Wie ich einmal die Melancholie verlor*

Nothing to regret
(Slayer – Dittohead)

Es gab einmal eine Zeit, da war ich der Melancholie fetteste Beute Deutschlands. Ich brauchte nur morgens aus dem Fenster schauen und schon überkam mich die Erinnerung an Exfreundinnen, Autofahrten in bayrischen Sommern meiner Jugend oder Studentenparties mit Schwarzem Afghanen im Nussjoghurt. Und das war nur beim Aus-dem-Fenster-schauen. Frag nicht, was passierte wenn ich zum Aus-dem-Fenster-schauen auch noch Musik gehört habe. Ich hab diese Melancholie immer angenommen. Hab immer gedacht, mein Gott, was soll’s, du bist halt so ein Melancholischer. Und als Speichermedium hab ich sie benutzt. Speichermedium für wie man sich gefühlt hat. An die Fakten erinnerst du dich ja in den meisten Fällen, aber selten wie etwas gerochen hat, oder wie einem der Bauch mitgespielt hat oder anderes metaphysisches Zeug. Die Musik und die Melancholie, das war also der Speicherstand von meinen Herzensabenteuern der vergangen Jahre. Damit hab ich mich abgefunden.

Irgendwann ist die Melancholie aber von einem Tag auf den anderen weg gewesen. Ich will jetzt nicht auslassen, dass das koinzidierend mit einer Frauengeschichte zusammengefallen ist, aber es war schon erstaunlich. Weil da zerreisst du dir jahrelang das Herz und zermarterst dir das Hirn, alles wegen ein paar Liedern und Wetterszenarien und dann stehst du eines Morgens auf und schaust aus dem Fenster wie jeder normale Mensch auch. Jetzt war ich aber nicht neu verliebt oder so über Gebühr Glückbetankt, dass die Melancholie praktisch von der Glückseligkeit erquetscht worden wäre. Ganz im Gegenteil: das Mädel, um das es jahrelang ging, war von heut auf morgen unter die Kofferpacker gegangen, und hatte mir das noch schlagende Herz herausgerissen und gesagt: „Schau, das Ding schlägt doch immer noch, ich weiß gar nicht was du hast.“

Also von guten Zeiten keine Rede. Und auch nicht davon, dass ich ab dieser Amputation nicht mehr an dieses Unmädchen gedacht hätte. Geärgert hab ich mich noch oft und geflucht wurde wie ein Unwetter. Aber die Melancholie, die war weg. Wenn man es simplifiziert, ist die Melancholie ja ein Mittelweg aus Verzweiflung und Hoffnung und genau dieser Mittelweg war plötzlich verschwunden. Wutanfall oder Spaßausbruch, aber kein Mittelweg mehr. Das war dann schon gewöhnungsbedürftig am Anfang. Du sitzt im Auto und da kommt ein melancholisches Lied, das du mit diesem Unmädchen gehört hast, die Sonne scheint aufs Amaturenbrett und du spürst nichts. Da hätte jetzt auch was von Slayer laufen können, gleiches Resultat. Keine Melancholie. Keine Seele, kein Gefühl, noch nicht einmal ein Gedanke. Ein bisschen war das so, als hätte man den Geruchssinn verloren. Aber da sieht man mal, wie der Mensch gleich wieder undankbar wird. Weil auch wenn ich mir jahrelang eingeredet habe, du musst die Melancholie annehmen, das gehört nun einmal zu dir wie der grässliche Wind zu Ostberlin – in Wirklichkeit hat mich die Melancholie ganz oft gehandicappt im Leben. Vor allem im alltäglichen Leben.

Ich mein, du gehst in den Supermarkt und musst dringend einkaufen, weil daheim alles weg, und plötzlich stehst du vor dem Gewürzefachregal und siehst den Kümmel, von dem sie damals gesagt hat, den kaufen wir dir jetzt, weil du ja nicht immer nur mit Salz würzen kannst. Heute weiß ich, dass ich das sehr gut kann, aber das ist eine andere Geschichte. Na, auf jeden Fall stehst du vor dem Gewürzefachregal und starrst auf den Kümmel und musst fast heulen. Der Supermarkt schiebt seine Regale ganz dicht an dich heran und du fühlst dich furchtbar ertappt und bloßgestellt so in der Öffentlichkeit mit deiner Melancholie. Du rennst nach Hause, ohne die Sachen gekauft zu haben und es ist gleich Sonntag und nichts ist daheim. Und nur wegen der Melancholie. Das Kapitel Melancholie nach Alkoholgebrauch möchte ich eigentlich noch nicht einmal ansprechen. Was sich da oft für Szenen in Bars und Diskotheken abgespielt haben. Wie oft mir da die Melancholie schon einen Strich durch den Wochenendfick gemacht hat, ach, ich will’s gar nicht wissen.

Ja und heute ist sie weg, die Melancholie. Jetzt sind aber in der Zwischenzeit in meinem Leben durchaus schlimmere Sachen passiert als so ein Herzherausriss von so einem Unmädchen. Und es ist nicht so, dass ich mich nicht geärgert hätte oder auch ein bisschen globalverzweifelt. Aber von Melancholie war da keine Spur. Nichts hab ich erhofft und nichts bedauert. Es war halt wie’s war und jetzt ist es wie’s ist. Jetzt hör ich euch sagen: Ach, entweder der lügt uns an oder der ist eine ganz arme Sau, wenn der gar nicht mehr melancholisch sein kann. Und ich gebe es zu: ein bisschen merkwürdig ist das schon heute immer noch, einfach so in der Früh aus dem Fenster schauen und einfach nur den Verkehr sehen. Oder die Müllabfuhr. Aber man gewöhnt sich ja an alles.

*Diese Geschichte stammt aus der Reihe KURZSCHLUSS, einer Initiative von dragstripgirl.de. Weitere Beiträge zum Thema „vergessen/vergessen werden“ findet man bei

To01
Kleinodyssee
Bisaz
Bastmaat