ÜBER ESSEN UND RELIGION
Ich will nicht lügen. Das sind die finstersten Tage für meine Familie und mich und vielleicht werden daraus auch noch Jahre. Ich sag das, damit man sich die Hoffnung auf Pointen gleich zu Beginn dieses Textes abschminkt.
Ich bin in Essen gerade oder besser gesagt: in Teilen von Essen. Ich wohne in Heisingen auf dem Berg über dem See in einer Wohnviertelbeschaulichkeit, wie ich sie in Deutschland überhaupt nicht mehr für möglich gehalten habe. Es ist Geld da, aber es es soll nicht so aussehen. Es ist gesellig und isoliert zugleich. Es ist ein bisschen, als wäre ich zurück in die späten Achtziger gereist.
Ich bin da oben auf dem Berg und dann immer unten im Krankenhaus. Das sind meine beiden Haupt-Essen. Einmal war ich in der Zeche Zollverein, einmal in Hattingen, einmal in der Gruga und gestern im Südviertel in einem studentischen Cafe. Das meiste von der Stadt sehe ich von einem Taxi aus. Müsste ich Briefe an Zuhause schreiben, würde ich formulieren: „Mama, es ist alles furchtbar, aber mir geht es gut. Ich finde hier ein wenig Ruhe.“Aber grade das mit der Ruhe ist ja das fürchterlichste, denn Ruhe hat in diesem Fall was von Siechtum.
Ich hab mich immer ein bisschen geschämt, dass mein Leben sich niemals in irgendwelchen Extremen abgespielt hat, und gefunden, dass mich das als Künstler auch irgendwie diskreditiert. Jetzt, da so ein Extrem eingetroffen ist und jemand quält, der sich ganz sicher nie ein Extrem gewünscht hätte, schäme ich mich für solch idiotische Gedanken und überhaupt für meine jämmerliche jämmerliche Egozentrik.
Ich habe mal ausprobiert, ob ich noch beten kann, aber das ist wie Schwimmen, das sind Reflexe. Ich bin seit zwanzig Jahren nicht mehr in der Kirche und kann plötzlich besser denn je verstehen, wie Leute sich an einem höheren Sinn festhalten, selbst wenn ihnen jeder Instinkt sagen müsste, dass es den nicht gibt, denn es ist alles nur Algorithmus und marginale Abweichung.
Wenn man es richtig anpackt mit der Religion, dann ist sie wie ein Laster. Wenn man es mit ihr übertreibt, macht sie dumm und krank, aber sie kann dir eine gehörige Identität für zwischendurch stiften, machen wir uns nichts vor. Aber noch geh ich nicht in die Kirche. Ganz soweit ist es noch nicht. Noch tarne ich meine Gebete in meine morgendlichen Dehnungsübungen hinein.
Was wollte ich gleich noch noch über Essen sagen? Ich glaub, ich mag es hier. Die Stadt ist auf eine unaufgeregte Art mit sich beschäftigt. Ohne größere Minderwertigkeitskomplexe. Berlin ist im Gegensatz zu anderen Städten wie Köln und München nicht ständiges Gesprächsthema, zumindest nicht da, wo ich residiere – in meinen beiden Essen, auf dem Berg und unten im Krankenhaus. Die Taxifahrer, die beide Teile miteinander verbinden, sind außergewöhnlich freundlich und fahren vermutlich auch dem Transportanlass nach besonnen, aber mich hat auch noch kein Busfahrer angeschnauzt und es ist beinahe mein 16. Tag hier. Wenn nicht ganz so viel Krankheit und Tod in der Luft läge, gefiele es mir hier außergewöhnlich gut.