Neujahrsstille

Am Brandenburger Tor herrscht Abbruchstimmung. Wir gehen gegen den Schneewind und mir juckt die Nase mit den ganzen Flocken. Die schrauben die letzten Gondeln vom Riesenrad ab und wir können dabei zusehen. Rund um das sowjetische Ehrenmal ist es totenstill und nichts ist zu sehen außer die Fußspuren, die wir mit einsetzendem Schneefall dort als einzige hinterlassen. Die Fläche vorm Kanzleramt sieht zwanzig Minuten später schon aus wie eine Schneewüste. Auf dem Weg nach Hause gehen wir aufs Gelände der alten Charité. Alles schläft unter dem Schnee. Durchgefroren waren wir, jetzt ist da nur noch die Nässe, die uns geblieben ist. Bis wir zuhause ankommen, sind alle Fußspuren im Schnee schon wieder zu Einheitsbrei verlaufen. Berlin mag den Schnee nicht, lässt ihn einfach abtropfen. Aber die Stille, die kann es gut vertragen für einen Tag. Und ich erspare uns das U2-Zitat, das so nahe liegt.

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Letzter Eintrag 2007

Das war ein Ritt, mein lieber Scholli. 365 Tage in der Turbine und am Ende in den Sonnenuntergang, direkt in die Flitterwochen. Am Anfang des Jahres gerade noch aus dem katalonischen Exil zurückgekehrt und schön sich selbst geritzt, damit das schwarze Blut dieser Publikation wieder auf Berlins Asphalt tropft, am Abgrund Badminton gespielt, in Asche ein Vollbad genommen und in den Himmel emporgefahren. Von der Hölle ausgespuckt, aber vom Herrgott dankend abgelehnt. Rockin Fuckin Roll. Das war wunderbar mit genug Schrecken, um sich nicht in Sicherheit zu wiegen. Und wie jedes Jahr nur ein Vorbote für größere Dinge. Du, Leser, musst keine Angst vor der Zukunft haben. Friedlich wird es hier erst zugehen, wenn ich nicht mehr da bin.

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Die Übergabe

Wenn du es so meinst, dann mach es so. Wenn du schon daran glauben musst, dann tu das, woran du glaubst. Credo hin, Kredit her, egal wie deine Meinung vor Jahren und abertausend Jahren war, tu es, verdammt noch mal.

So einfach ist das nicht, so glimpflich lass ich mich nicht über deinen Kamm scheren. Ich bin doch der schwerste Nöter von allen. Dass jetzt alles so bewältigbar erscheint, ist doch nur ein absonderliches Satyrspiel. Ein ganz fauler Trick, den man einem Tagedieb wie mir nicht einfach so unterjubeln kann, ohne dass er auf die Quelle der unvermittelten Seligkeit losgeht.

Du Schwachkopf, geh los, geh endlich weiter, aber geh nicht auf das los, was dir gut tut. Nicht auf die, die dir gut wollen. Dass deine Linie eine Weile gerade läuft, ist kein Komplott und nur dein Komplex, immer der findige Rebell sein zu müssen, hackt das Zickzack in den Verlauf, macht aus der Geraden eine Kurve, aus der es dich im letzten Moment hinausträgt. Dir geht es früh genug wieder schlecht, nimm dich in Acht, dass du das Gute auch lange genug passieren lässt und es nicht Cicero für Cicero auf seinen Ertrag hin prüfst.

Du bist mir ein ganz nassforscher Brandredner. Wie könnte ich dem Wohl der Allgemeinheit vertrauen, wenn man mich bisher stets zum Teufel gejagt hat, wenn ich um Teilnahme am Gottesdienst gebeten habe? Aus dem Lande haben sie mich gejagt, mit Schimpf und Schande und mir dafür noch Geld abgeknüpft. Ich kann ja froh sein, dass man mich nicht aufgeknüpft hat, zum Wohle deiner sogenannten Allgemeinheit. Und jetzt soll ich den Weg allen Wassers gehen, den Weg der Allgemeinheit? Den Groschen fallen lassen, den ich mein Leben lang so fest umklammert hielt? Da musst du dir schon einen Dümmeren finden.

