Mit schwarzen Segeln segelt mein Schiff

von Rationalstürmer

„Am Neujahrsmorgen saß das Kind in dem Eckchen, tot, erfroren am letzten Abend des Jahres.“ Andersen, immer dieser Andersen. Versaut aber auch echt alles, was es nur zu versauen gibt.

Aber wie´s immer so mit dem Teufel zugeht, wer schon tot ist, kann nicht mehr erfrieren, schon gar nicht am letzten Abend des Jahres. Der darüber hinaus eh schon den Jordan runter ist, dieser letzte Abend dieses einen Jahres. So gesehen bin ich fein rausgekommen aus dieser Affäre. Ein kurzes, aber mit viel Luft ausgestoßenes „Hurra, wir leben. Noch.“ scheint mir da nicht unangemessen, bei aller Unverständlichkeit, bei aller Unverständigkeit. Also gut, Jahr vorbei, Kind tot, ansonsten nur leichte Kollateralschäden zu beklagen und jetzt schon der Horror vor der nächsten Nebenkostenabrechnung. Heizen, es muss kräftig geheizt werden, seit Monaten schon und wohl Monate noch. Der Frühling, den ich vor einem Jahr schon zu riechen glaubte und der nie gekommen ist, er wird auch dieses Jahr auf sich warten lassen. Und dann noch die Stallpflicht ab dem 1. März. Also wieder kein Sonnenstrahl, der auf das dünne Leichentuch fallen darf. Heißt also noch weiter heizen und den Kohlenmann ins Haus kommen lassen. Weißt du eigentlich, dass ich ihn hasse? Er setzt sich in den roten Samt unserer Sessel und macht alles schmutzig mit seinen Kohlenhänden. Er bringt uns Dreck ins Haus. Dreck gegen Wärme. Ein beschissener Deal. Wir werden das irgendwann machen mit der Zentralheizung. Ja, ist ja schon gut. Ich lese weiter.

Nein, wie einem das Kind doch leid tun kann! So schön war es, so zart. Und ist doch so unschuldig gestorben. Weil die böse Großmutter nicht nein sagen konnte und das Kindchen unbedingt bei sich haben wollte. Ich hab lange hingesehen, bevor ich das Buch geschlossen und auf meinen Schoß gelegt habe: Nicht eine einzige Träne war da in deinen Augen zu sehen. Wahrscheinlich, weil du schon viel zu viel geweint hattest. Ein wildes Meer aus Tränen, ich weiß. Und immer wieder ein neuer böser Wind. Und immer noch höhere Wellen, wo du dich doch ohnehin schon kaum mehr auf den Beinen halten konntest. Aber du warst wunderschön anzusehen. Ganz nass von Regen und Gischt dein Gesicht, deine Wangen rot von der Kälte und deine Locken, deine wunderbaren Locken, die jetzt wie aufgeklebt aussehen. Du lenkst mich ab, merkst du das? Gerade ist uns das Kindchen noch unter den Gedanken weggestorben, und da kommst du mir mit deinem Tränenmeer. Ich war immer für Schwimmflügel, weißt du noch?

Ich Böser konnte nicht nein sagen und wollte dich unbedingt bei mir haben. Ich hab lange hingesehen, bevor ich das Buch genommen und verbrannt habe. Mein Herz ist treulos wie der Wind und flattert hin und her.

(Danke an Heinrich Heine und Hans Christian Andersen und an dich.)