. Nach der Veranstaltung trinke ich noch ein Bier und bin todmüde. Mein Agent will auf eine Ü30-Party und ich eigentlich auch, aber ich muss mich noch mal hinlegen. Vielleicht melde ich mich, wenn ich wieder fit für die Ü30-Party bin, sage ich. Noch eine Minute Baphomets Fluch 2 auf dem iPad und der Tag ist vorbei.

28.03.2012 Regensburg, Alte Filmbühne
Ich komme nach Hause. Regensburg. Sechs Jahre studiert und mich um Kopf und Kragen gesoffen. In einer Band gespielt, in der Hälfte aller Kneipen gearbeitet, auch in der Filmbühne. Die Stadt und ich wir haben uns gegenseitig ausgesaugt. Wenn ich heute hinkomme, ist es, als wäre ich gestern erst weggezogen. Hass und Liebe sind noch intakt. Der Abend ist schön, alles ist auf den Beinen und in den Biergärten, und Bayern spielt in der Champions-League gegen Marseille. Niemand will den verlorenen Sohn in der Kellerkneipe sehen. Na ja, fast niemand. Ein paar gute Freunde, meine Familie, viele Verwandte und ein paar Neugierige sind da. Ich lese alleine ohne Sidekick, Musiker oder Beamer. Es hallt ein wenig, aber es ist schön, da unten zu sitzen und Jack Daniels zu trinken und meiner Mama und meiner Schwester dabei zuzusehen, wie sie mir zuhören. Ich lese ein bisschen und spreche viel mit den Leuten die ich kenne. Das gibt manchmal mehr her, als nur zu lesen. In der Filmbühne ist kein Mobil-Empfang und ich schicke während der Lesung den Freund meiner Cousine raus, damit der das Bayernergebnis reinholt. Wir führen durch ein Tor von Gomez und ich trinke noch einen Schluck Jack Daniels. Je besoffener ich werde, desto öfter verlese ich mich. Wir machen ein Spiel. Wenn ich eine Stelle nicht richtig hinbekomme, trinke ich von meinem Bourbon. Das ist der sprichwörtliche Teufelskreis. Danach gehen wir ins Orkan und in die Wunderbar. Ich hab in beiden Kneipen gearbeitet, ich weiß noch die Getränkepreise aus dem Jahr 1999. Es wird spät, aber nicht so früh wie in Leipzig. Bei einem guten und seltengesehenen Freund auf der Dachterasse kann man auf die Winzerer Höhen schauen. Die Winzerer Höhen und die Donau-Auen in Matting sind gute Gründe für diese Stadt. Am nächsten Morgen besuche ich einen Freund in seiner Anwaltskanzlei. Er sagt, es ist gut, selbständig zu sein, weil man dann rauchen gehen kann, wann man will und sich am Arsch lecken lassen. Ich kann das bejahen, auch wenn ich längst nicht mehr rauche.

29.03.2012 München, Laab
Ich esse noch was bei meinen Eltern, dann fahre ich mich dem Zug nach München. Mir ist hundselend von dem ganzen Bourbon in Regensburg. Bis kurz vor der Lesung ist mir so schlecht, dass ich beinahe dem einparfümierten Taxifahrer in den Wagen gekotzt hätte, als der den Berg nach Obergiesing raufkurvt und die Verlagsleute hinten auf der Rückbank was von rohen Burgern erzählen. Geholfen hat dann tatsächlich erst ein Konter-Grappa im Laab. Die Lesung hat der Ivi vom ehemaligen Club2 organisiert. Sauguter Typ und dank ihm weiß ich jetzt, was eine Fernfahrer-Halbe ist. Auf der Lesung begleiten mich die guten Mexican Elvis. Das ist eine schöne Mischung: Musik und Lesen, das entspannt die Leute, da haben sie nicht das Gefühl beim Schwätzen erwischt zu werden. Ich habe einen Durchbruch: Mir macht das Lesen plötzlich Spaß. Ich lese aus „Black Mandel“ vor, das erst im Winter erscheint. Daraus eine Geschichte über eine katholische Beichte. Hier und in jeder anderen Stadt, in der ich die Geschichte vorlese, lachen die Leute wie wild. Das liegt nicht nur an dem Furz in der Geschichte, sondern sicher auch an der angespannten Situation beim Beichten und dem drakonischen Pfarrer Gneissel. Das schreit geradezu nach Comic Relief. Was ich nicht weiß: während ich so über Beichtunterricht im katholischen Kaff in Niederbayern referiere, sitzt ein Grafentraubacher im Publikum. Erst nachher wird er sich zu erkennen geben, als der Bub vom Kramerladen, bei dem ich die Camel für meinen Vater immer gekauft habe. Er ist früh ins Internat gegangen. Heute ist er bei der Jugendabteilung vom Bayerischen Rundfunk und sieht ganz cool aus. Er hat es aus Grafentraubach heraus geschafft, hätte ich früher gesagt, jetzt weiß ich nicht mehr, ob das überhaupt eine Leistung ist. Das ist trotzdem schön, dass ich ihn getroffen habe. Die Lesung haut super hin. Mexican Elvis spielen Krimithemen, darunter das von Simon und Simon, das ich schon als Kind gern mochte. Ich lese und kann mittlerweile wieder Bourbon trinken und alle haben Spaß. Mein Onkel, der Germanist, der auf vielen Lesungen ist, sagt, endlich habe er sich mal nicht gelangweilt. Danach gehen wir in ein Kino, das schließen wird. Eine Funkband mit Frauen spielt. Der alte Fluch des Hellen holt mich ein. Immer wenn ich spät nachts ein Helles trinke, wird es schnell finster, haha. Ich bin träge und elendig und muss ins Bett. Es ist schon wieder spät. Mein Lieblingsbassist nimmt mich mit zu sich. Am nächsten Tag bin ich so verkatert, dass ich eine viertel Stunde im falschen Zug sitze und mich wundere, warum er nicht fährt. Vielleicht sollte ich nicht bei jeder Lesung soviel trinken, denke ich.