Nur das, mein lieber Freund, wird sehr, sehr schwer werden.

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Mit der Angst zu tun

Ich hab mich immer für einen ganz harten Hund gehalten. Aber das war nur, weil ich nichts zu verlieren hatte. Jobs, Bekanntschaften, Besitztümer, von allem trennte ich mich nur allzu leicht. Du konntest mich schlagen und treten oder mich loben und hochheben, solange es mir gefiel, blieb ich. Wenn ich die Schnauze voll hatte, war ich schneller weg, als du Adieu sagen konntest. Jetzt aber habe ich eine Kostbarkeit in meinen Besitz genommen und mir geht der Arsch dermaßen auf Grundeis, wenn ich euch so ansehe. Ihr könnt mir alles wegnehmen, von einem Tag auf den anderen. Ich traue mich nicht mehr aufzubegehren, denn wenn euer Zorn alles hinfort löscht, was mich neuerdings auszeichnet, könnt ihr mich lebendig begraben, und das ohne viel Murren. Ich hüte meine Kostbarkeit, ich schütze sie, doch ich kann sie nicht beschützen, weil ich vor Angst gelähmt bin. Früher, da war ich kein Zahnloser. Da war ich ein rückhaltloser Säbler. Ein Zahntiger. Ein Widerspenstiger. Nichts, was ich besaß, bedeutete mir soviel, als dass ich es nicht riskiert hätte, um dir den Schädel abzureissen. Jetzt aber kusche ich und halt meinen eigenen Kopf hin. Damit mir niemand und aber niemand wegnehmen kann, was mich vor der Barbarei gerettet hat: den kleinen Rest Liebe in meiner Nachbarschaft. Für den interessierten Laien das Größte. Einmal in der Hand, lässt man es nicht mehr fallen. Lässt man es nicht mehr los und wird immobil und todesängstlich. Und das nur weil man etwas Gutes gefunden hat. Deshalb lässt man die Deckung oben, statt zu schlagen. Wenn das Gute Einzug gehalten hat, ist man schlecht beraten, es zu behalten. Sonst verliert man zunächst seine Sinnlosigkeit und bekommt es am Ende mit der Angst zu tun.

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Subkultur

Subkultur ist Kultur
Die unter die Haut geht
Die Feder kann man auch
Wie ein Schwert schwingen
Die Ästhethik des Widerstands
Als Lied singen

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The Downfall Chronicles

And they all pretend they’re orphans
and their memory’s like a train
You can see it getting smaller as it pulls away
And the things you can’t remember
tell the things you can’t forget
That history puts a saint in every dream

(Tom Waits – Time)

A

ls ich neunzehn war, habe ich mein sporadisch geführtes Tagebuch umbenannt. Von Tagebuch in „Downfall Chronicles“. Die Chroniken eines Untergangs. Meines Untergangs. Das war damals augenzwinkernd, aber auch ein wenig selbstmitleidig gemeint. Und doch nahm eine fortschreitende Desillusionierung damals an Fahrt auf und meine Einträge wurden von Jahr zu Jahr trister und wehmütiger. Es ereigneten sich im Grunde keine außergewöhnlichen Tragödien. Ich lernte jemanden kennen, ich lernte, mich zu verabschieden. Die wechselnden sozialen Umgebungen hielten mir einen Zerrspiegel meiner Unvollständigkeit vor, ich entfremdete ich da und wuchs dort wieder hinein. Die Menschen, mit denen ich zu tun hatte, wurden zunehmend irrer und so ging es mir auch. Ich fing an, mich zu vergiften, ich schlug alle Warnungen in den Wind und wollte ein Journalist oder ein Musiker oder so etwas werden.

