Und hinter uns feurige Abendsonne

It was a foggy day in London, and the fog was heavy and dark. Animate London, with smarting eyes and irritated lungs, was blinking, wheezing, and choking; inanimate London was a sooty spectre, divided in purpose between being visible and invisible, and so being wholly neither. (Charles Dickens)

Victoria Station, Donnerstag Mitternacht. Der Mond steht doppelt am Firmament und das litauische Suicide Blonde mit einem höllischen Ausschnitt nimmt mich mit nach West Kensington. Dort herrscht todschicke Friedhofstille zwischen den Häusern mit den Vorgärten. Fünf litauische Blondinen und ein Mann auf zwei Miniappartements verteilt, sieht auf dem Papier nicht schlecht aus. In Echt kann einem schlecht werden bei der Überdosis Rosa und Parfüm. Ieva ist liebenswert und wirkt ein bisschen verloren neben den Profilneurosen ihrer Mitbewohnerin Yolanda, die mit Arsenals Aliaksandr Hleb (Ex-VfB Stuttgart) ausgeht. Der Rotwein betäubt meine überreizten Sinne und ich schlafe auf einer Couch, die nur die Hälfte meiner Körperlänge abdeckt.

Am nächsten Morgen beginne ich meinen Todesmarsch durch London im vor lauter Grün ächzenden Holland Park, erkunde das schneeweiße Notting Hill und setze per Tube über in die Oxford Street, wo ich dem Sitz meines ehemaligen Arbeitgebers einen Kurzbesuch abstatte und einer Exkollegin einen dreifachen Cappucino abtrotze. Bei Hamley’s kaufe ich nichts, weil ich mich nicht zwischen einem WWE Championship Belt Imitat, einer Batman Figur und meinem sechsten Wolverine entscheiden kann. Dann nach Süden zum Leiceister Square und Covent Garden und endlich runter an die Themse. Bis zur Tower Bridge und dann nach Whitechapel und Shoreditch und auf der Brick Lane durch ihre Augen zwei Jahre in die Vergangenheit blicken und meinen Frieden finden, während Sufjan Stevens die Losung „All Things Go“ in meinem Ohr ausgibt.

Abends hole ich Miss Litauen von ihrem Arbeitsplatz Toni & Guy bei der St. Pauls Cathedral ab und wir sitzen auf der Brick Lane in einer Art Biergarten. Das Lager schmeckt, die Marlboro verbotenerweise auch und der 24/7 Bagelshop ersetzt das Barbecue, bei dem mir entschieden zu viele Blokes & Birds anstehen. Später in einem Hybriden aus Bar und Club, der die Sekunden bis zur Last Order digital herunterzählt nochmal ein paar Orders begangen. Dann lässt mich der Club der verrückten Litauerinnen am Boden schlafen und ich begieße die freudige Nachricht mit Rotwein und falle vor lauter Erschöpfung in einen Schlaf, der einer Ohnmacht gleicht. Acht Stunden bin ich heute zu Fuß unterwegs gewesen.

Am nächsten Morgen, High Heels, Lippenstift und ich. Sobald die CEOs der litauischen Plüsch Tyrannei das Gebäude verlassen haben, mache ich mich aus dem Staub und flüchte in die Vorstadt. In Ladywell verbringe ich meine Zeit in einem Star-Wars-affinen Haushalt mit einem Hund namens Jerk und einer gastfreundlichen Komödiantin. Nach einem Spaziergang durch einen Park, der an einen stillgelegten Hunderennplatz grenzt, brechen wir in die Stadt auf, um uns in einer schwedischen Knoblauch Bar mit Tapas der ausdünstenden Art zu vergiften. Das „Garlic & Shots“ heißt nicht zuletzt auch wegen seiner reichhaltigen Auswahl an skurrilen Kurzen so und nach einem Black Melon und genug Knoblauch für ein Altherren Fußballteam mit zu hohem Blutzucker, suchen wir das grandiose Sheperds Bush Empire auf, um uns gutgelaunte, aber weniger grandiose The Rakes einzuverleiben. Auf der Aftershow Party trinke ich Unmengen von Spritzers (Weißweinschorlen) und plaudere ein paar Worte mit Naughty James, der mir stolz von seiner neuen Freundin Akiko und ihrer Band Comanechi erzählt. Craig, wie er wirklich heißt, ist noch ein Kind und verhältnismäßig nüchtern an dem Abend. Seine Hand ist klebrig von Jägermeister, aber er gibt sie mir trotzdem. Angesichts unseres zufälligen Treffens attestiert er dieser Welt fast sprachlos eine Überschaubarkeit, die ihn ängstigt. Er ist noch ein halbes Kind mit seiner engen schwarzen Röhrenjeans und seinem viel zu weiten Kapuzensweater, auf dem in Rosa New York geschrieben steht. Die Komödiantin und ich gehen. Ein Taxi auf Kosten meines ehemaligen Arbeitgebers fährt uns durch den nächtigenden königlichen Koloss zurück in die Vorstadt. Besoffen hängen wir auf der Couch und schauen die gesamte zweite Staffel von „The Office“.

Den nächsten Tag verbringe ich zur Hälfte vorm Fernseher (u.a. Office X-Mas Special), bevor ich wieder in die Stadt zurückgehe, nicht ohne eine 20 Pfundnote vom Overground-Ticket-Automaten einsaugen zu lassen. Im gottverlassenen Bank District bin ich der Einzige, der sich herumtreibt. Eine einzige Menschenseele in einer leeren Millionenstadt. Wie heimelig unheimlich ist es hier. Erst der Leicester Square nimmt mich wieder im Kreis der Existierenden auf und ich kehre bald zurück in die Arme der Vorstadt Ladywell, wo schon eine mit „Star Wars Lego“ präparierte Playstation auf mich wartet. Ich gehe früh zu Bett und träume von meiner großen London Liebe. Als ich erwache, sage ich leise zu ihr: „Ciao, ich muss jetzt nach Berlin zurück“ und nehme ein Taxi zur Victoria Station. Der Fahrer und ich philosophieren über José Mário Santos Mourinho und bald sitze ich im Bus nach Luton und bald im zwei Stunden verspäteten Flugzeug nach Berlin und hier bin ich wieder, getroffen von einer Magie wie ich sie nach all den Jahren London Absenz zwar erhofft, aber nicht mehr erwartet hätte.

Soundtrack:
Sufjan Stevens – Chicago
Ben Lee – We’re All In This Together
Kanye West – Crack Music
Olli Schulz und der Hund Marie – Goodbye My Spooky Girlfriend
Jenny Wilson – Let My Shoes Lead Me Forward
Savoy Grande – Reason To Leave
Bloc Party – Plans
Sufjan Stevens – That Dress Looks Nice On You