03.04.2012 Hamburg, Molotow
Vor Hamburg habe ich ein bisschen Angst. Weil ich früher so gerne in Hamburg war und von den Hamburgern geliebt werden wollte. Damals war ich noch bei MTV und hab verkrampft versucht, meinen Akzent wegzulöschen. Außerdem hat mich mal eine Punkfrau alleine am Kicker stehen lassen, nur weil ich Sternzeichen Jungfrau bin. Und obwohl wir am Gewinnen waren. Das hab ich mir gemerkt. Doch dieses Mal bekomme ich die Liebe. Ich lese mit Max, dem Sänger von Vierkanttretlager, den ich erst beim Abendessen kennengelernt habe. Er ist jung aber schon schneidig genug, um schlau und lustig zu sein. Und versiert im Umgang mit so Mifdlifern wie mir. Ich hätte mich nicht getraut, so gut zu sein in dem Alter. In dem Alter war ich meist nur albern, verunsichert und unangenehm arrogant. Der Max ist nicht so und er liest einen guten Urbaniak, das ist der schmierige A&R aus dem Buch. Ich lese eine Stelle, die ich so noch nicht gelesen habe und muss über mein eigenes Buch lachen. Das ist ein gutes Gefühl. Mein Lieblingsblogger Kid37 ist da und der sieht gesünder aus als ich befürchtet habe, nachdem er gesundheitlich ganz schön was mitgemacht hat. Ich mag diesen Mann. Als ich „Die Beichte“ lese, sind die Leute wie toll. Die Katholizismis-Drangsalierung hat scheinbar ein großes komödiantisches Potenzial. Ich signiere die meisten Bücher in Hamburg, ich bekomme den meisten Applaus in Hamburg, das Molotow ist voll und darf übrigens nie geschlossen werden, da ist grade wieder so ein Investorensüpplein am Kochen. Hamburg liebt mich und ich liebe zurück. Später sitze ich mit Dirk W. in einer fast leeren Bar und der DJ spielt Lightships und ich schwöre, Gerald Loves Stimme zu erkennen. Man darf nur so dermaßen nach Teenage Fanclub klingen, wenn man auch bei Teenage Fanclub spielt. Ich behalte Recht. Nach drei komme ich in das Appartement, das mir eine gute Freundin leiht. Am nächsten Morgen bin ich verdammt noch mal schon wieder so verkatert und der Inhaber vom Justfitted-Mützen-Laden schließt mir früher auf und ich kaufe ihm dafür eine türkise TheHundreds-Snapback ab. Hamburg ist gut, denke ich.

