Hotel

Eines Abends bin ich nicht nach Hause gefahren. Auf halbem Wege kam ich an diesem hell erleuchteten Hotel vorbei und stieg ab. Von der anderen Straßenseite aus beobachtete ich das lichterlohe Gebäude in der nahezu lichtlosen Straße. Die Straßenlaternen waren hier so matt wie fast überall im Osten Berlins und die Bäume hingen finster über der Mitte der Allee. Doch das Hotel strahlte und war warm. Es erwärmte eine Herbstnacht. Eine Weile beobachtete ich es, dann ging ich hinein und nahm mir ein Zimmer. Es war schon spät, aber mein Bett war frisch gemacht und zu Tode erschöpft ließ ich mich hineinfallen.

Ich schlief bis in den nächsten Abend und als ich aufwachte, war die Straße wieder dunkel und das Hotel hell erleuchtet. Ich ging auf die Straße, um mir eine Flasche Wein und Zigaretten zu kaufen, dann kehrte ich auf mein Zimmer zurück. Es war kurios, die Straße zu betreten, denn sie erfüllte nun eine andere Funktion. War sie gestern noch mein Heimweg gewesen, so war sie jetzt bereits ein Teil meines neuen Zuhauses. Nur wenige hundert Meter weg war meine alte Wohnung und trotzdem würde ich sie nicht mehr betreten, würde nicht mehr auf der Straße vor meiner alten Wohnung umher gehen, um mir eine Flasche Wein und Zigaretten zu kaufen.

Von meinem Zimmer aus blickte ich auf die dunkle Wittelsbacherstraße und sah den einen oder anderen Spaziergänger im Dunkel Berlins herumstochern. Ich legte mich wieder ins Bett, trank Wein, rauchte und las ein Buch, das ich zufällig dabei gehabt hatte, als ich gestern auf dem Weg nach Hause gewesen war. Ich war immer noch sehr erschöpft und doch war ich zufrieden, nein, sogar glücklich war ich. Ich schlief ein und wachte am nächsten Tag am späten Nachmittag auf. Die Sonne war bereits auf ihrem Weg nach unten und ich ließ mir Abendessen aufs Zimmer kommen. Dazu trank ich Wasser und Cognac aus der Zimmerbar und rauchte eine der gestern gekauften Zigaretten. Ich öffnete das Fenster und lehnte mich auf das Fensterbrett. Die Luft war kälter, als noch vor zwei Tagen, aber sie trug in wenigen Fasern noch den Geschmack des ausfransenden Sommers.

Ich hörte auf, die Tage zu benennen, aber es muss ungefähr nach einer Woche gewesen sein, als ich sie unten auf der Straße sah. Vermutlich war sie auf dem Weg in meine alte Wohnung. Es amüsierte mich, sie von oben zu sehen. Ihr braunes Haar war vom Wind zerzaust, sie trug eine taillierte Armeejacke, einen Jeansrock und eine schwarze Strumpfhose darunter. Dazu braune Lederstiefel. Sie sah lustig aus von oben. Man sah nicht ihr Gesicht, aber man ahnte, dass sie ernst dreinblickte. Ich konnte die Form ihres Busens sehen und ihren Hintern. Sie hatte es eilig und ich sah ihr hinterher. Sie konnte ja nicht wissen, dass ich immer noch ganz in ihrer Nähe wohnte.

Meine Eltern hatten mir etwas Geld hinterlassen und ich brauchte es leichten Herzens auf. Von Tag zu Tag steckte ich das Geld in das Hotel. Nach sechs Monaten war es jedoch weg und ich musste das Hotel wieder verlassen. Ich kehrte zurück in meine alte Wohnung, in der es nach Winter roch, obwohl längst Sommer war. Ich rief meine Freunde an, aber konnte niemanden erreichen. Ich wartete vor ihrer Wohnung, aber sie kam nicht herunter. Ich klingelte, aber es öffnete niemand. Ich arbeitete ein paar Monate, den Sommer über und legte Geld beiseite. Ich war sparsam. Als sich der Herbst langsam der Stadt zu bemächtigen begann, ging ich zurück in das Hotel und ließ mich am Abend in das frisch gemachte Bett fallen.

