Kurzkritik zu Maps To The Stars, Dallas Buyers Club

MAPS TO THE STARS
Das vorwurfsvoll sinnentleerte L.A.-Szenario Erinnert mich frappierend an einen Bret Easton Ellis-Roman. Ansonsten eigentlich ein Film wie ich ihn mag: ein einziges Foreshadowing mit guten und sich langsam in den unausweichlichen Untergang hineinschwätzen und handeln. Aber wie immer bei solchen Filmen, wo gebaut und gebaut und gebaut wird, ist das Ende dann eine Enttäuschung, weil entweder zu dick aufgetragen oder eben nicht dick genug. Cronenbergs Film schafft beides, was man ihm schon wieder zu Gute halten muss. Julianne Moore ist hinreissend eklig.

DALLAS BUYERS CLUB
Hatte nach dem Trailer damals schon das Gefühl, den Film zu kennen und so war es dann auch. Jared Leto (den ich persönlich bescheuert finde) ist eine gute Transe und Matthew McConaughey ein super Matthew McConaughey. Die Story mit dem überraschenden HIV für den schon beinahe babylonisch sprachverwirrt nuschelnden Redneck, der zum rechtschaffenden Medikamentendealer im wider der evil Pharmaindustrie wird, ist auch nicht schlecht, aber mir hätte auch ein Artikel in der ZEIT oder bei Spiegel Eines Tages dazu gereicht.

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Kurzkritiken zu Housebound, As Above So Below, Babadook, Grand Budapest Hotel, What We Do In The Shadows, The Spectacular Now

HOUSEBOUND
Kelly ist eine gescheiterte, wenn auch noch junge Existenz, die statt einer Gefängnisstrafe ihre Zeit mit Fußfessel bei der schrulligen Mama in einem leicht ranzigen Vorortspukhaus absitzen muss. Hmmm, ich weiß auch nicht. Wahrscheinlich schon ein origineller Film und vielleicht muss man ihn nur deshalb loben, weil dieses Jahr Diaspora für guten Horror war. Dann wiederum gehen mir eindimensional mürrische Protagonisten und so Unterschichten-Nachbarschaftsgedöns langsam auf die Nerven. Definitiv war er nicht gruselig. Wem also originell als Empfehlung reicht, bittesehr.

AS ABOVE SO BELOW
Eine zuckerschnutige Archelogin samt Selbsterfahrungs-Sprayer-Gruppe erkundet die Katakomben von Paris auf der Suche nach dem Stein der Weisen (das Elixir, nicht das Harry-Potter-Buch, das gibts noch im Handel). Die Kritik hat den Film ja zerrissen, aber ich hab mich stellenweise teuflisch unterhalten – und das trotz Found Footage. Eher sogar wegen FF. Muss man nämlich mal erst mal drauf kommen, Dantes Inferno als FF zu inszenieren. Okay, der Film ist derbe trashig, aber die Idee hab ich lieb.

THE BABADOOK
Verhaltensauffälliges Kind, Nervenwrack von einer alleinerziehenden Mutter, Kinderbuch-Spuk, das allein macht noch keinen guten Gruselfilm. Weil aber die Liebe zwischen Mama und Bub so intensiv, so herzig und aussichtslos dargestellt wird und man auf die meisten Klischees und Haunted-House-Regeln verzichtet, wird die Fallhöhe immens. Und die definiert ja letztlich immer Angst oder eben keine Angst. In diesem Fall Vollgas Angst!

GRAND BUDAPEST HOTEL
Auch gruselig auf seine Weise. Wes Anderson letztem Fetzer passiert nun das, was immer schon zu befürchten war: er wird zu einer ausschließlichen Orgie aus Ausstattung und mittelmotiviertem Starensemble. Kein Herzschlag, nur kalte ästhetische Wut.

WHAT WE DO IN THE SHADOWS
Mockumentary über eine Vampir-WG mit extrem lustigen Mitbewohnern, die leider eine grauenvolle Handlung retten müssen und ramschige Effekte, die man dem neuseeländischen Übungsfilm zwar gerne verzeiht, die aber dennoch nicht unbedingt meine Fantasie anregen. Weniger Blut wär dann doch mehr Effekt gewesen. Inhärent ist das aber eine stimmige Bude, auch wenn der gute alte Peter zu Früh das Zeitliche segnet.

