Kaum ein Auge zugetan, weil das neue Jahr gedanklich mit voller Wucht bereits nachts über mich hereingebrochen ist. Beginn der ersten „Arbeitswoche“. Es gibt noch nicht viel Arbeit, aber es steht schon wieder zuviel auf dem Spiel für meinen Geschmack. Das Geld, das Renommee, der Seelenfrieden. Der neue Mandel ist längst fertig, aber bisher hab ich keinen Gedanken an ihn verschwendet. Seit drei Tagen – seit ich anfange, Veranstalter für die Lesereise anzuschreiben – denke ich in ausgiebigen Schleifen an ihn und was er mir bringen wird – oder eben nicht.
Am Wochenende war ich betrunken. In einem Club, auf einer dieser Feiern. Dieser, weil jeder weiß, was ihn erwartet. Eine dieser, die ich im Nachhinein als eine Wilson-Gonzales-Ochsenknecht-Party bezeichnet habe, völlig unabhängig davon, ob er überhaupt da war: Enge und Inhaltsleere, Koks und Hip Hop. Hip Hop ist überhaupt das neue Elektro. Ich habe das schon zu Café-Moskau-Zeiten gesagt, als es noch als prolliger galt. Und im Rio in dem kleinen Zimmer oben haben sie das auch schon gehegt und gepflegt. Alles darf dreckig, sexuell, kaputt und gleichzeitig fröhlich sein, wenn Hip Hop läuft. Sogar Hits sind erlaubt.
S. stellt mir seinen Friseur vor. Auf den ersten Blick ein Hardrocker auf den zweiten Blick ein Schönling, auf den dritten ein Depp. Er ist ganz nervös, der Friseur. Er erwartet sich noch eine Menge von dem Abend, das kann man sehen. Jemand steckt ihm einen Briefumschlag zu, vielleicht war es das, was ihn nervös gemacht hat und noch machen wird. Wie ein Reh springt er manchmal verschreckt und ohne Not hoch und streckt dabei die Arme weit von sich. S. geht mit dem Friseur aufs Klo. Später wird er von „Rattengift“ sprechen, das ihm dargereicht wurde.
Ich treffe meinen literarischen Zeitgenossen Nagel. Das hätte ich ja gerne: so einen Verbund an befreundeten Schriftstellern wie die Gruppe 47. Aber vielleicht sage ich das nur, weil ich Aufmerksamkeit brauche, eigentlich will ich ja keinem Verein und keiner Gruppe angehören. Nagel dürfte aber in meine Gruppe. Weil er so viele Mädchen kennt, erzähle ich ihm von einem prähistorischen Aufriss, als es die Hotelbar in der Zionskirchstraße noch gab. Das Mädchen und ich waren so betrunken, dass ich im Prinzip erst morgens richtig verstanden habe, wie sie aussieht. Sie kam dann aus der Dusche und ich habe so etwas gesagt wie: „Du siehst ja hübsch aus“. Und sie hat so etwas geantwortet wie „Glaubst du, das weiß ich nicht?“. Sie ist Schauspielerin aus München und 21, hat sie damals behauptet. Am Vorabend hat sie noch laut auf der Straße geschrien: „Oh nein, ich habe einen neuen Freund, ich habe einen neuen Freund“, aber dann hat sie sich nie auf meine SMS gemeldet, die ich einen Monat später geschickt habe, weil mir der Abend selbst irgendwie unangenehm war. Ich frage Nagel, ob er sie kennt, aber er kennt sie nicht und findet es vermutlich ein wenig seltsam, dass ich annehme, er könnte sie kennen.
Ich bleibe noch ein bisschen und sitze kraftlos herum. Eine Gruppe junger Mädchen setzt sich neben mich und ich fühle mich beobachtet – ich weiß dann immer nicht, was ich mit den Beinen machen soll, wie man sie am indifferentesten übereinander schlägt. Weil ich nicht draufkomme, gehe ich nach Hause.
Heute ist ein Tag, an dem viel von Emails abhängt. Meistens kommt den ganzen Tag über keine Nachricht, erst wenn ich keine Zeit mehr habe, weil ich mit meinem Sohn unterwegs bin, treffen alle auf einmal ein. Merkel beim Langlauf verletzt. Gleich postet wieder jemand einen lustigen Artikel vom Postillon dazu. Der Postillon ist wie die Satireseite in meiner Schülerzeitung damals. „Mampf“ hießt die Zeitung und ich habe auch Satire geschrieben. Zum Beispiel über Känguruhs, die sich auf Tragflächen von Flugzeugen ins Land schmuggeln. Das war wegen der Asylpolitik damals, Ende der Achtziger. Diese Art von Satire ist scheiße, weil die Realität der Satire ja uneinholbar voraus ist, hat damals der Sigi Zimmerschied ganz richtig gesagt. Eine gescheite Satire, wenn es so etwas gibt, ist die lakonische und nur sanft annotierte Wiedergabe von Tatsächlichem. Der Hildebrandt hat das super gemacht, Priol, Pelzig und Schramm können das. Polt und Loriot sind in ihren Sketchen oft so wenig von der Realität abgewichen, dass die Pointe eigentlich das Schwächste an den Inszenierungen sein musste.
„Horst Seehofer ist der Antichrist“, habe ich neulich auf Twitter geschrieben. Das ist mehr als nur ein billiger Witz. Die CSU motiviert die Leute abseits aller Fakten dazu, sich vor Überfremdung und dem Fremden an sich zu fürchten. Ich bin nicht mehr in der katholischen Kirche, aber das erscheint mir nicht gerade sehr christlich, wenn ich das Neue Testament richtig verstanden habe.
Ich muss jetzt schon den Druck aus dem neuen Jahr nehmen, merke ich. Ich bin angespannt, aber es kann auch der Hunger sein, weil ich außer einem Franzbrötchen nichts gegessen habe.