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Die schöne Stadt

Aus den braun erhellten Kirchen
Schaun des Todes reine Bilder,
Großer Fürsten schöne Schilder.
Kronen schimmern in den Kirchen.

Mädchen stehen an den Toren,
Schauen scheu ins farbige Leben.
Ihre feuchten Lippen beben
Und sie warten an den Toren.
(aus Georg Trakl – Die schöne Stadt)

Die schöne Stadt hat ihre Schuldigkeit getan. Sie stattete uns mit allen Schauplätzen für unseren letzten Showdown aus, sie war die Bühne, auf der wir unser Stück endlich zu Ende bringen konnten. Dazu war sie gemacht. Und ich alter Narr hatte immer nach einem anderen Sinn gesucht. Nach einem besseren Leben, nach einem Zuhause. Ach wo, die Stadt hatte ihre Bestimmung und das Jahr vor unserer Zusammenkunft hatte ich Zeit, alles vorzubereiten. Die Wohnung, die Freiheit und das Verlangen. Als du hier ankamst, war dein Bett längst gemacht. Du legtest dich hinein und der Vorhang riss auf zum letzten Akt. Die Kulissen hätten nicht besser sein können.

Der verschneite Zionskirchplatz, der in den Nebel gewobene Fernsehturm, der formstrenge Dom und die ersten Frühlingsnächte am Nordstrand. Der Absinth in den Spelunken, die Spaziergänge um den Wasserturm, ach, Dickens hätte seine „Großen Erwartungen“ nicht pittoresker illustrieren können. Der Morgen des Abschieds vom Osten im Westen, an der Grenze zur Straße nach Süden, es war wie bestellt und von uns abgeholt. Die schöne Stadt bot alles auf, um uns zu untermalen in unserer Sinfonie des Untergangs. Schon bevor ich hierher gezogen bin, habe ich sie immer als eine schöne, aber traurige Stadt empfunden. Ich erinnere mich, wie ich im strömenden Regen mit dem Taxi durch lichtlose Alleen an finsteren Monumenten vorbeigerast bin, auf eine unbekannte Adresse zu ohne zu wissen, ob ich mich oben oder unten befand.

Schon damals dachte ich, dass nur diese Stadt die Kulisse zu unserer letzten Instanz sein konnte. Und so ist es dann auch gekommen. Die schöne Stadt hat uns einen Bärendienst erwiesen. Und zwar genau den, den wir von ihr erwarteten. Sie hat sich genau wie wir löblich unrühmlich verhalten und jetzt, da sie ihre Schuldigkeit getan hat, gibt es nichts mehr, worüber ich mich beklagen könnte. Wenn ich jetzt gehe, habe ich eigentlich alles von ihr bekommen, was ich wollte.

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Guten Morgen Berlin

This is where the summer ends
In a flash of pure destruction
No one wins
(Ryan Adams – Nuclear)

Verhängnis dieses Tags. Ein weißer Ball.
Die erste der Granaten. Und es steigt
Der Sturm herauf des zweiten Praerial
(Georg Heym – Marengo)

Die Sonne, die heute morgen in das Zimmer bricht, in dem wir ficken, ist keine Sonne. Es ist das gleissende Licht einer atomaren Explosion, die den Sommer abrupt beendet. Während manche noch in ihre Kissen träumen und andere bereits ihre Arbeit aufgenommen haben, ist die Stadt in einem nuklearen Blitz aufgegangen. Die Leute in Berlin haben sich noch verwundert die Augen gerieben, als sie der Blitz geblendet hat, aber bald wird es dunkel und ruhig um uns herum werden.