THE SPECTACULAR NOW
Hab ich eigentlich schon im Januar gesehen, fiel mir aber grade so jahresrückblickig wieder ein. Charmant unauffälliger Teenie-Film mit Damokles-Stimmung wegen baldigem Erwachsenwerden und endlich mal einer, der unaufdringlich aber dennoch anregend das Thema Jugendalkoholismus zur Sprache bringt. Ich hab nach der Schule ja selbst gesoffen wie ein Loch, aber gleichzeitig bei allem berechtigten juvenilen Hedonismus immer die Verzweiflung bemerkt, die da mitschwipst.

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Das falsche Tagebuch: Weihnachten 2014

Ich mag Weihnachten eigentlich ganz gerne, seit mein Opa tot ist und ich nicht mehr das Weihnachtsevangelium vorlesen, Stille Nacht singen oder Gitarre spielen muss wie ein dressierter Affe. Meistens geh ich ziemlich ausgebrannt in den heiligen Abend, das gehört dazu. Meistens passiert irgendwas Dämliches, meistens bin ich über meine Geschenke enttäuscht, immer fehlt irgendwas Wichtiges beim Kid, über das wir im Vorfeld angeblich gesprochen hatten.

Dieses Jahr habe ich nachts, bleischwer nach dem gloriosen Nachtisch meiner Frau (Vanille, Mascarpone, Apfelkompott), die gesamte Vorhangkonstruktion im Schlafzimmer heruntergerissen. Heute früh beim Reparaturversucht den Schraubenzieher in den Finger gespießt -> reign in blood. Die Kinder sind jetzt für immer verstört, aber dafür wurde mir Frühstück gemacht und gebracht, ohne dass ich einen Finger (sic) rühren musste. Aber keine Sorge, es ist nur Blut, hab ich zum Junior gesagt. Ich könnte das alles auch strukturierter und pointierter erzählen, aber dann wäre es eine Axel-Hacke-Kolumne.

Das Beste aus meinem Leben ist auch in diesem Jahr wieder die Tatsache gewesen, dass ich von den meisten Dingen keine Ahnung habe und nichts aber auch gar nichts darauf hindeutet, dass mir jemals langweilig werden könnte. Das Beste aus aller Welt ist, dass sie noch steht. Ist ja nicht selbstverständlich, wo doch spätestens 2014 der schwelende Trend vom „Ich hab zu allem einen Meinung, kehr aber nur vor der eigenen Haustür“ zum Mainstream avanciert ist. Apropos Mainstream: Der Reflex unserer Hauptmedien gegenüber Pegida war Spott und Pranger. Das beruhigt mich. Ich finde zwar alle Religionen stockbescheuert, aber niemals in der Weltgeschichte hat die Unterdrückung (und ich sehe auch dich an, China) von Religionen zu irgendeinem humanistisch gesehen positiven Ergebnis geführt. Man muss die Religion einfach Religion sein lassen, irgendwann erledigt sie sich von selbst. Intellektuelle Evolution. Da glaube ich fest dran.

Wir haben übrigens erstmals einen (halbwegs) großen Baum dieses Jahr, weil wir nicht in Bayern sind, wo meine Eltern sonst einen halben Wald in die Wohnung stellen. Ich hab auch das erste Mal unter den strengen Augen der Innenarchitektin den Baum geschmückt, leider aber ein bisschen zuviel in der CMYK-Palette gewildert und musste dann die blauschimmernden Kugeln wieder abnehmen. Dafür hat der Junior dann eine knallblaue drangemacht. (ätschbätsch, Innenarchitektin). Leider ist Berlin an Weihnachten nicht mehr leer, nur noch fad. Aber immerhin etwas. Jetzt gehen wir dann gleich mit der Verwandtschaft in ein Diner und machen uns eine Hamburgerwampe. Frohe Weihnachten allerseits.