14.04.2012 Mainz, Buchhandlung Bukafski
Ich war noch nie in Mainz. Die Zugfahrt ist die Hölle. Ich dachte immer, Zugfahren ist die einzige Reiseart, die entspannt. Aber da sind viel zu viele Leute, um zu entspannen. Mir tut die Schulter weh, als ich ankomme, weil ich so verkrampft herumsitze bei dem Versuch mich unsichtbar zu machen. Ein herzlicher Mensch, den ich eigentlich nicht kenne, holt mich ab. Er hat mal fürs ZDF gearbeitet. Wir sitzen am Rhein beim Yachthafen, ich trinke ein Radler und esse Mainzer Spundekäs, der wie Obatzter schmeckt, aber viel cremiger ist. Das Wetter ist schön, niemand hier hat es eilig. Danach schauen wir Fußball auf einer Großleinwand, Bayern gegen Mainz. Bayern spielt grausig und die Leute bleiben sehr kultiviert. Die Lesung ist voll. Leute sitzen auf dem Fensterbrett. Ich lese und Thomas Müller von Million Dollar Handshake macht Musik und hat eine schöne rostige Stimme. Bei REWE hat mir niemand das Whiskey-Fach aufgeschlossen, also hab ich Jack-Daniels-Cola in der Dose gekauft, den Gottvater aller Alkopops. Ab der zweiten Hälfte spiele ich mit Thomas zusammen auf der Gitarre. „Won’t Back Down“, „I’m On Fire“. Ich verspiele mich, weil ich schon zuviel getrunken habe. Ich lese „Die Beichte“, die Leute freuen sich und dann darf ich „Time“ von Tom Waits singen und fühle jede einzelne gottverdammte Zeile. Mein alter Kumpel Simon, mit dem ich einst in Regensburg Deutschpunk gemacht habe, kommt auf die Bühne und spielt mit mir „Sommerkleid“. Das ist von unserer Band Gutch, die nie live aufgetreten ist. Bis zu diesem Tag. Ich habe Simon seit 15 Jahren nicht mehr gesehen. Das Publikum ist fantastisch und obwohl das der letzte Lesetermin ist, möchte ich jetzt plötzlich gar nicht mehr aufhören. Wir gehen noch aus und ich trinke weiter Bourbon und es gibt kurioserweise in diesem Club auch Tegernseer in der kleinen Flasche, was ich pervers finde. Das Bier macht mich dröge, aber ab 5 bin ich plötzlich hellwach und fange an Spaß zu haben, während alle nach Hause wollen. Ich lerne Leute kennen, einen Immobilienmarker und eine, die Gedichte schreibt. Alle sind freundlich in Mainz, dauernd lernt man jemand kennen, sogar bei Tageslicht. Um acht Uhr früh, als ich auf Simons Couch krieche, um zwei Stunden zu schlafen, bevor ich von meiner Katzenallergie aufwache und bevor der ICE mich wieder heim nach Berlin bringt, denke ich, dass das ein guter Anfang ist.

Danke an die Jörn, Dirk, Sailo, Simon, Tina, Markus K, Markus N, Gabi B, Caro A, Max, Ingo, Ivi, Onkel Heinz, Thomas, Matthias, Ingo, Mexican Elvis, Fred, Karin, Ebi, Diane, Andrea, David, 1LIVE, ByteFM, Radio Gong, Heyne, Radio1, Flux FM etc., etc.

La tristesse de Wittenau

Weil wir eine faule Familie sind, fahren wir am Wochenende selten ins Grüne, ans Wasser oder sogar nach Brandenburg, sondern gehen entweder Kaffeetrinken oder geistern durch Stadtteile, die wir nicht kennen. Die sogar meine Frau als geborene Berlinerin nicht kennt und da gibt es einige (die meisten). Am letzten Wochenende sind wir zum Toys R Us nach Wittenau gefahren, weil uns eben nach Toys R Us war. Jetzt mag es auch daran gelegen haben, dass dem Himmel sein grauer Arsch fast bis zum Boden herunter gehangen ist, oder an dem schneidenden Ostwind, der einem jegliche Frühlingsgefühle mit der Stahlbürste ausgetrieben hat, aber das war der deprimierendste Ausflug, den ich seit langem in Berlin gemacht habe. Das Häuserbild da draußen in der Miraustraße gleicht einer von der Neuzeit vergessenen Trabantenstadt und der riesige Toys R Us ist im Prinzip die liebloseste Lagerhalle für Spielzeug, die man sich vorstellen kann. Noch nicht einmal unser Bub hatte Lust, dort durch die Reihen zu laufen. Und dann die Leute. Westasoziale, ganz klar, aber mit einer Basisaggression- oder wahlweise Depression, dass man sich am liebsten hinter den Dinosaurier-Regalen versteckt hätte, um nicht unangenehm durch seine Lebensbejahung aufzufallen. Dit is ooch Berlin, liebe Gentrifizierungsdebattierer, und sogar mehr als man denkt. Zu allem Überfluss waren wir im Anschluss dann auch noch bei Burger King, um uns so richtig tief ins Milieu einzufühlen. Und das Schlimmste war: wir haben keinen einzigen Ausländer gesehen, auf den man die schlechte Stimmung hätte schieben können.

