Es ist sonnig als wir losfahren. Und je weiter wir gen Berlin kommen, desto mehr schwindet die Sonne und die sonnigen Gesprächsthemen und machen den langen Nächten in unseren Biografien Platz. Ich spreche zunächst nicht so viel. Ich liege auf dem Rücksitz und beobachte durch das Seitenfenster die uns überholenden Autos. Bevor ich meine Geschichte zum hundertsten Mal erzählen werde, rücke ich sie mir im Kopf zurecht. Doch so gefällt sie mir nicht und ich entrücke sie wieder der Empirik. Jetzt stimmt sie nicht mehr, aber sie klingt besser:
Wir sitzen auf einem der Pfeiler unter der Reichenbachbrücke und sehen über die Leute hinweg. Es ist Sonntag, zehn Uhr abends und die Zahl der Fleischfresser ist überschaubar. In letzter Zeit patrouilliert ständig eine Polizeistreife und bewegt sich auf Schleichfahrt durch das sommerliche Gras, um Strafzettel an Isargriller zu verteilen. Im Hintergrund sehen wir die roten Lichter der Schornsteine des Kraftwerks und wie ein futuristischer Schutzpatron wachen sie über die Silhouette der in den Isarauen ausfransenden Stadt.
Es gibt nichts zu reden, wir haben schon alles zigmal besprochen. Es gibt nichts zu tun, wir haben ja alles schon unternommen. Es gibt nichts zu berühren, denn das darf sie ja nicht zulassen. Immerhin gibt es etwas zu trinken, ein Bier. Vor ein paar Tagen habe ich ihr gesagt, dass ich weggehen werde und sie hat bei mir übernachtet und die halbe Nacht vor sich hin geflennt. Sie hat mir immer wieder prophezeit, wie ich in Berlin meine Zukünftige finden würde und sie dann nicht mehr kennen werde. Und ihr Schmerz, auch wenn er sich nur aus gekränkter Eitelkeit zusammen setzt, ihr Schmerz schmeichelt mir sehr.
Doch heute Abend weint sie nicht. Sie schmiedet Rachepläne. Sie will mich nicht küssen, nicht einmal in meinen letzten Tagen und Nächten. Das ist bereits Teil ihrer Rache. Ich bin heilfroh, dass ich die Silhouette der Kirche am Ufer nicht mehr lange sehen muss, dass ich sie tauschen kann gegen den abgewichsten Boxhagener Platz in wenigen Wochen. Weg mit dieser kaputten heilen Welt. Weg mit München. Aber wenn sie nur etwas nuschelte, das wie „Bleib da“ klänge, würde ich mir eine Wohnung in der Au oder im Glockenbachviertel nehmen, egal wie teuer, und würde ihr ein Zimmer reservieren, das sie beziehen kann, wenn sie sich mit ihrem Freund gestritten hat.
Sie sagt, sie will gehen und wir steigen die Pfeiler hinunter und fahren mit dem Rad zu ihr in die südliche Stadt, den großen Berg hinauf. In ihrer Wohnung ist es zu heiß, um dort zu bleiben, also gehen wir auf einen Spielplatz aus Stein, wo wir sitzen und rauchen und nicht reden.