Kurzkritik zu Interstellar

Jeztz war ich dann auch mal drin und es ist ja eigentlich alles schon gesagt. Toller Prolog mit echten Menschen mit echten Problemen (abgesehen davon, dass Matthew McConaughey eigentlich hier beinahe nahtlos seinen True Detective-Charakter weiterspielt) in einer falschen Zukunft, eine hervorragende Prämisse für einen glaubwürdigen Sci-Fi-Film. Aber da hängt Nolan den Hammer zu hoch, denn was er uns danach als „grounded“ bzw. „scientific“ Science Ficition verkaufen will, gerät von einem mittleloriginellen Gedankenspiel zum Superschmonz mit Musik in Guantamono-Lautstärke, so als orgle sich Hans Zimmer im LSD-Rausch einen ab wie das Phantom der Oper oder Kapitän Nemo. Und wissenschaftliche Beratung mag Nolan sich ja geholt haben, gebracht hats nur leider wenig, das ist selbst Jules Vernes (weil wir grade dabei warn) Welt in sich schlüssiger, weil der sich garantiert nie so todernst genommen hat wie Nolan, bzw. sein Bruder, der das Drehbuch verbrochen hat. Fazit: in diesem Fall ist Pathos die im Film oft zitierte Schwerkraft und die holt Interstellar dermaßen hart auf den Boden der Tatsachen zurück, dass ein Riesenkrater in der Filmografie von Nolan entsteht. Und ohne zu spoilern: Filme, die aus reiner Bequemlichkeit ein Raum-Zeit-Pardadoxon hinterlassen, gehören verboten, da kann ich totalitär werden.

PS: Matt Damons Auftritt wirkt für mich wie ein überlanger Sketch, ich kann mir nicht helfen.

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Das falsche Tagebuch: 4. Dezember 2014

Eine Weile nichts in das falsche Tagebuch geschrieben, weil alles zu echt war. Ich bin kürzlich das zweite Mal Vater und das erste Mal Vater einer Tochter geworden und die Monate davor waren wie ein schlechter Traum. Es hat sich neben der Schlaflosigkeit – die jeztige ist ein Scheißdreck dagegen – eine Unsicherheit bei uns breit gemacht wie ein heimatloser fetter Verwandter. Der Verwandte ist wieder ausgezogen und an seiner Stelle liegt jetzt so ein tolles menschlisches Mini-Gerät. Ein bisschen Zerissenheit ist geblieben, weil man das Gefühl nicht los wird, dass man seinen Kindern keinen Gefallen tut mit dieser weitgehend brotlosen Schreiberei. Das ist natürlich Paranoia und resignativer Schwachsinn, aber es stimmt auch.

Das nur als Vorgeschichte zu dem, was mir neulich auffiel, als ich (beruflich) an diesem autobiografischen Terry-Gilliam-Text herumübersetzt habe. Natürlich ist Gilliam fast 75 und damit überwiegend ein lebendes Relikt aus einem anderen Jahrhundert, und vielleicht mag man ihm deshalb nachsehen, dass er Züchtigung, Schlachthausbesuche und auch Frauen am Herd für nichts verwerfliches hält, die Frage ist eher, was für eine Einstellung vermittle ich im Jahr 2014 zu antiquierten Gesellschaftsmodellen und Frauenbildern.

Es kommt mir vor, als ob Männer – insbesonders solche, die sich autobiografisch artikulieren – ihr Bedauern über ihr ständiges Unterwegssein, also die klassische Absenz des Vaters inklusive gloriosen Comebacks gegen 21:00 Uhr oder auch nur am Wochenende, meist mit einem Schmunzeln überliefern. Also eigentlich damit kokettieren, dass sie die Erziehung – und damit meine ich die tägliche Scheiße – gerne den Frauen überlassen. Die großen Entscheidungen über Gut und Böse trifft dann freilich der Patriarch.

Ich kaufe nie im Biosupermarkt ein, weil er mir zu weit weg und zu teuer ist, ich habe mich gegenüber Frauen und Männern nicht immer politisch korrekt verhalten und ich scheiß auch meinen Sohn manchmal recht lautstark zusammen (was Gilliam gutheißen würde). Ich bin also weiß-Gott kein Vorzeigemensch, und verlange das ja auch von niemand. Was mir allerdings Rätsel aufgibt, ist die Selbstzufriedenheit der Menschheit als selbstsüchtiges und im Grunde bis auf die Knochen opportunes und von Angst in die Vorverurteilung getriebenes Gebilde, ein einziges anti-humanistisches Mia san mia. Aber wenn wir schon in einer absoluten und adhoc-geilen Optimierungsgesellschaft leben, warum dann nicht auch den eigenen Charakter optimieren?