Bergen

Und dann kurz in Bergen, Norwegen gewesen. Und gleich erste Enttäuschung am Flughafen: Sonne scheint. Na ja, was heißt scheint, aber sie ist irgendwo hinter den Wolken und es regnet nicht. Und das, obwohl man sagt, dass es in Bergen quasi keinen Tag ohne Regen gibt. Man hat dort sogar ein Wort für Nichtregenwetter erfunden, das ist so selten in Gebrauch wie bei uns im Haushalt das Wort „Geldregen“.

Ich muss dazu sagen, dass ich mir nichts anderes als das finsterste Szenario von Bergen erwartet habe, schließlich kenne ich die Stadt ausschließlich aus meiner Recherche über Norwegischen Black Metal. Und spätestens ab 14:30, wenn es langsam dunkel wird und die Wolken sich wie ein Heer über dem kleinen Flecken Zivilisation zwischen dem ganzen Gefjorde zusammenballen, kommt einem die Idee, dass die jungen Leute trotz oder gerade wegen der blitzsauberen Holzhausidylle und der allgemeinen Weltkulturerbe-Behäbigkeit auf dumme Gedanken kommen könnten, nicht mehr so abwegig vor. Warum Bergen Bergen heisst, ist nicht ausschließlich von einem promovierten Ethymologen aufzuklären. Die Stadt ist quasi eingekerkert von Bergen, und da wo die Berge nicht sein können, machen sie gemeinsame Sache mit dem Wasser. Man kann also nicht auf natürlichem Wege in oder aus der Stadt hinauswandern. Tunnel, Flugzeug oder Boot sind nötig, um diese allumfassende Natursperrung zu „umgehen“.

Ich wohne im Bed & Breakfast einer älteren Frau mit türkisen Haarsträhnen, deren Holzhaus angeblich fünf Stockwerke umfasst (ich durfte nie höher als in den Ersten) und bis zur Decke vollgestopft mit esoterischem Nippes ist. Sie ist Drehbuchautorin, sagt sie, und ab sieben lallt sie immer ein bisschen. Aber sie ist nett und wir reden ein bisschen über Attentate und Kirchenbrände.

Am Samstag abend gehe ich aus und hole mir vorher einen Kebab für zirka sechs Euro, der mir den restlichen Abend immer wieder schmerzlich in Erinnerung gerufen wird, da ich alle zwei Minuten von der Kräutersoße aufstoßen muss. Ich gehe in die bekannte Rockerkneipe Garage, weil ich hoffe, einen bekannten Black Metaller wie Gaahl oder Fenriz zu sehen. Das wäre für mich sowas wie ein Prominenter. Nicht nur so ein Allerweltsgesicht wie Benno Führmann oder Detlef D. Soost, bei denen man sich mittlerweile schon Mühe geben muss, sie nicht zu treffen. Aber es ist kein Black Metaller da. Dafür eine Folkband. Ein Mädchen mit einer Motorradlederjacke und einem wildem Blick nimmt mich in ihre Gruppe auf und wir gehen fünf Minuten zu einem anderen Konzert. Dauernd entschuldigen sich alle, weil es so lange dauert. Sorry, das ist so weit weg, sagt das Mädchen mit dem wilden Blick, die eine Ausbildung zur Köchin macht, dabei sind wir längst da. Sie kommt vom Fjord, da ist es saulangweilig, sagt sie. Hier in Bergen kann sie kochen, zuhause gibt es keine Restaurants. Sie möchte mehr Chemie in ihre Küche bringen, sagt sie, aber vielleicht verstehe ich das falsch.

Der Club befindet sich in einer Höhle und heißt folgerichtig hulen. Die erste Band spielt progressiven Power Metal mit Black-Metal-Einflüssen und einem Keyboard. Sie heisst Like Rats From A Sinking Ship. Danach die ziemlich wuchtigen Wolves Like Us und am Ende noch Blood Commmand, bei denen das Kochmädchen dann vollends ausrastet und ohne Schuhe in einen Männermoshpit hineinspringt. Irgendwann habe ich kein Geld mehr, was kein Wunder ist, bei den Fassbierpreisen. In Bergen ist alles vier Euro teurer als bei uns. Aber nur bei den Preisen unter zehn Euro. Über zehn Euro gehts exponentiell nach oben mit der Differenz. Ich habe mir das auch unnötig kompliziert gemacht, ich hätte mir auch einfach den Umrechnungskurs merken können. Aber irgendwann hab eh nichts mehr umgerechnet, weil du wirst ja wahnsinnig, wenn du ständig alles ins Teure umrechnest. Da bräuchtest du ja nochmal einen extra Urlaub nach dem Urlaub, in dem du dich vom Geldausgeben erholst. Und der würde ja dann wieder was kosten…, lassen wir das.