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Die erste Großstadt gab mir das Gefühl, als wäre ich krank geworden und könnte nie mehr den Zustand der Gesundheit meiner Jahre auf dem Land erreichen, obwohl mich gerade die krank gemacht hatten. Die niemals enden wollenden Münchner Winter, das Ende einer langen und teuren Seelenfreundschaft und die Abhängigkeit von ein paar Worten und leeren Versprechen. Die enttäuschten Protagonisten der Medienindustrie samt ihren traurigen Curricula Vitae und ich inmitten der Haie, dabei, mir Reisszähne wachsen zu lassen. Dann die Flucht in die Mördergrube Berlin, die sich vorerst und letzten Endes als bestes Surrogat für die Heimat herausgestellt hat. All das hat mich über alle Maßen begeistert und maßlos enttäuscht. Die Jahre haben mich kaum weise, aber reichlich mürbe gemacht und wenn ich meinen Enkeln etwas über die Zeit von 19 – 31 erzählen müsste, dann dass sie mein Herz geschwärzt hat und ich mir nur allzuoft gewünscht habe, ich würde mir-nichts-dir-nichts vom Erdboden verschwinden. Die Tage zwischen den Tagen haben mir den Atem zum durchhalten spendiert. Die Leute, die aus Verblendung und dummen Vertrauen bei mir geblieben sind, haben mich dazu gebracht, bei ihnen zu bleiben.

Irgendwann vor wenigen Jahren habe ich die Downfall Chronicles einfach so beendet. Nichts war gut oder auf dem Wege der Besserung. Oh, im Gegenteil. Aber ich habe dieses lächerliche Buch der Wehwehchen genommen und es geschlossen. Keinen weiteren Satz mehr hineingeschrieben. Und nichts ist dadurch besser geworden. Lange Zeit hat sich nichts getan, ausser der Boden unter meinen Füßen auf, aber ich habe angefangen über mich selbst und mein Selbstmitleid zu schmunzeln. Erst zu schmunzeln, dann zu grinsen und irgendwann hab ich laut gelacht. Ich hab mich überhaupt nicht mehr eingekriegt, hab gebrüllt vor Lachen. Darüber, wie ich mir beinahe mein eigenes Grab geschaufelt hätte. Jedes Jahr eine große Schippe mehr. Und ich habe wieder angefangen zu tricksen und die Leute hinters Licht zu führen, statt selbst im Dunklen zu wandeln. Und ich hab mir längst selbst verziehen. Und ich hab dir verziehen. Die Downfall Chronicles sind seit Jahren geschlossen, vor dem Untergang bin ich noch eine Ewigkeit lang nicht sicher.

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Auf dem Postamt

Wenn dir langweilig ist an einem grauslich geruhsamen Sonntag-Nachmittag, dann geh aufs Postamt und du kannst deine Fantasie in Bahnen galoppieren lassen, die du dir in deinen wildesten Samstagsnächten nicht ausgemalt hättest. When you’re alone and life is making you lonely, you can always go downtown.

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Eine gute Geschichte

Aber auf die Frage, ob alles wirklich so kommen mußte,
wie es gekommen ist, gibt die Geschichte keine Antwort.
Und auf die Frage, wie es nun weitergehen wird,
ist ihre Antwort sphinxhaft. Sie lautet:
Immer ebenso und immer anders.
(Sebastian Haffner, 1972)

I

ch bin kein großer Freund von Romanen. Ich bin keine großer Freund von Monografien und faktgetränkten Historienwälzern. Vielleicht verehre ich eben aus dieser Zwitterstellung heraus mit Fug und Recht Sebastian Haffner, von dem ich nahezu alle als Buch veröffentlichten Niederschriften besitze.

Es ist nicht die Gleichgesinntheit des unbequemen Liberalen und Spötters, die ihn mir nahe bringt. Auch nicht die Selbstgefälligkeit, die ihn an mancher Stelle zum Erzähler statt zum Berichterstatter werden lässt und wobei die eine oder andere geschichtliche Ungeheuerlichkeit zur Anekdote verkommt. Es ist die fehlende Distanz zum Subjekt, die man dem Historiker so gerne als Primäranforderung an sein Schaffen in Rechnung stellt.