Das falsche Tagebuch: 28. Oktober 2014

Ach, falsches Tagebuch, wie gerne würde ich dir von meinen gelegentlichen Panikanfällen und der grotesken Angst, dem verschütt‘ gegangenen Urvertrauen und dem Unverstand, der sich in dieser Welt breit macht, erzählen. Aber du bist ja kein echtes Tagebuch und die grausliche Wahrheit hat nur in Extrakten und Sinnbildern hier etwas verloren.

Deshalb erzähle ich stattdessen von dem neuen Kaufhaus am Potsdamer Platz, der Mall Of Berlin. Und wie schön es hätte werden können, so an historischer Stelle, quasi in vermintem Grund und Boden. Wie schön kann so ein Kaufhaus sein, wenn aus den Lautsprechern Georg Friedrich Händel statt Ariana Grande blättert, wenn unten die Feinkost und das Kaffeehaus sitzt statt dem Schlüsseldienst und Aldi. Wenn oben sich die Himmel im Luxus lichten, wo nur die Betuchten noch kaufen, aber alle anderen dennoch wandern und verhandeln dürfen, statt durch Desigual, Berlin 54, Madonna und H&M zu hinken und nach reduzierten Angry-Birds-Mützen zu suchen.

Es könnten Schauspieler mit grellen Gesichtern aus Satyr-Spielen statt Saturn-Mitarbeiter auftreten, es könnten Liftboys statt Klofrauen das Kleingeld einsammeln. Wir könnten uns schwarz anziehen und durch lila-rote und nach Süßigkeiten duftende Arkaden (im mythologischen Sinn) lustwandeln statt von Camp-David-Proleten durch die Gänge geschubst zu werden von einem Smoothie-Stand zum nächsten von Nordsee über Subway bis zum Asia-Pavillion in Schwaden von Frittierfett.

So ein Kaufhaus kann doch ein Lichtblick in dunklen Zeiten wie diesen sein, eine Flucht nach Arkadien, ein Wellness-Aufenthalt im schönen Schein. Stattdessen ist es wie Berlin halt nun mal so ist. Kurzfristig, unsicher und visionslos. Ausnahme: der FC Bayern-Fanshop im Obergeschoss und der Hertha-Laden im Keller neben dem Schlüsseldienst. Da hatte jemand eine Vorstellung.

Kurzkritiken zu Gone Girl und Edge Of Tomorrow

GONE GIRL
Fincher poliert und konstruiert an dem zu vernachlässigendem Thrilleranteil herum, bis man beinahe vergisst, dass der Film im einfachen aber auch im komplexen Sinne eine Metapher auf die Ehe ist – und keine lustige. Motto: Traue niemals dem jeweiligen Tag, alles kann sich geändert haben, wenn du zu lange geschlafen hast. Oder in anderen Worten: verliebt ist einfach, verheiratet sein nur, wenn man hellwach ist. Ausgefeilter Film, vielleicht ein bisschen zu ausgefeilt, aber zwanderthalt Stunden meine Aufmerksamkeit ab 11 Uhr nachts halten, ist auch eine Leistung. Rosamunde Pike liefert hier – für mich nicht besonders überraschend – ihr Meisterstück ab. Auch Batfleck macht das gut, seine selbstgefällige Schlurfigkeit provoziert an den richtigen Stellen. Was mich allerdings fertig macht: er hat dieselbe Stimme wie Pro-Wrestling-Gott Daniel Bryan. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich Bryan in Spandex auf der Couch sitzen.

EDGE OF TOMORROW
Wahrscheinlich der beste Sci-Film in diesem Jahr, zumindest der amüsanteste. Starship Troopers und Groundhog Day sind zwei meiner Lieblingsfilme und so schlecht konnte ein Zwitter daraus eh nicht werden. Die Außerirdischen sind mir ein bisschen zu tricksig und das Ende ein bisschen zu wixig (im Sinne von vom Studio bestellten Happy Ending), aber an Punxsutawney Tom (Cruise) ist nichts auszusetzen. Sein selbstgefälliger Opportunismus provoziert an den richtigen Stellen. Was mich allerdings fertig macht: Wenn ich die Augen schließe, sehe ich immer Bill Murray vor mir, wie er völlig genervt ein ums andere Mal mit diesem Flugzeug abstürzt oder sanft aufseufzt bevor ihn ein Tentakel aufspießt.