Wobei es ja auch kein reiner Urlaub war. Zu Recherchezwecken war ich unter anderem bei der Stabkirche in Fantoft, die von Black-Metal-Impresarios in den Neunzigern komplett abgebrannt wurde. Ich hab die Bilder aus den Dokus deutlich vor Augen, als ich mich unter dem versammelten Wolkenheer den schuppigen Drachenköpfen nähere. Dass die Black-Metal-Leute, die ja ausgesprochene Heiden sind, ausgerechnet die heidnischste aller christlichen Kirche angezündet haben, klingt zunächst skurril. Aber wie man hört, erst recht deswegen. Weil das früher mal ein friedlicher Ort der Naturreligion war, wo man ungestört ein Blutopfer an Odin und Konsorten bringen konnte, bis der Christ an sich und seine ganzen Hausmeisterregeln über Skandinavien hereinbrachen. Man muss auch zugeben, dass der Norweger nicht explizit nach dem Christentum gefragt hat, das hat ihm der Olaf der Erste quasi mit spitzer Klinge untergejubelt.

Am Sonntag hat es dann endlich in Strömen geregnet und zwar den ganzen Tag. Dazu noch ein Nebel, der fast mit Händen zu greifen war. Auf der Straße dennoch alles andere als lange Gesichter. Der Bergenser an sich ist kein aufgeregter Typ, aber auch kein unterkühlter. Wenn du jemand auf Englisch was fragst, bekommst du meistens eine präzise und freundliche Antwort. Millionenfach freundlicher als der erstbeste Mensch mit dem ich zurück in Berlin reden musste. Der Wurstverkäufer am Flughafen, der sich absichtlich soviel Zeit beim Geldwechseln ließ, dass ich fast den Zug verpasst hätte. Und dabei hat es in Berlin nicht den ganzen Tag geregnet.

Beim Europameister

Ich sitze ja gerade auf einer griechischen Insel herum und mir ist fast alles egal. Das geht mir immer so, wenn ich in Griechenland bin und man könnte jetzt unken, dass das die fatale Wirkung von so einer hübschen Verfallslandschaft mit Meerzugang ist und wir deshalb so despektierlich in den deutschen Medien über die Griechen berichten, wie wir das zum Teil tun. Aber darauf will ich gar nicht hinaus. Eher darauf, dass hier alle in ihrer Wurschtigkeit schon viel eher zur Menschenfreundlichkeit tendieren als die Deutschen mit ihrer Lebenskontrolle. Wenn du hier mit einem Kleinkind durch die Ruinen der Zivilgesellschaft schlenderst, hast du im Nu zwei, drei Gesprächspartner um dich versammelt und garantiert keiner davon zeigt dir, wie du dein Kind richtig in den Kinderwagen setzt, wie neulich wieder in Berlin beobachtet. Und mein Gott – dass jedes Haus anders ausschaut und jeder Zentimeter vom noch so entlegenen Wegesrand mit Müll übersät ist, ändert ja auch nichts daran, dass die Leute hier einen empathischen und familienorientierten Egoismus pflegen, der mir bedeutend lieber ist als das brutale Kompetitionsbiografieren in Städten wie Berlin. Sowas ist hier höchstens zum Gewinn einer Europameisterschaft zu gebrauchen. Danach möge der Deutsche aber bitte wieder gehen. Aber was weiß ich schon, ich bin ja auch ein Ausländer im Urlaub und sehe sowieso alles durch die Bauernsalat-Brille. Ihr dürft auch mal schnell durchschauen. Bittschön!

Der lange Weg nach Hause

Ich weiß schon noch, wie ich in die Wiesen hinausgelaufen und sterbensvollerdreck Stunden später zurück ins Haus geschlichen bin. Ich weiß noch, dass es mir da gutgegangen ist. Ich wusste es die ganze Zeit, aber erst neulich war ich wieder draußen – nach 25 Jahren. Und oben auf dem Hanselberg bei der alten Sandgrube. Und unten an der Laber. Und im Unterholz über den Hügeln. Und keine Ahnung warum es soviele Jahrzehnte gedauert hat, bis ich mir eingestanden habe, dass das eine kleine Idylle war und ist.

Das merkwürdige Berlin

Es verschwindet langsam aus unserem Blickfeld, oder es kommt uns so vor. Die Leute, die schon länger oder von Haus aus hier leben, bemerken diese Erschleichung der Bürgerlichkeit sicher schon seit einigen Jahren länger, aber bei uns kommt es jetzt erst an.

