Das falsche Tagebuch: 19. Februar 2015

Wenn man so wie ich die Autobiografie von einem Automanen wie Terry Gilliam übersetzt, lernt man eine Menge über die Art dieses Menschen zu denken. Man interessiert sich plötzlich nicht nur für seine Vorlieben (Lon Chaney, Harvey Kurtzman, George Harrison), sondern auch für die Denkmuster und moralischen Grundsätze und ertappt sich dabei, die eine oder andere Sentenz ungefiltert bei einem Glas Jameson an der Theke auszuspucken, und erst im Nachschreck zu begreifen, dass das eigentlich nicht die eigene Meinung war. Kurz: Gilliam macht mich wahnsinnig. Und er zwingt mich förmlich, zusammen mit ihm über den Tod nachdenken. Der Mann ist schließlich 74 und grade im letzten Kapitel schwingt ein Hauch von kalter Ewigkeit mit. Und zwar mit einer gewissen Indifferenz, das macht ihn mir auf den sprichwörtlich letzten Metern wieder sympathischer.

Neulich war ich in Rerik an der Ostsee und auf dem Weg hatte ich meine erste richtige Autopanne. Mitten in der Meck-Pomm-Pampa sagt der Motor leise Arrividerci und schon steht man mit Kind, Baby und Frau auf weiter Flur, das Auto lehnt am Straßengraben, lächerlich überbepackt für vier Tage Ostsee. Muss man auch erst lernen, das Packen als Herde. Auf jeden Fall kommt jemand von der Freiwilligen Feuerwehr Boltenhagen und schleppt uns ab und erspart uns so die kalte Stunde, bis der ADAC sich aus Rostock herunter bequemt hat. Einfach so von Wildfremden in den Arm genommen zu werden (im übertragenden Sinn) fühlt sich toll an, wie die Lösung aller Menschheitsprobleme. Was aber, hätte ich einen Turban aufgehabt oder ausgesehen wie Gerald Asamoah? Man will es gar nicht wissen. Der Ford Focus fährt wieder mittlerweile, da war ein Leck an der Kühlung vom Motor. Hätte ich gewartet, bis der Motor wieder angeht und wäre noch ein paar Kilometer gefahren – Exitus.

Das Leben mit zwei Kindern ist fantastisch, aber frisst die ganze verbleibende Zeit. Doch dann finde ich mich im Theater wieder, sehe Hamlet (bzw. Eidinger muss weg), den Prozess oder das Kalkwerk, oder sitzte nachts im Dunkeln und schaue hintereinander Better Call Saul, Justified und Walking Dead. Irgendwoher kommt doch immer Zeit, man nimmt sie sich einfach vom Schlaf weg. Ich kann kaum ausdrücken, wie glücklich (und müde) mich das macht. Dass es immer noch die Nacht gibt, die einem ganz gehört. Also fast ganz, weil die Kinder ja einem auch nachts hin und wieder an den Qualitätszeitkragen wollen.

Mir fehlt ein bisschen das Geld zum Urlaubmachen und ein bisschen das Geld zum Umziehen und ein bisschen das Geld, um nicht über Geld nachzudenken. Es wäre eine gute Zeit für ein wirklich erfolgreiches Buch, aber noch ist sicher, wo und wie und ob überhaupt das nächste erscheint. Ein Fünftel davon ist fertig, es ist eine Geschichte aus den 80ern. Über Liebe, radioaktiven Regen und das tiefe Misstrauen in die Zeit und den Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Denke ich an die Achtziger, kommt mir alles schwarz vor.

Es ist erstaunlich, wie verunsichert man schon mit vier Jahren sein kann, denke ich, wenn ich meinen Sohn anschaue. Warum beschäftigt er sich mit Traumfängern, denkt über Tod, Umzüge und Entfernungen nach, wo doch jetzt die beste Zeit ist, hirnlos mit Feuerwehr-Autos zu spielen. Ich wünsche ihm keine grüblerische Natur oder dass er Künstler wird, wirklich nicht, aber der Zug könnte auch schon abgefahren sein. Immerhin will er kein Instrument spielen und kennt mehr Superhelden beim Namen als ich.

Ich selbst bin verunsichert, was das alles soll mit den Lebensstationen. Kinder werden älter, das ist gut und schön, aber muss man denn selbst ständig gesellschaftliche Evolution betreiben? Muss man mehr Geld verdienen, öfter ins Theater gehen, elaboriertere Interessen haben, Proust zitieren oder einen Porsche kaufen? Reicht es nicht, ein bisscher netter zu sich und anderen zu sein? Vielleicht noch ein paar Western mehr gesehen zu haben? Nicht mehr so oft die Grippe zu haben?