Gestern saßen wir noch auf einem Hügel und beobachteten die Leute, wie sie sich vermischten, wie sie lachten und debattierten. Hunde spielten um uns herum und Kleinkinder weinten, weil sie sich den Kopf beim Spielen gestoßen hatten. Die Stadt hatte sich hübsch gemacht, oder sie hatte es wenigstens versucht. Sie schickte ihre schönsten und klügsten Kinder hinaus auf die Straßen, damit sie am letzten Tag des Sommers noch einmal repräsentieren durften, worum es uns hier allen geht. Eine Bedeutung zu finden für das eigene, in der Relation vollkommen bedeutungslose Leben. Und so gingen sie alle noch einmal an die frische und sonnendurchtränkte Luft des letzten Sommertags und zeigten, wie bedeutungsvoll sie waren. Die Frauen ihre Beine, die Männer ihre Schultern, es war das letzte Schaulaufen dieses Sommers. Und wir saßen auf dem Hügel und schauten zu.

Später gingen wir aus und tanzten. Wir tranken uns schwindlig und bevor die Sonne wieder aufgehen konnte, lagen wir in deinem Bett und schliefen miteinander. So lange bis draussen das Licht anging, aber es war nicht das Licht des beginnenden Tages.

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Medizin und Alkohol

Schlafe morgens angetrunken ein
Um möglichst lange nirgendwo zu sein
(Nationalgalerie – Ruhe vor dem Sturm)

Of the demonstrably wise there are but two:
those who commit suicide,
and those who keep their reasoning faculties atrophied by drink.
(Mark Twain)

Ich sitze am Ufer der Halbinsel Stralau und schaue aufs Wasser. Ein Pärchen liegt neben mir im trockenen Gras und albert herum. Ich schreibe eine Kurzmitteilung mit den Worten „Ich habe schöne Stellen am Wasser gefunden. Du musst unbedingt noch diesen Sommer kommen.“ Ich brauche eine Ewigkeit für den Text, meine Finger zittern und ich kann mich nicht konzentrieren. Mein Kopf schmerzt und mein Magen hat sich längst auf die Seite der Rebellen geschlagen. Er ist jetzt in derselben Mannschaft wie mein Schädel, meine Zähne und meine Haut.

Ich kann mich gar nicht ordentlich an die letzte Nacht erinnern. Wir sahen die Fußball-Europameisterschaft in einem Biergarten mit aufgeschüttetem Sand. Ist das dann eigentlich ein Bierstrand? Wir haben soviel Schnaps getrunken, weil wir direkt neben der Außenbar saßen. Jägermeister, Wodka, Tequila und dazwischen ein paar Bier zum Runterkommen. Ich weiß nicht einmal mehr genau, wer gespielt hat. Schweden war dabei. Holland vielleicht. Anschließend fanden wir uns in einer heruntergekommen Bar in Friedrichshain auf dem Sofa wieder. Ich kaufte meine zweite Schachtel Zigaretten an dem Tag. Wir waren eigentlich zu besoffen, um uns zu unterhalten. Eine rothaarige Norwegerin nahm mir meinen Hut vom Kopf. Der alte Witz. Ich kam beim Schnapsholen an der Theke mit ihr ins Gespräch und wir küssten uns irgendwann. Ich weiß nicht mehr, wann ich nach Hause ging. Die Norwegerin war nicht dabei. Es muss gegen fünf gewesen sein. Bevor ich einschlief, las ich noch einmal den Brief von ihr mit der glitzernden Isar und den Fotos aus den Passbildautomaten. Sie mit der weißen Sonnenbrille. Wie hübsch, wie traurig. Der Fernseher lief, als ich gegen acht einschlief. Der nächste Morgen war ein Mittag, ich zitterte am ganzen Körper, nahm drei Paracetamol und setzte mich auf einen Kaffee mit Milch vor ein Straßencafé. Danach bestellte ich ein Alster und nahm ein Antibiotikum für meine kaputte Haut. Ich stieg aufs Fahrrad und fuhr ans Ufer.

