Jürgen

Es macht Spaß, die kurvenreichen Straßen des Berglands an der östlicheren Südküste Kretas zu befahren. Links neben uns liegt ein ausladendes und für Kreta ungewöhnlich grünes Tal und rechts türmen sich die Berge des Umlands von Pirgos, schroff, aber hochsommerlich gelassen. Ich singe Del Amitris „Always The Last To Know“ vor mich hin, einen belanglosen Poprocksong aus den Neunzigern. Entschlackt man die Musik von Produktion und Pathos und lässt nur Text und Melodie über, erhält man ein trauriges kleines Lied über eine entwischte Liebe und eine schwindende Informationspolitik.

We spent summers up beyond the bay
And you said these are such perfect days
That if the bomb drops baby, I want to be the last to know
But now youre living up behind the hill
And though we share the same city and feel the same sun
When your winter comes
Ill be the last to know

An dieser Textstelle bin ich angelangt, als ich aus dem Augenwinkel zu meiner Linken am Rande dieses grünen Tals ein Schild mit der Aufschrift „Safari Park“ wahrnehme. Ich fahre daran vorbei, aber im Rückspiegel sehe oder besser erahne ich einen verfallenen Vergnügungspark und einen hochragenden, ausgetrocknetem Springbrunnen, der selbst aus der Entfernung morbide in seinem Abglanz florierenderer Zeiten wirkt. Ich sage zu Tim: „Achtung, ich wende.“ und er fragt mich wieso und ich sage: „Du wirst Augen machen.“ Und ich spreche es eher als Floskel, denn als ernst gemeinten Appetitmacher auf den Safari Park aus, weil ich glaube nicht, dass der sanfte Tim meine Vorliebe für Verfall und das Leben danach uneingeschränkt teilen wird.

Ich wende also den Wagen auf der staubigen Strecke und fahre eine steile Schotter-Abfahrt hinunter, bis ich auf dem breiten Parkplatz des Safari Parks ankomme. Die kretische Nachmittagshitze lässt sich sofort glühend auf unserem Auto nieder, sobald wir anhalten. Wir steigen aus, der sengende Asphalt vor dem Park ist menschenleer. Ich beginne, Fotos zu schießen. Von den eingefallenen Bauten, den zusammengeklappten, verrosteten Karussellen, den ausrangierten Figuren – wie einem traurigen Torso des Roboters C3PO aus dem Film Star Wars – und den verblichenen Zeichnungen von Mickey Mouse auf dem ehemaligen Kassenhäuschen und den Schlangen und Affen auf einem wie ausgemustert wirkenden Wohnmobil samt Anhänger. Dann richtet sich meine Aufmerksamkeit auf den bereits im Rückspiegel erhaschten, ausgetrockneten Brunnen. Er ist selbsterrichtet, aufgeschichtet aus einzelnen ungeschliffenen Steinen, die von Zement zusammengehalten werden. Seine Pyramidenform fußt auf einem blauen Bassin, und dort sammelte sich wohl das Wasser, das aus den Ritzen der verschiedenen Ebenen des Brunnens hinab geflossen ist. Auf dem Brunnen bäumen sich zwei silberne Pferde in verschiedene Richtungen auf. Die Statuetten sind nicht groß und natürlich nur silbern angemalt, aber die Leiber der Pferde sind muskulös und ihre Minen statisch, aber stolz. Und während ich weiter auf den Brunnen zugehe und tiefer in das Gelände eindringen will, höre ich eine laute Stimme hinter meinem Rücken von dem Ort, wo ich Tim vermute.

„Wo kommt ihr denn her?!“ tönt es kräftig, aber nicht unfreundlich und ich überlege zuerst, ob es Griechisch ist, was ich höre, obwohl ich denn Sinn der Worte auf Anhieb verstehe. Ich drehe mich um und sehe wie ein untersetzter, reichlich beleibter Mann mit grauen Haaren und Vollbart auf Tim zugeht und ihm die Hand reicht. Der Mann ist tätowiert und trägt eine dicke Halskette mit goldenem Schmuck, das kann ich selbst aus der Entfernung sehen. Ich stoße zu Tim und dem Mann und er fragt uns mit lauter Stimme und einem Akzent, den ich später als Mischung aus Hessisch und Rheinländisch einstufen werde: „Na, Jungs, wo kommt ihr denn her?“
„Aus Berlin.“ antworten wir und bevor wir unsere üblich nachgeschobene Erklärung über süd- und norddeutsche Ursprünge hinterher schieben können, sagt Jürgen: „Ich komm aus Koblenz. Ich bin der Jürgen.“ und streckt uns die Hand hin. Wir stellen uns unsererseits vor und Jürgen fragt: „Na, wie gefällt’s euch hier?“
„Ich finde es sehr interessant.“ sage ich. „Dieser verfallene Vergnügungspark übt eine morbide Faszination aus. Er ist schön, obwohl er völlig herunter gekommen ist.“
Jürgen schaut mich befremdet an, als hätte er nicht ein Wort von dem verstanden, was ich gerade gesagt habe. „Das war noch vor einem Jahr alles in vollem Gang. Das hat gebrummt.“ sagt er und es klingt fast ein wenig beleidigt.
„Ach, kannten Sie den Park schon zu der Zeit, als noch was los war?“ frage ich.
„Der Park gehört mir, Junge. Und das Sie kannst du dir schenken. Ich bin der Jürgen.“

