Der Moment, in dem ich anfange zu fallen, ist der Moment in dem ich frei bin. Ich fange an zu fallen, denke ich, als ich in das Auto steige und an der East Side Gallery entlang in Richtung Mitte fahre. Die Sonne hängt fadenscheinig auf Höhe der Kugel des Fernsehturms und schält sich träge nach unten, während die roten Luftfetzen über Mitte innerhalb von Minuten mehr werden. Ich fahre auf die Stadtmitte zu und habe das Gefühl, ins Zentrum zu fallen. Ich spüre die Hitze des Abends, sie bedeckt mich wie Staub, der schmierig wird von meinem Schweiss. Ein Schwarm weißer Blüten weht auf meine Windschutzscheibe zu und es sieht aus, als würde es schneien. Schnee in der Heißluft eines Berliner Juniabends. Ein Wetterwitz nach meinem fahlen Geschmack. Die Spree begleitet meine Fahrt noch ein wenig, dann verlässt auch sie mich.
Es ist wunderschön, alleine zu sein. So stelle ich mir meinen Tod vor. Endlich befreit von allem Ballast des Unerledigten und endlich befreit vom schlimmsten Folterwerkzeug seit Beginn der Menscheit, der Hoffnung. Seit ich denken kann, habe ich mir ausgemalt, wie es sein würde, wenn ich jemand wie dich treffe. Seit ich denken kann, hab ich mir unser Zusammenleben im Kopf zusammengebaut. Und ich hab alle Türen aufgerissen und „Herein!“ gerufen, so viele Jahre, bis du den Weg nach Berlin gefunden hast. Jetzt, wo du weg bist, kann ich durchatmen, trotz der Schwüle. Es liegt soviel Kraft und in unserem Scheitern. Es fließt immer noch Kraft durch das Blut, das von den Türen tropft. Man muss es trinken, solange es frisch ist. Man muss sich nackt darin wälzen, in all dem Blut unseres Scheiterns. Und endlich wieder alleine.
Ich möchte ans Meer. Ich möchte an die See. Ich möchte hineinlaufen und baden bis es dunkel wird. Schreien vor Schmerz und Widerstand gegen ihn. Schreien, bis jemand kommt und mir ins Gesicht schlägt. Endlich diese grauenvolle Stille durchbrechen. Ich bin so gerne am Leben, solange ich ein Ende absehen kann, denke ich. Wie perspektivenlos erschien mir diese Harmonie, dieses lähmende Gefühl der Zufriedenheit. Ich muss die Axt schwingen, ich muss mir selbst und dir die Gedärme herausreissen, ich muss uns hinrichten, damit wir spüren, was wir haben, was wir hatten, was wir verlieren, was wir verloren haben. Ich liebe dieses Aufgeben. Ich liebe dieses Fallen. Ich muss etwas trinken, ich muss etwas trinken, ich muss trinken. Ich gebe Gas und fahre auf den Turm zu, an dem sich die Abendsonne hämisch räkelt. Dass das Wetter so schön sein kann, während Leute sterben, das ist es, was mir soviel Freude bereitet. Bald stehe ich auf dem Balkon und kann mich nicht mehr erinnern, wie ich mich gestern gefühlt habe. Der Prenzlauer Berg erwacht in eine neue Nacht hinein und ich denke nur, dass ich angefangen habe zu fallen. Ich bin frei.