Während das Pärchen sich ganz auszieht, nackt in die dreckige Spree springt und zur Insel der Jugend schwimmt, warte ich auf eine Antwort-SMS von ihr. Ich gehe zum Supermarkt und kaufe eine Flasche Gin. Zuhause schreibe ich eine Email an sie und spiele Gitarre auf dem Balkon. Der Tag ist endlos. Ich werde müde und lege mich hin. Als ich aufstehe, habe ich Kopfschmerzen, aber es ist immerhin abends. Ich nehme zwei Paracetamol und setze mich zu meinem Mitbewohner in die Küche. Ich erzähle von ihr, ich kann nicht aufhören, von ihr zu reden und wir machen uns Gin & Tonics mit dem Gin, den ich gekauft habe. Dann sehe ich fern, trinke weiter Gin & Tonic und wir treffen uns eine Stunde später wieder, um Fußball schauen zu gehen.

Obwohl es schon fast 9 Uhr ist, weicht die Hitze nicht aus den Straßen des Viertels. Die Hundescheisse dampft noch von dem heißen Nachmittag und die Punks und Hausbesetzer in der Straße sitzen auf zerfledderten Sofas und hören Abwärts aus einem schwarzen Ghettoblaster. Immer noch keine Antwort von ihr. Ich rufe die Norwegerin an, aber sie hat keine Zeit. Mein Mitbewohner und ich trinken ein paar Bier zum Fußball und ich bekomme langsam wieder Kopfschmerzen. Dafür zittere ich nicht mehr, wenn ich die Hand ausstrecke. Ein paar Freunde kommen hinzu und wir trinken Cuba Libre. Ich kaufe eine neue Schachtel Zigaretten. Griechenland gewinnt schon wieder. Noch immer kein Lebenszeichen von ihr. Sie ist im Ausland. Vielleicht hat sie meine SMS nicht empfangen. Ich schreibe eine Nachricht und das Tippen dauert eine kleine Weile, weil ich mich nicht konzentrieren kann. Ich schreibe: „Betrunken aber bei Besinnung: Du fehlst Berlin. Und mir.“ Nach dem Fußball gehen wir in eine Kneipe und ich gebe Flyer unserer Band an fremde Mädchen. Ich kann ihre Gesichter zum Teil gar nicht erkennen. Ich spiele Kicker und verschütte mein Bier.

Ich gehe nach Hause und auf dem Nachhauseweg trete ich Mülltonnen um. Zuhause kann ich nicht schlafen, obwohl ich betrunken bin. Ich höre „Gentle Moon“ von Sun Kil Moon, ungefähr achtmal im Repeat Modus. Der Song hört irgendwann nicht mehr auf. Ich lege mein Mobiltelefon neben das Bett, damit ich höre, wenn eine SMS kommt. Ich kann nicht schlafen. Ich habe Kopfschmerzen. Ich nehme noch zwei Paracetamol und gehe auf den Balkon. Unten in der Straße schlagen sich zwei Punks ins Gesicht. Einer blutet, aber er schubst den anderen gegen die Wand. Die beiden werden von anderen Punks getrennt. Ich lege mich ins Bett und schlafe. Nach drei Stunden wache ich wieder auf und habe Kopfschmerzen. Ich nehme zwei Paracetamol.

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Es gibt ein Licht

And if a double-decker bus
Crashes into us
To die by your side
Is such a heavenly way to die
And if a ten-ton truck
Kills the both of us
To die by your side
Well, the pleasure, the privilege is mine

(The Smiths – There Is A Light That Never Goes Out)

Damit hier nicht alles den Bach runtergeht und sich am Ende noch Amokläufer, Selbstmörder und Selbstmordattentäter auf die sinistren Auswürfe dieser Publikation berufen und mich verklagen, folgt hier ein Text über erfüllte Liebe, über die furchterregende Schönheit eines Gewitters und die architektonischen Schnapslaunen von Leo von Klenze und Ludwig I. von Bayern. Gestern habe ich nämlich ein altes Tagebuch durchgeblättert und ich fand diesen Eintrag:

Odins Zorn lässt Regensburg in einem Göttergewitter erzittern. T. ist weit weg in Florenz und der Himmel weint mit mir Tränen der Sehnucht.