Ein bisschen peinlich ist mir das jetzt mit der morbiden Faszination. Vermutlich ist der Park sein gescheitertes Lebenswerk und zu Lebzeiten war er mächtig stolz darauf und jetzt kommt so ein kaputter Freak aus Berlin und ergötzt sich an dem Untergang.
„Ok, Jürgen, das mit dem Park interessiert mich wirklich. Vor einem Jahr war hier noch was los? Und was ist dann passiert?“
„Ja, ja, richtig gebrummt hat der Laden.“ meint Jürgen und er wirkt versöhnt. „Aber dann ist meine Alte abgehauen und es ging hier alles den Bach runter.“ Seine Stimme wird am Satzende leiser und der salopp gedachte Satz klingt so seltsam in mir nach, dass ich mir gar nicht sicher bin, ob ich noch mehr wissen oder noch mehr Fotos machen will.
„Wollt ihr ’n Kaffee, Jungs?! Kommt, ich mach euch einen, wir setzen uns vor mein Wohnmobil. Kann euch auch meine Tiere zeigen. Ich hab einen Schimpansen.“

Ich bin misstrauisch und schaue dem tätowierten alten Mann in die Augen. Was will er von uns? Braucht er jemand zum Reden? Wird er jetzt anfangen, über seine Frau herzuziehen? Will er uns ausrauben? Was will er? Seine sanften Augen bändigen irgendwie seinen bedrohlichen Ranzen, seine Tätowierungen und seine mächtigen Oberarme. Und sie bändigen auch mich in meinem Willen abzuhauen. Zudem will ich seine Tiere sehen und eigentlich will ich diesen Urlaub besonders sein lassen und hier bietet sich eine besondere Gelegenheit. Ich schaue kurz Tim an und er nickt affirmativ, so dass ich zu Jürgen sage: „Ja, Kaffee ist eine gute Idee. Wir haben leider nur zehn Minuten, aber ich schau mir dein Wohnmobil und die Tiere gern mal an. Darf ich vorher noch ein paar Fotos vom Park machen?“
„Na klar, Junge. Mach nur.“ brummt Jürgen zufrieden und nimmt Tim mit hinter sein Wohnmobil, wo ein kleiner Tisch und zwei Stühle aufgestellt sind. Tim holt Bier und Zigaretten aus dem Auto und setzt sich. Ich mache noch ein paar Bilder, wandere durch das hohe ausgedörrte Gras zwischen den verfallenen Schaubuden und geselle mich dann zu den beiden. Jürgen kocht griechischen Kaffee und debattiert lautstark in flüssigem Griechisch am Handy. Es klingt geschäftlich. Wir sitzen zwischen Jürgens Wohnanhänger und einem Fahrzeug, das aus einem Fahrerhaus und einem Käfig besteht. Auf dem Fahrzeug ist ein großer Schimpanse aufgemalt, der ein Auto fährt, auf dessen Rücksitz Diego Maradona erstaunt bis ängstlich Platz genommen hat. Dasselbe Bild ist als Fotomontage am Wohnanhänger aufgeklebt. Zudem ist er mit griechischen Buchstaben verziert und Zeichnungen von Schlangen und Spinnen und dem Gesicht eines verstorbenen, griechischen Schlagersängers, den Jürgen kannte, erklärt er uns später.