Die Wohnung streift ja um Haaresbreite das Touristikzentrum von Berlin, aber selbst da war lange vieles merkwürdig, verfallen, dubios oder zumindest unrenoviert. Neulich war ich im Bötzowviertel und dachte, ich bin in München-Haidhausen. Blonde High Heels tackern am mir vorbei, Kneipen stellen Wässerchen für passierende Jogger auf den Tisch und der leicht übergewichtige grauhaarige Manager am Nachbartisch telefoniert sich den Mund blutig. Der Babyboom regiert die Straßen, schüchterne Teenager lesen Bücher und werden von ihren Freundinnen zum Fahrradfahren abgeholt. Die Läden verkaufen Babyklamotten und schwedisches Designzeugs und T. sagt, da sind sicher viele dabei, wo der Ehemann das Geld bringt und die Kinder schon größer sind und sie sich jetzt endlich den Traum vom eigenen Laden erfüllen kann. Mit schwedischen Babyklamotten.

Nicht, dass mich das alles sonderlich stören würde, denn zum einen lebt man in den meisten deutschen Großstädten so und ich als Ex-Münchner kann ganz gut mit dem schönen Schein umgehen – zum anderen hab ich da, wo ich wohne, noch den Wedding und Moabit als letzte Verteidigungslinie vor der Biowindelgesellschaft im Rücken. Mit jeder Menge merkwürdiger Menschen, Tiere und Bauwerken. Berlin wird die Merkwürdigkeit auch so schnell nicht ausgehen, dafür ist es ausserhalb seines speckigen Szenegürtels viel zu kaputt und abgefuckt. Nur aus dem eigenen Blickfeld entflieht das Kuriositätenkabinett immer mehr, weil einen die Bürgerlichkeit immer mehr in die Zange nimmt. Vor allem die eigene.

Über die wilden Dörfer

Die meisten so genannten Sehenswürdigkeiten
sind vom vielen Hinschauen ganz abgenutzt.

(Helmut Qualtinger)

Und dann kurz im niederbayerischen Ursprungsbereich gewesen und folgendes festgestellt: Es ist immer schon die schiere Fläche gewesen, die mich an der Natur gefreut hat. Und zwar ausgefaltet. Die Berge ganz schön, aber überhaupt kein Muß. Auen, Flüsse, das ist es. Wo ich mich selber sehe, wie ich tagelang durch das kniehohe bodennebelbeträufelte Gras laufe und über kleine Bäche springe wie ein junges Reh.

Und dann gibt es da in meinen Träumen noch einen kleinen bayerischen Ort, der am Hang liegt. Ich dachte, ich hätte mir den ausgedacht, aber dann bin ich durch Aufhausen gefahren, das ich nicht gut kenne und ich habe gemerkt, das ist genau der Ort. Und das war, bevor ich mir den schönen Inception angesehen habe.

Dann seit Jahren mal wieder auf der Walhalla, die man schon aus dreissig Kilometern Entfernung schneeweiß auf ihrer Flußbiegung thronen sieht. Angeblich sogar in der Nähe von Upfkofen schon, wenn man über eine Anhöhe mit dem Auto donnert. Von der Walhalla aus sollte dann quasi im Rückwärtsgang mit dem Rücken zur glitzernden Donauschleife die Fotosafari beginnen, aber die Kamera war stur, wie man das in Bayern halt so ist, wenn man gerade nicht mag, dann geht man kaputt.

Und am Ende von so einem Tag willst du natürlich in den Biergarten und wo könnte man besser garteln als in der Hammermühle? Überall, weil Essen scheiße, Bedienung kurz vorm Kollaps bei nur 7 Tischen im Zuständigkeitsbereich, Preise wie in München, Ausflügler wie an der Ostsee und Wespen ohne Anstand.

Aber dann wieder der Ritt über die kleinen Dörfer mit ihren leergefegten Bauernhöfen und kleinen Schlössern. Ach ja, und dann reichts auch wieder irgendwann und man ist froh wenn man den Funkturm West schon von weitem sieht, weil Heimat ist dann eben auch immer da, wo man am bequemsten übernachtet. Sagt auch meine Bandscheibe. Aber immerhin mal wieder auf dem Pfaffenberger Volksfest gewesen.

Sizilien

Und dann in Sizilien gewesen. Weil immer schon dahin gewollt. Aber vorher was anderes: wird jetzt wieder geklatscht nach Landungen? Ich dachte, das wäre ausgerottet.

Und dann in Palermo angekommen. Palärmo. Rollerfahrer, Tod und Lautstärke. Kein Verfall ist schöner als der von Palermo. Und vermutlich ist er auch nirgendwo teurer. Das Essen, der Tod, die Roller. Nur die Lautstärke ist umsonst.