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Das falsche Tagebuch: 8. Oktober 2014

Am Wochenende bin ich durch Deutschland gereist, es hat alles recht friedlich gewirkt. In Frankfurt, in Karlsruhe, sogar in Berlin. Am Montag früh in Karlsruhe wieder in den Zug gestiegen und auf Höhe Frankfurt sind dann Leute in Flammen aufgegangen. Im übertragenen Sinn freilich. Oma will an einer Frau vorbei, die ihre Tasche neben sich in den Gang gelegt hat. Oma stolpert minimal, Oma schreit Unverschämtheit, als hätte sie sich etwas gebrochen. Frau sagt genervt, andere hätten es doch wohl auch geschafft, über die Tasche zu steigen. Oma holt aus als wäre sie eine Tippkick-Figur und drischt mit dem Fuß gegen die Tasche der Frau wie am Ende aller Tage. Frau schlägt mit der Handtasche nach der Oma, Oma hat nur noch Weiß in den Augen und schreit elendiges Miststück. Dann kehrt Ruhe ein, alle wenden sich wieder ihren Zeitungen zu. Es ist neun Uhr morgens, kurz nach Frankfurt.

Ich sitze beim Kaffeetrinken, der Hauswart, der die Kühlschrankscharniere reparieren soll, ruft an, dass er vor der Tür steht und ich nicht da bin. Er sagt das so ruhig und ohne Wut in der Stimme, dass ich sofort losrenne wie ein Blöder. Ich renne, bin eine Minute später da. An sich ist dieser Hauswart tatsächlich ein seelenruhiger Typ, aber man merkt ihm an dass er am Ende ist. Wir haben keine Zeit mehr, begrüßt er mich. Es ist fast zu spät, sagt er kaum hörbar. Je höflicher ich zu ihm bin, desto ruhiger wird er. Es ist zum fürchten.

Das ist kein gutes Jahr bisher. Bisher.

Das falsche Tagebuch: 30. September 2014

Mit dem Kind rausgegangen.

Der September fängt an zu modern. Die Gegend um unser Viertel hat sich im Lauf der Jahre in eine Wüste voller Kräne, Löcher im Boden und Absperrungen verwandelt und jetzt kommt das Wasser. Mittlerweile ist die Infrastruktur beim Teufel und dennoch wird auch die kleinste Baulücke genutzt, um eines dieser Häuser mit den grauen glatten Fassaden hinzubauen. Wie Unkraut schlingen sie sich aus jedem Freiraum. Es nieselt hämisch oder es nieselt sanft. Es stimmt einen hässlich feixend auf das eklige Wetter demnächst ein, oder es führt einen sanft heran, wer weiß. Der Anfang ist nie so schlimm. Ein paar Symptome. Leichte Kopfschmerzen. Am Ende die Krankheit.

Mit der S-Bahn in den Wedding, ins Einkaufszentrum gefahren. Im Einkaufscenter im Kinderspielgeschäft steht eine Frau sehr nah hinter mir und sagt: „Die ganze Scheiße ist doch scheiße.“ Sie sagt es mit einem türkischen Akzent und riecht nach Schnaps. Als ich mich umdrehe, sagt sie nicht ganz zu Unrecht: „Nach vorne wird geschaut, mein Freund.“ Der Bedienung im Spielzeugladen gehen die Haare aus und sie trägt Sommersandalen über weißen Nylonstrümpfen. Unten beim Fruchtsaftstand fragt mich die Kellnerin „Na was denn jetzt?“, weil ich nicht auf die Sekunde genau sagen kann, ob wir mitnehmen oder bleiben wollen. Natürlich würde ich gerne bleiben, aber es gibt keine Sitzgelegenheiten und die ruppige Frau am Tresen ist sicher kein guter Gesprächspartner. Bei McDonald’s steht ein größerer Junger mit seinem kleinen Bruder. Er ist etwa zehn und sagt mehrmals laut: „Hey, du riechst nach Fotze“. Mein Sohn sieht mich fragend an, ich zucke nur mit den Schultern. Im Zoogeschäft bei den beiden Kornnattern stinkt es so bestialisch, dass ich es nicht wage, in den langsam auswärmenden Cheeseburger zu beißen, den ich in meiner Hand halte.