Pfui, ein geradezu grauenvolles Zeugnis abstoßenden, studentischen Pathos. Und doch weckt es die Erinnerung an einen Abend vor vielen Jahren, den ich als nahezu mythisch im Gedächtnis behalten habe und der tatsächlich eine halbwegs arrivierte Liebe propagiert. Man höre und staune:

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(Illustration geklaut von der Website der Asociación Centro Arquitectura Metropolitana)

Es war ein seltsamer Abend. Du warst in Urlaub mit deiner damals besten Freundin, einem affektierten Etepetete Chefarzttöchterchen, einer ausgemacht blöden Kuh. Ich war strikt dagegen, dass du ohne mich in Urlaub fährst, aber was hätte ich tun sollen? Du hast doch sowieso immer deinen Kopf durchgesetzt. Und fast hätte ich dich verlassen, weil wir uns immerzu in den Haaren hatten und du so ein naives und trotziges Ding warst. Ich konnte mich gerade noch entschuldigen, bevor du abgereist bist. Es waren die zwei heissesten Wochen im Sommer und es war die Blütezeit meiner studentischen Clique. Wir absolvierten vormittags einen Übersetzungskurs mit Al Gores Buch zur Rettung der Welt, mittags tranken wir in der Mensa unser erstes Bier. Danach in der Cafeteria noch ein Hefeweizen hinterher und schlussendlich versammelten wir uns bei Flo in der Wohnung, sahen Star Trek: The Next Generation und nahmen Haschisch per Wasserpfeife ein. Abends gingen wir in den Biergarten, dann in die Kneipe und eigentlich blieb nicht viel Zeit, dich zu vermissen, obwohl ich dich so liebte und Angst hatte, dass wir uns über den dummen Urlaub aus den Augen verlieren könnten.

Einer aus unserer Studentenpunker-Clique besaß damals einen Bus und mit dem fuhren wir eines warmen Abends aus der Stadt auf die Walhalla. Außerhalb der Stadt, hoch oben über der Donau hatte Ludwig der Erste nämlich einen Parthenon hingestellt, mit einer korinthischen Säulenordnung wie man sie in ganz Griechenland nicht in dieser Manier findet. Ein Koloss von einem Bauwerk, hoch oben auf einem bewaldeten Hügel über der glitzernden Donau. Von dort aus konnte man die fast sprichwörtlichen Lichter der Stadt sehen und so bedrohlich alleine und abgeschieden man auch in Winternächten dort oben war, so übervölkert war das Plateau im Sommer. Scharen von nachtlebenden Freizeitschärlern machte es sich hier oben im Sommer bequem mit Bier, Bong und Bongos und auch an jenem Abend waren wir weiß-Odin nich die Einzigen, die sich der bayerisch-griechischen Variation der nordischen Mythologie mit einem Kasten Kneitinger näherten. So weit, so witzig. Doch während wir da saßen und darüber nachdachten, ob wir jetzt für den Rest unseres Lebens bei unseren Freundinnen bleiben würden und nebenbei Schulkinder unterrichteten, zog ein Unwetter im Süden auf, das nicht nicht nur sich sondern bald auch uns gewaschen hatte. Die Blitze sah man bereits viele Kilometer entfernt und das anrollende Grollen verhieß nichts Gutes ausser man tat es und verschwand schleunigst in eine Kneipe oder nach Hause.

Doch wir blieben sitzen und ließen die Gewitterfront auf uns zukommen. Wir fühlten uns besonders an jenem Abend. Ich musste an dich denken und wie du vermutlich grade mit der dummen Katharina über die Ponte Veccio spaziertest und dir die italienischen Jungs lautstark mit ihren Rollern nachstellten. Irgendwann wurde es stockdunkel und ein kühler Wind fing an, durch die korinthische Säulenordnung zu fegen. Es fing an zu regnen und wir packten unser restliches Bier zusammen, stiegen in den Bus und machten uns auf den Weg zurück in die Stadt. Plötzlich gab es einen ohrenbetäubenden Knall und mit einem Mal entfesselte das Gewitter eine Gewalt, wie wir sie nicht selbst Angesichts dieser gewaltigen Wolkenfront nicht für möglich gehalten hatten. Der Regen verwandelte sich in rauschende Fluten, die in wenigen Sekunden die Sicht auf die Straße unmöglich machten und wir im Schritttempo dahin kriechen mussten. Im Kassettenrekorder lief „William“ von Into Another und dieser andere Song über eine verendende Großstadt-Existenz, „Drowning“. Und die morbide aber wunderschöne Ballade „Two Snowflakes“. „William“ war ohnehin ein unangenehm geisterhafter Song und im Kontext dieses Jahrhundert-Gewitters ließ er uns das Blut oder vielmehr den Alkohol in den Adern gefrieren.