Während Jürgen also Kaffee kocht, rauchen wir und trinken Amstel aus Dosen. Jürgen beendet sein Telefongespräch und deutet auf sein Fahrzeug: „Da ist übrigens der Affe drin.“
Neugierig geworden stehe ich auf und gehe auf den Käfig im Wagen zu. Durch die dicht gereihten Gitterstäbe, erkenne ich ein gefletschtes Affengesicht, das sich plötzlich zurückzieht. Der Affe beginnt, auf den Boden seines Stahlkäfigs zu schlagen und das Schlagen wird sekündlich lauter bis es in einem ohrenbetäubenden Lärm kulminiert und ich mich erschrocken zurückziehe und mich wieder zu Tim an den Tisch setze.
„Was ist denn los, mein Lieber?“ Jürgen geht auf den Käfig zu, öffnet ihn und reicht dem Affen einen Tetrapack mit Fruchtsaft. Der riesige Schimpanse trinkt ihn in zwei Zügen aus und zerfetzt anschließend die Verpackung.
„Es ist ihm zu heiß heute. Bleibt mal lieber sitzen.“ meint Jürgen nur leicht besorgt und Tim und ich schauen uns ernsthafter besorgt an. Irgendwann ist der griechische Kaffee fertig und Jürgen holt sich einen Stuhl, um sich zu uns an den Tisch zu setzen.
„Habt ihr Bock auf Aussteigen, Jungs? Dann könnten wir den Laden hier wieder aufmachen. Das war nämlich eine Goldgrube.“
Bevor wir antworten können, beugt sich Jürgen mit seinem riesigen Bauch zu uns und fängt an zu erzählen:

„Ich bin 1974 nach Kreta gekommen. Ich hatte keine Lust mehr auf Deutschland. Da gehst du auch nicht mehr hin, hab ich mir gesagt. Und dabei ist es dann auch geblieben. Heute bin ich noch einmal im Jahr dort und nach einer Woche reicht es mir dann auch. Blasi hört auf zu fressen, wenn ich weg bin. Bliebe ich länger als eine Woche weg, würde er wahrscheinlich krepieren, der alte Affe. Immerhin ist er schon über vierzig. Ich habe dann zunächst Deutschunterricht in Griechenland gegeben, aber das wurde mir nach drei Jahren zu blöd und ich war sowieso immer fasziniert von wilden Tieren gewesen. Ich hatte da auch so einen Kumpel aus München, der gute Kontakte zum Tierpark Hellabrunn besaß. Dort habe ich dann auch Blasi gekauft. Und ein paar meiner Schlangen und Spinnen. Ich bin immer schon mit meinem Wagen durch ganz Griechenland gezogen und habe den Leuten die Tiere gezeigt. Die waren auch immer ganz begeistert, vor allem die kleinen Kinder. Irgendwann habe ich meine Frau kennen gelernt. Die war vom Zirkus. Aus dem Osten kam sie. Aus Dresden. Kennt ihr diesen Zirkus? Diesen Zirkus Sarrasani? Aus dem stammte sie. Wir sind zusammen durch ganz Griechenland gezogen. Das mache ich auch heute noch so. Und irgendwann haben wir gesagt, lass uns doch was Eigenes zusammen machen. Was Großes. Dann hab ich dieses Grundstück hier vor Mesohorio in der Provinz Heraklion bekommen. Eigentlich geschenkt. Und dann haben wir den Safari Park eröffnet. Ich hab hier alles selbst zusammen geschraubt. Auf die Handwerker hier ist ja kein Verlass. Den Brunnen zum Beispiel. Jeden einzelnen Stein habe ich selbst da hingemauert. Das Restaurant haben wir selbst geführt und wir hatten jede Menge wilde Tiere. Löwen, Tiger, Schlangen, Spinnen, Skorpione und natürlich Blasi, meinen Schimpansen. Es gab Shows und Karusselle, es gab Führungen und Attraktionen. Dann haben wir uns auch diese kleine Villa da gebaut. Ich war nur einen Monat weg, da haben die das Ding schon ausgeraubt und anschließend ausgeräuchert. Diese Gauner. Denen ist auch nichts heilig. Ein Jahr lief der Safari Park, es hat richtig gebrummt. Dann hat mich meine Frau verlassen und alles ging den Bach runter. Sie ist mit diesem Albaner durchgebrannt. 25 Jahre jünger war der. Das ist eine Menge. Die Frau war 50. Und der Typ hat auch noch bei mir gearbeitet. Und dann ist sie mit dem durchgebrannt. Und unseren Sohn, den hat sie auch gleich mitgenommen. Und ich stand alleine da. Und ab da ist alles den Bach hinunter gegangen. Man hat ja keine Lust, so ein Unternehmen alleine zu führen. Das war viel zu viel Arbeit. Wie hätte ich denn das alles alleine schaffen sollen? Hat sie mich einfach sitzen lassen. Man sieht das ja immer bei den anderen und denkt, mich erwischt es nie. Und wenn es einen erwischt, denkt man: das gibt es doch gar nicht. Das kann doch nicht mir passieren. Ich hab den Park dann zugemacht und die meisten Tiere verkauft. Schaut mal hier hinten runter. Bis zu dem großen Olivenbaum hat alles uns gehört. Da waren die Tiger drin in dem Gehege. Dann bin ich wieder mit meinem Wagen durch ganz Griechenland gezogen. Einmal im Jahr bin ich auf Kreta. Dann komme ich hierher zurück für ein paar Tage. Ist ein komisches Gefühl, das kann ich euch sagen, Jungs. Ich werd hier mal ein bisschen aufräumen. Bisschen Ordnung machen. Mir hat so ein Grieche auch mal angeboten, das Ding hier wieder flott zu machen, aber ich bin misstrauisch geworden mit der Zeit. Man traut ja nicht mehr jedem heutzutage. Vor nicht allzu langer Zeit haben Blasi und ich einen Werbespot für Pepsi Max gemacht. Das ist so eine Pepsi mit fast gar keinen Kalorien. Blasi saß am Steuer von einem Auto. Und ich bin auch schon wieder an einem neuen Werbedeal für Blasi dran. Also, wenn ihr Lust habt, dann machen wir hier noch mal was draus, Jungs. Euch kann man trauen, glaub ich.“

