Ich glaub ja schon an den Fortschritt.
Heute Nachmittag rauf zum alten Kloster gefahren. Die Allee mit den moosgichtigen Krüppelbäumen entlang gelaufen, vorbei an den Apfelgärten und dem neuen Sportzentrum bis ganz nach hinten zum alten Klosterkrankenhaus, wo ich auf die Welt gekommen bin. Ehrfürchtig herumgestanden und wieder nach Hause gefahren. Es war gar nicht das Alter und gar nicht die Sentimentalität, es war die Neugier, die mich trieb.
Tollste Sache am Älterwerden: die Neugier. Was mich heutzutage alles interessiert, das hätte ich als Jugendlicher nie gedacht. Im Grunde interessiert mich jetzt alles, während mich früher nichts interessiert hat. Ich bin mit 41 in der Lage, mich in Details und Marginalien von Fachgebieten hineinzufriemeln, für die ich bisher nichtmal als interessierter Laie in Frage gekommen wäre. Handwerkliche Tätigkeiten, Blumen gießen, Kopfrechnen, Kommasetzung. Na gut, streichen wir Letzteres.
Ich glaub wirklich den Fortschritt, allerdings nicht an seine Geschwindigkeit. Ich glaube an eine humanistische Erosion. Was mich nur so schreckt, ist die unverwüstliche Eitelkeit. So komplex sich die meisten Konflikte auf der Welt darstellen, so unlösbar sie scheinen und so situative Superkräfte sie uns auch abringen mögen, so klar und erschreckend deutlich ist die Eitelkeit, die die Kriegstreiber und Fanatiker dahinter antreibt. Es ist meist nicht Armut, Hunger oder Perspektivlosigkeit – so findet man halt seine Arschgesellen – sondern die schiere Angst vor der Bedeutungslosigkeit. Und ein jeder ist so grausig korrumpierbar von ein bisschen Bedeutung, die vielzitierten 15 Minutes of Fame sind zur globalen Maxime geworden. Scheißegal welcher Religion du angehörst, ob du beim IS, bei Pegida oder im Kegelverein bist, du willst for fuck’s sake nochmal was darstellen. Und das schneller und potenter als die anderen. Und wenn nicht du, dann dein Kind, um mal als Vater zu sprechen, der täglich mit Eltern zu tun hat, die ihre Geltungssucht in Stellvertreterkriegen ihre Kinder austragen lassen.
Das Kompetitive muss aus der Gesellschaft verschwinden und ich möchte vom Kapitalismus mal hören, wie er sich das in Zukunft vorstellt. Das Perfide ist ja, dass das ein uralter humanistischer Gedanke ist, den grade jetzt immer mehr teilen und der auch durch die moderne Presselandschaft spukt, die allerorts auf Fairness, Gleichberechtigung und Pazifismus pocht. Gleichzeitig ist unsere Presselandschaft so eitel, so hyänig, so unruhig, unrund, ungeduldig, ja ungehalten geworden. Es ist natürlich keine Lügenpresse und ich will sie auch keineswegs verdammen, ich bin ja ein Teil davon – wir sind nur alle so panisch auf der Suche nach Kanten und Meinungen und erfinden die Schlagzeilen vor dem Inhalt und somit auch vor der Wahrheit. Viele Schreiber, die sich zurecht seit der Schulzeit über die Bildzeitung aufgeregt haben, haben den Hang zur Schaumschlägerei, zur Essenzialisierung der Inhalte, egal wie komplex sie sind, übernommen, weil es ihnen am meisten Aufmerksamkeit und Applaus verschafft.
Aber egal, ich glaub‘ an den Fortschritt, daran, dass der Homo Irritatus lernen muss, seinen brutalen Ehrgeiz zu zügeln, egal ob er gerne Andersgläubige köpft, leidenschaftlich Mieten erhöht oder Bücher über seinen Darm schreibt. Oder wie neulich mal der Cafébesitzer bei mir im Viertel gesagt hat: „Wenn du nicht mehr unbedingt so viel Geld verdienen willst, bist du auf dem besten Weg, ein moderner Mensch zu werden.“
An unserem alten Kloster hat mir das alte Klostergefängnis gefallen. Schöner Bau am Hang, wo jetzt Leute auf eigene Kosten drin wohnen, hoffentlich mit überschaubarer Miete. Sah wahnsinnig gemütlich aus. Frohe Weihnachten allerseits.