Aber die Stadt ist nicht so ruppig, wie man meinen könnte. Alles verfällt so schön langsam und laut. In diesen Katakomben hinten am Stadtrand hängen Tausende von Toten an der Wand. Mal mehr mal weniger geglückt mumifiziert. Der einzige leise Ort neben den Kirchen. Überhaupt die Kirchen. Innen. Schön. Möchte man fast wieder religiös werden. Verfallend in Ruhe und Würde. Alles verfällt.

Bis auf den Verkehr, wenn du selbst fahren musst. Die Regellosigkeit ist nicht das Problem. An deren inhärente Regeln gewöhnt man sich schnell, an die sekundenschnelle Überwerfung derselben nie. Auf deutsch gesagt: fahren wie Idioten, die Sizilianer. Ich teilweise auch, aber nicht mit dem Leihwagen.

Dann in Siracusa. Aufgeräumt. Kontrollierter Verfall dieses Mal. Gutes Essen. Penette mit Schwertfisch in Pistaziensoße. Überhaupt alles nussig und marzipanig da. Süß und würzig, ganz meine Soßenwelt. Der Strand bei Arenella wurde uns nur beiläufig empfohlen, weil ums Eck. Aber der Sand: Zentimenter für Zentimeter eine einzige Anschmiegung an den Fuß. Und das Wasser. Die Ionische See. So klar und kantig, dass man sich dran schneiden kann. Und will.

Auf dem Ätna dann ein bisschen Enthitzung der Gemüter. A) weil kalt und B) weil man auf den 2000 Metern Höhe, die man mit dem Auto fahren kann, noch nicht soviel mitbekommt von der herrlichen Bedrohlichkeit so eines Vulkans. Ausser man hört ganz genau hin in den stillen Momenten. Dann hört man das Herz von dem Vulkan schlagen. Und wenn es lauter wird, dann fährst du besser nach Hause. Oder zur Isola Bella, wo du im Pool über der Insel herumturnst bis du müde wirst und mit der Balkontür zum Meer einschläfst. In aller Ruhe.

In Cefalu dann wieder Lautstärke durch touristischen Befall. Am Abendbuffet im Hotel gewalttätige Renterbataillonen, wenns darum geht, wer als Erster am gegrillten Gemüse stehen darf. Aber selbst schuld, wenn man in so einem Land im Hotel Tourist weilt. Aber manchmal gewinnt die Faulheit, der Verfall der Ambitionen. Morgens vor dem Flughafen kein Mensch. Keine Seele. Und leider auch keine Tankstelle für den Mietwagen. Im Flughafen dann aber doch eine Horde älterlicher Germanen, die offenbar schon drei Stunden vor Flugbeginn eine Einreihung gebildet hat. Überhaupt wieder alles Idioten, die man so trifft. Nicht nur die Landsleute. Reisende im Allgemeinen. Manchmal glaube ich, die Leute werden immer dümmer. Von Jahr zu Jahr. Man muss ja nur die Nachrichten lesen. Die Regierung anschauen. In Urlaub fahren. Überall der Verfall. Es wird wieder geklatscht bei Landungen.

(mehr Fotos hier)

Palästina

How long will you wait
At the shady end of the slope
Am I already late
With my pyramide sized hopes
(Kashmir – Still Boy)

Die Mädchen im Zug scherzen herum. Mädchenscherze, das kann man hören, auch wenn man kein Hebräisch kann. Süß sehen sie aus mit ihren Locken und der dicken Schminke, auf jeden Fall nicht erwachsen. Die Uniformen sitzen toll, das sieht ganz organisch aus. Selbst die polierten Griffe der Maschinengewehre in ihren Händen glänzen angenehm träge in der Mittagssonne. Überhaupt ist die Stimmung ganz gelassen in dem Zug. Die Mädchen scherzen herum und der Rest telefoniert.

In Tel Aviv sitzen wir an dem Frühstückskiosk und trinken frisch gepressten Orangensaft. Am Nebentisch zwei Models, eins einheimisch, das andere wo anders her. Die Frühjahrssonne lullt uns in den Vormittag hinein. Kein Mensch möchte bei so einem Wetter arbeiten oder Krieg führen. Ich würde rauchen, aber mein Magen ist ruiniert. Unten am Meer, in Jaffa, mit den Katzen und dem Auf und Ab der kleinen Treppen, hat man den weißen Blick auf Tel Aviv. Die Hochhäuser dort kennen eine Menge Tricks und Kniffe. An einem Sabbath liegen die Leute am Meer und ein paar betätigen sich als Surfer. Das Dolphinarium ruht brach und verfault über dem Wasser, seit sich 2001 jemand freiwillig mit vielen Unfreiwilligen in die Luft gesprengt hat. Eine 747 kommt übers Meer, über den Strand, in die Stadt.