Draußen vor dem Einkaufszentrum raucht eine Familie und wenn das Kind im Buggy einen Mucks macht, wird es zusammengeschissen und ihm der Rauch ins Gesicht geblasen. In der S-Bahn spielt mein Kind mit einem Sesamstraßenplüschtier, das wir gerade gekauft haben und es sind immer die alten Leute, die einen mit Gravitas und Milde gleichzeitig anlächeln, so als wären wir die letzte Hoffnung der Menschheit. Am Nordbahnhof bleibt ein wahrscheinlich geistig behinderter Rollstuhlfahrer in der Tür stecken und die Bahn will losfahren. Ich drücke ihn nach draußen, wo er verzweifelt ist, weil er irgendetwas verloren hat und es auf den Gleisen vermutet. Er lässt den elektronischen Rollstuhl in Richtung der Gleise rollen und wirkt aufgebracht. Ich hole einen Bahnbeamten. Zu zweit fragen wir den Mann, was er sucht, ob wir helfen können. Es ist der Deckel von seiner Colaflasche. Er ist weg. Er sagt, es geht schon wieder, es ist nur der Deckel. Die nächste S-Bahn kommt, er rollt zurück in die Bahn und fährt weiter. Der Bahnbeamte nickt mir zu.

Mit dem Kind wieder reingegangen.

Das falsche Tagebuch: 17.09.2014

Was ich am Gitarrespielen mag: dass es nicht auf Anhieb klappt. So gut kannst du gar nicht sein, dass du auf Anhieb das Solo von „Flash Of The Blade“ nachspielst. Egal wie gut du dich findest, einen anderen guten Gitarristen kopieren stutzt dich immer erstmal auf Demutsgröße. Dann kanns du dich wieder rekonstruieren, indem du auf Details achtest und übst, bis du das Solo einigermaßen in Muster und Automatismen unterteilen kannst und am Ende sogar nachspielst. Dann folgt großes Selbstbewusstsein, valide, verdient, erarbeitet. Mein Langzeitprojekt ist immer noch, Maidens „Powerslave“ auf der Gitarre komplett nachspielen zu können, mit allen Gitarrenspuren, Riffs, Licks, Solos und überhaupt. Seit einem Jahr sitze ich jetzt dran und es ist kein Ende in Sicht. Und wie schön das ist, weil du so den Weg aufmerksam gehst. Wüsstest du, dass es nur noch zwei Wochen dauert, würdest du hudeln. Hudeln ist der Tod. Kurzfristigkeit ist der Tod, aber Kurzfristigkeit ist die dominierende mentale Bewegung unserer Zeit.

Apropos Bewegung – Schottland, Separatismus, Nationalismus, Patriotismus, bla bla bla. Mit 17 hab ich Schottland auch noch die Unabhängigkeit gewünscht und hab mit einer Schottin auf der Fähre herumgeknutscht und bin danach ein halbes Jahr in Karos rumgelaufen und vier Jahre später habe ich bei „Braveheart“ im Kino in Dublin zusammen mit den Iren geklatscht. Und ja, ja, Denkzettel an Zentralregierungen und Lektion und Revanche und jetzt zeigen wir’s den Großkopferten mal. Das ist im Prinzip okay und es ist als soziale Momentaufnahme sogar wichtig, aber eigentlich ist es anachronistisch und ein kultureller Rückschritt. Revanchismus ist immer noch eins der größten Probleme der Menschheit, ein philosophischer Blackout, eine Barbarei des Verstands. Dass wir alle im selben Boot sitzen gegen Krieg, Armut, Zerstörung und Abschlachten sollte der allgegenwärtige Geisteszustand sein. „Alle zusammenhalten“ ist doch das Credo, das auf der Hand liegt.

Nebenbei: Was diese U2-Sache an Kleingeist und Hybris hervorprovoziert hat, verwundert sogar mich. Ich hab mich gefreut, dass mir Bono eine Platte geschenkt hat. Ernsthaft jetzt.