Dass der Historiker über den Dingen stehen muss, ist ein Etikett, das über die Jahre hinweg abgeblättert und hinfällig geworden ist. Der Siegeszug der Naturwissenschaften Anfang des letzten Jahrhunderts hat die Geschichtsschreibung in die missliche Lage gebracht, zu einer exakten Wissenschaften werden zu müssen, in der selbst der Hauch von Literatur oder Philosophie ein corpus delicti gewesen wäre. Dass die Literatur sich daraufhin gleich mit zur Wissenschaft aufgeschwungen hat, ist ein Treppenwitz der ewig minderwertigkeitskomplex-behafteten Geisteswissenschaften. Haffner scheißt spätestens nach seiner Emigration nach England auf die „neue Sachlichkeit“. Und wie auch nicht? Liegen nicht die verrücktesten Jahre hinter und vor ihm, die ein Mensch erleben kann? Vom verfinsterten Horizont am Ende des Ersten Weltkriegs bis zum nie dagewesenen Swing und Chaos der Inflation, dem Kontrollverlust in Weimar, bis zu den marodierenden SS-Banden in einem Berlin, das amüsierwillig bis zur Selbstvergessenheit und gleichzeitig gewillt war, sich in die totale Selbstaufgabe und Unmündigkeit führen zu lassen. Die Folgejahrzehnte waren nicht von minderer Bedeutungsschwere, so Haffner nach seiner Rückkehr aus dem Exil nun ein zerhacktes Deutschland vorfand. Wie also könnte er mit einer faktisch-überlegenen Gelassenheit an die Berichterstattung herangehen. Schlecht ist der Chronist, wenn er nichts vermisst, von dem was nicht mehr ist.

Haffner ist freilich auch ein Klugscheisser, Haffner ist ein Egomane und mit Sicherheit ein notorischer Nörgler, aber fernab jeglicher Bedeutung als Historiker ist er zu allererst ein erstklassiger Journalist, ein glühender Essayist, weil er das seltene Talent ausschöpft, mit Zeitgeschichte bestens zu unterhalten. Heutzutage würde man das Infotainment schimpfen und einen unangenehmen Gedanken an Guido Knopp unterdrücken, aber für deutsche Verhältnisse ist Haffner der Letterman unter den Geschichtsschreibern. Wer also wissen will, wie sich deutsche Geschiehte nicht nur abgespielt, sondern auch angefühlt hat, nähere sich bitte dem Werk dieses Mannes. Dass er der Erforschung des preußischen Wesens zu einer Renaissance verholfen hat, Schwamm drüber.

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Der Kater Virtute erklärt seinen Abgang

Nachdem ich bereits den ersten Teil „synchronisiert“ habe, darf die Fortsetzung vom neuen Weakerthans-Album nicht fehlen. Auch wenn sich anhand des weiblichen Possessiv-Pronomens im englischen Songtitel jetzt zeigt, dass der Kater offensichtlich eine Katze ist, ich bleibe beim starken Geschlecht. Die Kumpelperspektive ist mir wichtig.

Es hatte etwas mit dem Regen zu tun, der den lehmigen Dreck auf den Straßen aufsog. Und damit, wie der kleine Weg hinterm Haus nachts lebendig wurde, wenn der Halbmond mir zuwisperte: „Verschwinde von hier.“ Ein Weile hörte ich dich auf der Straße über die Bürgersteigkante stolpern und wie du deine Wut in einer unsteten Tonart in die Nacht trugst. Dieses Geräusch, das du auch immer für mich gemacht hast.

