Brick Lane

Als wir die Brick Lane entlang gehen, weht uns der Rauch der Barbecues aus den Innenhöfen um die Nase. Bierkrüge geraten aneinander und die Straßen sind verstopft mit burlesken East-Endern und neureichen Afterwork Arschlöchern. Der Sommer gibt heute abend sein erstes Gastspiel in London. Ich habe das Mädchen aus Litauen von der Arbeit abgeholt und sie hat mir ihre hochhackigen Schuhe in die Sporttasche gesteckt und ist in Ballerinas geschlüpft. Sie ist unmöglich geschminkt und jedes zweite Wort ist „wicked“, aber ich mag sie, weil sie eine leise Ahnung davon hat, wie man jemand das Gefühl gibt, er sei am richtigen Ort, ohne dass er es ist. Und ich mag ihr Parfüm, auch wenn es viel zu viel ist. Ich habe es schon am Flughafen Luton gerochen, hundert Kilometer weit weg von der Innenstadt. Ich fühle mich wohl hier, der Ort meiner schlechten Träume ist zu einem guten Ort geworden.

Zuvor war ich den ganzen Tag durch die Stadt gelaufen. Immer an der Themse entlang, über die Tower Bridge durch Regen und Wind bis der Tag in einer sonnigen Dämmerung verebbte und ich in der Brick Lane ankam. Es war noch nicht dunkel, aber die Lichter gingen an und es waren viele. Ich ging bis zur U-Bahn Station Shoreditch und von dort beobachtete ich ein Flugzeug, das im Tiefflug die Brick Lane in Richtung Old Spitalfields Market überquerte, über die alte Christ Church hinweg. Ich konnte dich sehen, dich hören, dich riechen. Du hast deine auralen Spuren hier hinterlassen. Es war fast, als könnte ich deinen Geist sehen, wie er durch die Brick Lane irrt auf der Suche nach dem Echtesten aus deinen ganzen englischen Gefühlen. Mir war, als würde dich jeder hier kennen, aber du warst weg. Ich habe London gehasst, das East End, die Brick Lane. Sie haben dich von mir abgelenkt.

Und dann stand ich da inmitten der Brick Lane und die Trümmer meiner Erinnerung an deine Berichte aus London fügten sich zu einer Szenerie zusammen. Eine Szenerie voller Musik, voller Freunde. Die Drogen und Eitelkeiten, die Psychosen, die Messer im Bettkasten deiner Mitbewohnerin, der ganze neue Sex, die schwarzen Nächte, all das fügte sich den Gesetzen des East Ends. Und das hatte sich für Gastfreundlichkeit enschieden. Es hatte beschlossen, dich aufzunehmen. Dich und deine Freunde. Dich und deine neuen Freunde. Und jetzt nahm es mich auf. Müde und mittellos war ich nach London gekommen und hatte den ganzen Tag gesucht. Von West Kensington über Notting Hill über die Oxford Street und Covent Garden runter ans Wasser, die Themse entlang bis ich ankam. Und dann stand ich unter all den Fremden und konnte dich sehen, wie du eine von ihnen warst und nicht eine von uns und ich fand das Gleiche, was du vor genau zwei Jahren hier vorgefunden hattest. Ich fand meinen Frieden. Und Sufjan Stevens sang „All Things Go.“ Ich und du, wir waren uns das erste Mal einig, obwohl wir uns längst nicht mehr trafen.

Stunden später hole ich das litauische Mädchen und ihre Schuhe von dem Friseur und wir gehen durch die Brick Lane. Ich habe verschwiegen, dass ich heute schon einmal hier war. Ich habe verschwiegen, dass ich dich fast angerufen hätte, hätte ich deine Nummer noch besessen. Ich verschweige, dass ich einfach nur gerne hier sitzen will und rauchen. Doch ich bin ihr Gast und sie führt mich herum. Wir treffen einen Freund von ihr, der in leeren Häusern wohnt. Wir gehen in eine volle Bar und trinken Weißwein. Ich schlafe tief und friedlich in dieser Nacht und träume von einem Haus in der Brick Lane, in dem wir wohnen. Am nächsten Tag geht das litauische Mädchen früh zur Arbeit, ich packe mein Zeug und verlasse ihr Haus, fahre zu jemand in der Vorstadt und komme nicht mehr zurück.

bricklane.jpg