Nachts ist alles so, wie man es kennt. Die scharfen Weiber sind in den Clubs mit der scheiß Musik und die gute Musik ist da, wo die Ökos und Emos sich die Zeit vertreiben. Bist du DJ aus Berlin, bist du wer, das kann man den Südländern einfach nicht austreiben. Und die ganzen Restaurants. In Tel Aviv machen sie was aus ihrem vielen Gemüse. Anders als in Jerusalem, wo sie eine Gurke und eine Tomate in kleine Teile schneiden und damit hat sich’s. Mein ruinierter Magen hat eh nichts davon. Kein Mensch kann vernünftig Auto fahren und der Asphalt ist noch warm vom Nachmittag.

Der Busbahnhof von Jerusalem ist waffenstarr. Ich muss hier weg. Die alte Jaffa-Straße in die Altstadt. Vorbei am Markt, der unzerstörbare Markt. Alles wirkt wie eine Echtzeitumsetzung vom ersten Assassin’s Creed. Wie modellgetreu die Stadt von Süleyman dem Ersten immer noch wirkt. Wir suchen uns aus, ob wir über die Dächer gehen oder unten durch. Ein Labyrinth, ein Spiel, genau wie die Windungen und Ecksäle der Grabeskirche, wo der Griechisch-Orthodoxe die Leute ins Grab Jesu hinein- und wieder hinausherrscht. Der Tempelberg, der Felsendom, das gelobte Plateau, und es kümmert sich niemand um den Olivengarten dahinter. Der an die Stadtmauer heranreicht. Die Stadtmauer über dem goldenen Tor, das zugemauert ist, nur für den Fall, dass der Messias doch noch. Müll und Katzen in dem Olivengarten. Im arabischen Teil ist es lauter, freundlicher, gelassener. Niemand nimmt Notiz oder Abstand von uns. Wenn man muss, kann man miteinander.

Mitten in Bethlehem. Mitten in der West Bank. Eine Kolonne Autos der Fatah. Niemand schießt mit dem Maschinengewehr in die Luft, aber es wird gleich dunkel. Ich habe die Mauer zuerst für einen Schallschutz gehalten. Zu grotesk erschien mir die schiere Gewalt der Trennung. In Berlin kennen wir keine Mauern mehr. Über diesen Satz habe ich nachgedacht, ihn trotz des übermächtigen Klischees hier hinein geschrieben. Wir nehmen die falschen Abzweigungen und sind die plötzlich die Einzigen. Jetzt erkennt man uns. Alle sehen uns zu, wie wir etwas suchen. Ein unangenehmes Gefühl ist das. Zuflucht vor diesem Gefühl haben wir in der Geburtskirche gefunden. Die Holzbalken hoch oben haben was Katholisches in mir aufgeweckt. Eine Ehrfurcht. Ich habe mich ohnehin schon gefürchtet. In der West Bank. An den Checkpoints. In dem Land.

Die Ruhe vom Toten Meer ist schwarz. Eine stille Masse Wasser, lautlos, farblos und dunkel. Ein paar Meter nur nach Jordanien. Ein paar Meter nur bis zum heiligen Gral aus Indiana Jones und der letzte Kreuzzug. Um das Tote Meer herum ein paar ausradierte Landschaften. Leere Häuser, Einschusslöcher, Bushaltestellen. Mitten in der Wüste, gleich neben Jericho so tief alles unter dem Meeresspiegel. Still ist es, selbst wenn jemand vorbei fährt. Eine Rauchsäule, man denkt gleich Uh. Aber dann nur Palmenblätterverbrennung. Es riecht nach Verbranntem, kilometerweit und schon wieder ein bisschen Ehrfurcht, aber diesmal nicht katholisch. Im Bus spricht uns ein palästinensisches Mädchen an. Es geht in die sechste Klasse in Jerusalem und lernt Deutsch. Sie will wissen, warum wir hier sind. Überhaupt wollen das immer alle genau wissen.

Um den Flughafen herum überall diese Orangenbäume. Im Flughafen drin eine Ruhe. In all dieser Ruhe gesamtbiografische Durchsuchung. Ich mach einen Spaß nach dem anderen, trotz Aviator-Sonnebrille und dunklem Haar, vielleicht gerade deshalb. Tief in die Augen wird einem geschaut und gestoppt wie lange es dauert, bis man auf seinen phonetisch verhunzten Vornamen anspringt. Man sollte nie zulange mit etwas warten hier, bei aller scheinbaren Ruhe. Zwei Hosen und einen Magen hab ich mir hier ruiniert. Aber es geht ja immer weiter.