Als der Winter sich meiner Ohrenspitzen bemächtigte, fand ich dieses Zuhause voll von Tauben und Plätzen, an denen ich mich verstecken konnte. Wenn die Stimmen abends verebbten, beobachtete ich die verlassenen Maschinen, welche die Rückkehr ihrer Handhaber am nächsten Morgen herbeisehnten. Ich weiß noch, wie ich immer auf dich wartete, dass du zurückkommst mit diesem Kübel und einer Kiste Bier. Ich habe an den Containern gekratzt, nur damit ich nochmals dieses Geräusch hören konnte, das du immer für mich gemacht hast.

Nachdem ich mich mit den Wilden und dem gefleckten Kater hier gebalgt hatte, ließ ich dich mein mattes Fell streicheln und ich konnte mich an deine Brust ankneten, während du schliefst. Dein flacher Atem hat mich immer zum Schnurren gebracht. Wie ging nochmals dieses Geräusch, das du immer für mich gemacht hast? Ich hab es wohl vergessen. Wie ging nochmals dieses Geräusch, das du immer für mich gemacht hast?

(frei übersetzt nach The Weakerthans – Virtute the cat explains her departure)

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Der Rückzug

Allerheiligen bei St. Burnster

Dass ich eine Gruselgeschichte aufschreibe, ist ja nun wirklich nichts Besonderes. Dem Schrecken hab ich schon diverse Male die Stirn geboten, aber meistens umgekehrt und wenn es in die zwischenmenschliche Tiefe ging, lauerte das Grauen oft marianengrabentief und ich hab es dennoch auf diese Seite hochgelotst. Deshalb nicht erschrecken, wenn die folgende Gruselgeschichte nicht ganz so splatter ist wie das, was ich an einem normalen Wochentag auspacke.

E

s war ein empfindlich kühler Augustabend. Drinnen in den Wohnungen war es warm, fast noch heiß. Hier hatte sich die Hitze der zurückliegenden drei Monate gestaut und gehalten, während es draussen bereits wieder kalt geworden war. Wir hatten alle einen schwelenden Sommer hinter uns, in dem das Atmen schwer gefallen war. Jetzt regnete es und der Regen war nicht mehr erfrischend, sondern bereits stechend kühl. Ich hatte meine Wohnung gekündigt und trieb mich noch ein paar Tage in der alten Stadt herum, bevor ich umziehen sollte, ins inländische Ausland, in einen Moloch ohne Herz und Verstand. Zudem hatte ich Geburtstag und traf mich mit Freunden und Arbeitskollegen in einer Kneipe. Die Stimmung war recht ausgelassen, was man als Gastgeber ja immer auch als Bestätigung für die eigenen Feierqualitäten verbucht, und gegen 1 Uhr wanderten wir alle in eine nahegelegene Indie-Disko ab. Im strömenden Regen suchten wir uns ein paar Taxis zusammen und rauschten dem Regen entgegen durch die Nacht der alten Stadt. Ich fühlte mich unglaublich losgelöst von aller Verantwortung und zusammen mit der Zuneigung meiner Gäste und Freunde ergab das eine innere Zufriedenheit, wie ich sie so nur selten erlebt hatte. Es war ein Glücksfall, dass ich diese Stadt verlassen konnte, so gern ich sie auch mitunter hatte. Es war ein Glücksfall, dass ich einen Neustart woanders wagen konnte. Und es war ein Glücksfall, dass ich hier mit meinen Freunden im Taxi saß, trank und rauchte, auf dem Weg in die Indiedisko, die ich all die Jahre jedes Wochenende zweimal besucht hatte.

