Die Reise endet hier. So kommt es einem vor, wenn er im Prinzip jahrelang immer nur um Haaresbreite sesshaft geworden wäre und jetzt vor lauter Müdigkeit nicht mehr aus den Augen schauen und nicht mehr auf der Straße bleiben kann. Nicht, dass er sich hier und dort nicht auch einmal heimisch gefühlt hätte, aber ein konstanter Vorwärtssog zog ihn durch die steinernen Städte und wieder hinaus, vereinzelt auch an die Küste und wieder zurück in die Wildnis, doch am Ende immer dorthin, wo er den Ursprung des Windes vermutete, ihn aber letztlich nie zu fassen bekam.
Ein neues Kapitel aufschlagen, bedeutet aber auch nur weiterlesen und irgendwann am Ende des Romans anzukommen, sich dann einen neuen zu kaufen und wieder von vorne anfangen, eine neue Geschichte zu beginnen und zu hoffen, dass man diesmal bis zum Ende durchhält. Somit weiß er weder jetzt noch morgen, ob das Wandern als solches auch nicht weiterhin des Mühsamen Lust bleibt, aber man kann gerne mal zwischen zwei Reisen eine kleine Pause der Sesshaftigkeit einlegen. So ist es gedacht, so wird es getan.
Als sie ihm den Schlüssel für sein neues Zuhause in die Hand drückt, fühlt er sich ihr ganz nahe. Sie kennen sich eigentlich nicht, aber sie drückt ihn, küsst umsichtig auf beide Wangen und redet wie immer viel zu viel. Sie geht gleich ins Theater und deshalb trägt sie einen Rock und Stiefel. Ihre Beine sehen toll aus heute abend und sie riecht gut. Er fragt sich, ob er sie gerade jetzt so schön findet, weil sie ihm ein Zuhause gibt, oder ob er sie auf der langen Lychenerstraße als Passantin heimlich bewundern würde.
Sie selbst ist ganz zerrissen und trägt eine Mütze, damit der regenbestückte Ostwind ihr nicht die Frisur ruiniert. Sie geht auf eine Premiere, sie hat noch keine Karte, aber ihre Freunde sind da. Ihre Freunde und ihr Mann. Der hat sie erst heute wieder hängen lassen und sie musste ihre gesamte ehemalige Wohnung alleine säubern. Er hat sie hängen lassen, wie so oft, weil er verrückt ist. Verrückt, aber so begabt. Dieser Fremde mit dem seltsamen Akzent hat ein gutes Herz, denkt sie. So etwas darf man nicht verachten. Er fühlt sich gut an, wenn man ihn drückt und seine Lippen haben etwas Leidenschaftliches, was sie im Tagesgeschäft nicht bemerkt hat. Sie steigt auf ihr Fahrrad und fährt durch den Ostberliner Regen. Ganz zerrissen fühlt sie sich, sie hat ihr Schloss und ihren Schlosshund aufgegeben und jetzt ist sie ganz zerrissen, unterwegs ohne Geld und Papiere. Ohne Ahnung, wo sie hin soll. Hier beginnt also die Reise, denkt sie, und sie ist mit Strapazen und endlosen Wartezeiten verbunden.
Er dagegen geht zu dem ägyptischen Imbiss, bestellt sich etwas zu essen und Orangenlimonade und liest Zeitung. Er erinnert sich, wie ihn die dunklen Kinosaäle Europas Zuflucht gewährt hatten, wenn er mal nicht gewusst hatte, wo er bleiben sollte. Er hatte sich in den sanften Samt gelehnt und die Augen geschlossen. Es wurde dunkel, der Film begann und linderte alle Qualen eines Heimatlosen. Jetzt ist er zurück und jetzt wohnt er auf Kosten der Frau. Sie ist zerrissen, er hat ihr Zuhause übernommen und ist endlich zur Ruhe gekommen, während sie ohne Rast und Gesundheit durch die feuchtkalte Nacht radelt. Was für ein Tausch. Eine Seele für eine Seele. Eine Reise für eine Reise. Ein Zuhause für ein Zuhause.