And I understand, truth lives in a house on the borderland. Love rules the nightland and ghost pirates wait at sea for me.

Mir schaudert heute noch, wenn ich den Song höre. Ich empfand diese Nacht als ungeheuer bedeutsam und ich tue es heute noch. Und du warst nicht da, um diese Ungeheuerlichkeit mit mir zu teilen.

Der Regen hörte auch nicht auf, als wir zurück in der Stadt waren. Es schien, als wolle er überhaupt nicht mehr aufhören. Ich musste mein Auto noch nach Hause bringen und als ich hoch fuhr, zum höchsten Punkt der Stadt, neben dem Fernsehturm, dort wo ich wohnte, sah ich zwei Mädchen in Badeanzügen auf der Straße stehen und winken. Sie waren sehr hübsch, so weit ich das im strömenden Regen beurteilen konnte. Sie wollten wohl mitfahren, doch ich war zu konsterniert, um zu halten. Zudem hatte ich nur noch wenige Meter bis zu meinem Haus und die Mädchen wollten sicher raus aus der Stadt. Immerhin war es nach Mitternacht. Zuhause lag ich wach und malte mir die verrücktesten Szenarien aus, was passiert wäre, wenn ich die beiden mitgenommen hätte. Vielleicht hätte ich mich in eine verliebt und wenn du aus dem Urlaub zurückgekommen wärst, hätte ich dir gesagt, dass es aus sei. Warum musstest du auch ohne mich in Urlaub fahren? Während ich auf meinen Schlaf zudämmerte und draussen der Regen gegen das Fenster prügelte, klingelte plötzlich das Telefon. Ich erschrak und riss den Hörer förmlich von der Gabel. Du warst dran und du wolltest mich sprechen, weil du an mich denken musstest und die Nacht so besonders sei. Es sei dir völlig klar, dass du zu mir gehörst und du vor Sehnsucht an mich schon Bauchschmerzen hast. Es sei das größte Gefühl deines Lebens, mit mir zusammen zu sein. Und wie du mich vermisst und dich auf deine Rückkehr freust. Ich war gerührt und während sich draussen das Gewitter langsam entfernte, aber der Regen noch bis zum Morgen blieb, während der Sommer sich weiter übergab, währenddessen schlief ich tief und fest und träumte von der einen großen Liebe.

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Gegen den Regen

Während die Stadt schläft, stehe ich wach am Fenster und sehe auf die Häuser gegenüber. Ich schlafe kaum. Schlaf ist zum Luxus verkommen. Manchmal wenn ich Fieber habe, dann schlafe ich, um gesund zu werden. Sonst schlafe ich kaum. Mein Kreislauf ist schwach, obwohl ich ständig in Bewegung bin. Kalter Schweiß benetzt den ganzen Tag meinen Körper. Es ist geruchloser, schwerer, kühler Schweiß, wie nach einem Fieber. Einst war ich mir sicher, dass man – egal was passiert – nicht seine Seele und nicht seine Liebe zu den Dingen verlieren kann. Doch das hat sich relativiert. Es ist schwarz in mir drin geworden. Doch ich erinnere mich an eine Zeit des Aufbäumens gegen die Schwärze und den kalten Schweiß.