In dem Club zerstreute sich unsere Gruppe schnell. Es bildeten sich Grüppchen und tatsächlich auch zwei Pärchen, die es vorher in solcher Konstellation nicht gegeben hatte. Ich selbst lehnte selbstzufrieden an der Bar und unterhielt mich mit einer Arbeitskollegin. Ich kannte sie eigentlich nicht gut, mochte sie aber ganz gerne. Sie war wohl so dazugerutscht zu uns, weil ihre Abteilungskollegen alle zu meiner Party gekommen waren und sie mitgebracht hatten. Sie hieß Julia und ich kannte sie als verschlossen und ihre Unsicherheit mit Sarkasmus überspielend. Aber sympathisch zurückhaltend, wenn man die anderen hysterischen Hühner aus meiner Branche bedachte. Ich plauderte also ganz locker mit Julia über Musik in Clubs und weitere Allgemeinplätze für Indie-Nerds, als sie plötzlich fragte: „Kann ich dich küssen?“. „Klar.“, beantwortete ich ihre Frage. Und wir küssten uns und stahlen uns davon in den strömenden Regen, in meine bereits ausgeräumte Wohnung und fickten ganz vorsichtig, als würden wir uns nicht weh tun wollen. Es war so, als würden wir uns siezen. Danke, dass Sie mit mir geschlafen haben, war ich versucht zu sagen. Danach schliefen wir beide ein. Zirka zwei Stunden später wachte ich auf und der Mond schien ins Zimmer, so pathetisch das auch klingen mag. Julia lag bewegungslos neben mir, immer noch nackt, während ich mir längst eine Unterhose angezogen hatte. Sie atmete schwer und ihre Augen waren weit geöffnet. Sie starrte an die Decke.

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„Er ist wieder da.“, sagte sie, fast ohne die Lippen zu bewegen, was ich schauderhaft fand. Dann fing sie an zu weinen und drückte ihren Kopf auf meine Brust. „Er ist wieder hier. Er kommt immer, wenn ich jemanden kennenlerne.“
„Wen meinst du?“, fragte ich sie.
„Meinen toten Freund.“, entgegnete sie und sie klatschte laut in die Hände, als würde sie eine Mücke dazwischen zerquetschen wollen. „Tschuldigung,“, flüsterte sie, „das ist klingt total absurd und verrückt. Ich will dich nicht erschrecken. Er ist halt gestorben, als wir noch zusammen waren. Kommt halt manchmal zurück.“
Ich war nicht wirklich mitgenommen, irgendwie hatte der Abend sowieso einen Hauch von Ewigkeit an sich und diese Anekdote verlieh ihm noch mehr Würde. Julia weinte noch ein wenig leise in mein Kissen und schlief dann langsam und unauffällig ein. Ich lag noch wach und ich musste ihr Recht geben, da war etwas in dem Raum, was da nicht hingehörte. Und es war kalt. So kalt wie draußen. Denn obwohl meine Wohnung bis auf die Matratze leergeräumt war, lauerte da noch die Hitze des abtretenden Sommers in den Wänden. Sogar nachts. Nur jetzt nicht. Ich hätte schwören können, dass ich meinen eigen Atem sah. Eine halbe Stunde später war auch ich eingeschlafen.

Am nächsten Morgen brachte ich Julia zur U-Bahn und dann sah ich sie etliche Wochen nicht mehr, weil ich ja die Stadt verließ. Als ich Ende Oktober wieder zurück war, um ein paar Freunde zu besuchen, gingen wir in den Indie-Club, den wir auch an meinem Geburtstag besucht hatten. In der neuen Stadt hatte ich mittlerweile ein Mädchen kennengelernt und vielleicht stellte ich mich deshalb ein wenig unbeholfen an, als mir Julia begegnete und wir schweigend nebeneinander standen, weil ich nicht genau wusste, wie ich mit der Sache umgehen sollte. Nach einer Weile nahm sie meine Hand und hielt sie fest. Ein wenig zu fest für meinen Geschmack.
„Hör mal, Julia, ich will das eigentlich nicht so verbindlich sehen, auch wenn ich dich gerne mag.“
„Du blödes Arschloch. Du wirst dich noch wundern.“, lautete ihre Antwort. Sie riss sich los und lief nach draussen. Ich habe sie nie wieder gesehen, aber ich hatte noch ein paar Wochen das Gefühl, ihr toter Freund besuche mich noch in der ein oder anderen Nacht und haucht mir drohend kalt ins Gesicht. Ich bin nur noch ganz selten in der alten Stadt.

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