Sein Glück hängt an einem seidenen Faden, als er die Königinstraße in Richtung Odeonsplatz entlang läuft. Die alten Villen zu seiner Rechten und der Englische Garten zu seiner Linken beschützen ihn, geben ihm Deckung, solange bis er in die schutzlose Weite des Odeonsplatzes hinaustritt. Vor die Flanken der unbarmherzigen Feldherrnhalle, die ihn zum Rückzug an den Rand des Hofgartens drängen, wo der Eingang zur Unterwelt darauf wartet, das Mädchen wieder in seine Biografie zu spucken. Es ist eisig an diesem Novembertag und er hat sie das letzte Mal an derselben Stelle im August gesehen.
Sie hatte ihn bei der Hand genommen und ihn an eine bestimmte Stelle des Hofgartens geführt, von wo aus man die Kirche angeblich besonders gut sehen konnte. Sie hatte ihm stets die Augen für die Schönheiten dieser Stadt geöffnet, sie hatte ihr eine Identität verschafft und sie unabspaltbar mit sich selbst verbunden und jetzt hatte er zwar die Stadt und den Salat, nicht aber sie.
An diesem grausam kalten Novemberabend erinnern die Türme ihn an Totenköpfe und die um die Türme kreisenden Fledermäuse, die er im August noch als possierlich empfunden hatte, erscheinen ihm nun wie stumme Wächter eines ganz hässlichen Geheimnisses: Dass die Türme dieses ach so verehrten baulichen Glanzstücks in Wahrheit Schädel darstellten und alle jene verhöhnten, die nie hinter ihr Geheimnis gekommen waren.
Er versteckt sich in dem umnachteten Eingang zum Hofgarten und bewacht den Ausgang der Unterwelt. Wenn sie an die Oberfläche kam, brachte sie stets diesen Glanz mit sich, dem er sich nie entziehen können würde. Sie brachte dieses Strahlen, das unmöglich ihrer schwarzen Seele entspringen konnte, nur ihren hellen, wässrigen Augen und ihrem blonden Haar. Er raucht eine Zigarette in dieser fürchterlichen Kälte. Seine behandschuhte Hand zermalmt fast den Filter vor Nervosität. Sie soll ihn rauchend sehen. Sie soll ihn fauchend sehen. Ihn kämpfend, nicht resignierend, ihn rasend, ihn wütend, ihn wollend, ihn fordernd, ihn unnachgiebig, ihn tapfer, nicht ihn wartend. Nicht ihn wie er auf sie wartet
Natürlich kommt sie zu spät. Sie war immer zu spät und er hat das Warten so satt. Sie hatte ihn vor Jahren das erste Mal hierher beordert, es war genauso bösartig kalt gewesen, es war diesselbe schutzlose Weite und diesselbe Zuflucht an den Toren zum Hofgarten, wo er gelauert hatte. Und sie war zu spät gekommen. Sie waren stundenlang durch die Stadt gelaufen, gejagt von einer übelmeinenden Kälte. Sie hatte sich beklagt, dass er zu unverbindlich sei und er hatte sich nicht getraut, ihre Hand zu nehmen. Sie hatte von einem Leben erzählt, an das er sich nicht mehr erinnern konnte und wollte und hätte er geahnt, dass er es nochmals leben müssen würde, dass er wiedergeboren im Feuer jugendlicher Todesnähe würde, er hätte sich glatt von der Schädelkirche gestürzt. Doch er hatte auf eine wärmende Umarmung in dieser allesverneinenden Novemberkälte gehofft. Eine Umarmung, die er in keinem Sommer und in keiner Jahreszeit je von ihr bekommen würde. Doch nie hätte er klein beigegeben. Nie sich der Kälte gebeugt, nie sich die Blöße gegeben, die Augen zu verschließen vor diesem bitterkalten Strahlen ihrer Augen.
Als sie endlich auftaucht, geht er langsam auf sie zu und umarmt sie. Sie spricht ganz leise und es klingt wie eine geheime Botschaft, die er nicht entschlüsseln kann. Er hat sie seit August nicht mehr gesehen und er will endlich die Kälte vertreiben, die Veränderung in Gang stoßen. Die Schädel schauen stumm dabei zu wie er mit ihr langsam über den Odeonsplatz in Richtung Ludwigsstraße schreitet.