Wir sind gefangen in einer Mischung aus Erschrocken- und Gerührtheit. Einen solch emotionalen Input hatten wir diesem Nachmittag nicht zugetraut. In all der Unbefangenheit eines Badeurlaubs, kam uns ein bisschen Schicksal dazwischen und an dem folgenden Abend sollte ich mir noch die Außenbänder anreißen und noch lange an diesen Tag zurückdenken. Doch zuvor hat Jürgen noch etwas für uns in petto: „Wollt ihr mal die Tiere in meinem Wohnwagen sehen, Jungs?“

Klar wollen wir das. Jetzt stecken wir schon so tief drin in Jürgens Biografie, da kommt es auf die Tiere in seinem Allerheiligsten auch nicht mehr an. Die Rede ist von Schlangen und Spinnen und auch wenn uns nicht so ganz wohl ist bei dem Gedanken, das schäbige Ding, wo Jürgen auch drin haust, zu betreten, siegt letztlich die Neugier. So folgen wir Jürgen also in den hinteren Teil des Wohnmobils, wo die Luft steht wie in einem Gewächshaus. Ein ausgestopftes Krokodil – natürlich aus Jürgens ehemaligem Zoo – sitzt auf einem Holzkäfig, in dem ein Kormoran vor sich hin dämmert. Dann geht es los: Die Python, die Kobra, die Spinnen, alles was giftig ist und im Zweifelsfall tot macht, ist hier vorhanden. Mir schaudert es und das verwandelt sich anschließend in einen Ansatz von Panik, als Jürgen den Käfig mit dem Skorpion öffnet, ihn auf seinen Arm nimmt und ihn uns entgegen streckt. Wir springen synchron einen Schritt zurück. Vielleicht will er uns doch ausrauben und mit dem Skorpion betäuben, der Jürgen.

„Hat dich denn nie eines deiner Tiere gebissen oder gestochen?“ fragt Tim ungläubig.
„Na klar, Junge. Ich war wegen einem Skorpionbiss auch mal im Krankenhaus. Mein Finger schwoll so an, dass ich dachte, mein Ehering zerplatzt. Doch der Arzt hat gesagt, Herr Brink, Sie sind so antiseptisch, oder wie das heißt. Sie haben so viele Antikörper und Gegengifte im Blut, Sie würden eher die Tiere vergiften als umgekehrt.“ lacht der dicke Jürgen und ich denke nicht mehr, dass er uns ausrauben will, als er den Skorpion zurück in den Käfig schließt.

Eigentlich sind wir gerade dabei, den Jürgen ein wenig ins Herz zu schließen, aber irgendwie ist es uns auch ein bisschen zuviel und wir verabschieden uns. Doch Jürgen lässt uns nicht so leicht davonkommen: „Ich geb euch jetzt mal meine Telefonnummer. Wenn ihr wieder mal auf Kreta seid, meldet ihr euch. Oder ihr kommt auf der Rückfahrt noch einmal vorbei.“

„Willst du denn echt nicht wieder zurück nach Deutschland?“ frage ich.
„Auf keinen Fall. Ich gehöre hierher. Macht’s gut, Jungs und lasst euch mal wieder blicken.“

Wir steigen in unser kleines rotes Auto und fahren nach Ierapetra. Der Rest des Tages kommt uns staubig und trist vor. Das Urlaubsgefühl ist für ein paar Stunden verschwunden.

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