Ich war auf der Autobahn und vor mir fuhr ein LKW. Es war nass, kalt und dunkel. Das blaue Licht meiner Amaturen schien auf meine Hände, die das Lenkrad festhielten. Der LKW vor mir war lange Zeit das Einzige was ich in der Dunkelheit erkennen konnte. Es war ein Oktoberabend – es war nicht einmal Nacht – und ich war auf dem Weg zu meinen Eltern, den ganzen Weg, all die Stunden durch ein im Oktoberregen vergehendes Deutschland. Als ich an einer Raststätte hielt, roch ich kurz an einem der letzten Luftfetzen des Sommers. Doch die Luft war schon längst vergiftet von den Schwaden des aufziehenden Winters. Wie eine Absperrung umgaben sie das Land und hielten es für Monate fest. Monate, die mir wie ein ganzes Jahr erschienen. Der LKW vor mir fuhr schnell, so schnell, dass ich mich nicht traute, ihn zu überholen. Irgendwann kamen wir zwei Nebelscheinwerfer entgegen. Ich war nicht sicher, ob es auf meiner Hälfte der Autobahn geschah oder auf der Gegenfahrbahn. Ich weiß, dass ich nie grellere Nebelscheinwerfer sah als in dieser anbrechenden Oktobernacht auf einer deutschen, stockdunklen Autobahn. Ich schloss für einen Moment die Augen und als ich sie wieder öffnete, sah ich wie der LKW die Leitplanke streifte und anschließend ins Schleudern geriet. Er kippte und raste auf der nassen Autbahn quergestellt über den Asphalt. Mein Abstand war groß genug. Ich musste nicht einmal scharf bremsen. Langsam und neugierig fuhr ich dem ausser Kontrolle geratenen Monster hinterher. Schnell kollidierte der LKW in einer Kurve erneut mit der Leitplanke und riss ein Loch in die Absperrung. Hinter der Leitplanke ging es einen Hang hinauf, was verhinderte, dass der LKW die Fahrbahn verließ. Wie ein erlegter Elefant lag er jetzt in dem tiefschwarzen Regen und dampfte vor sich hin. Ich war auf dem Standstreifen zirka 20m dahinter stehen geblieben und saß mit zitternden Händen in meinem Auto. Das blaue Licht der Amaturen leuchtete mich an und außen suchte mein Fernlicht den verunglückten LKW. Ich blickte auf den hilflosen Blechtorso, wie er da leblos lag und stieg aus. Ich näherte mich der Unfallstelle, man hörte nichts außer dem Regen und keine Autos kamen. Es war zu dunkel um etwas in dem LKW zu erkennen. Das Führerhaus lag von mir weggekippt. Ich sah, dass Benzin auslief und ich nahm mein Feuerzeug und zündete ein Taschentuch an. Ich verdeckte es mit meiner Jacke, damit der Regen es nicht auslöschte, dann warf ich es auf die Benzinspur. Ein matte Flamme entzündete sich und setzte sich ein paar Meter fort. Sie brannte nicht lange, nur ein paar Minuten, bevor der Regen sie ausmachte. Doch sie war das Schönste was ich seit Langem gesehen hatte. Das einzige echte Licht an diesem tiefschwarzen verregneten Abend. Ich starrte auf die aus dem Benzin schlagenden Flammen und fühlte mich vollständig. Mit der Erinnerung an diese Flammen, die für einen Moment dem kalten, brutalen Regen trotzten, konnte ich den drohenden Winter überstehen. Ich stieg zurück in den Wagen und drehte. Nach ca. 500 Metern Geisterfahrt gelangte ich an eine Ausfahrt. Ich war keinem weiteren Fahrzeug begegnet. So fuhr ich weiter durch Deutschland, nach Hause zu meinen Eltern.

Und wie in vielen Nächten zuvor stehe ich am Fenster und lausche dem kalten, stechenden Regen, wie er den Rest des Sommers aufspießt. Ich schaue auf die Häuser gegenüber und sehe wie Lichter an- und ausgehen. Ich habe kein Auto mehr. Wie gerne würde ich jetzt ins Auto steigen und die vielen hundert Kilometer nach Hause zurücklegen, durch ein dunkles Deutschland. Immer in der Hoffnung noch einmal einem strauchelnden LKW zu begegnen. Und in ihn hineinrasen, in einer Explosion, die weit über die Wälder zu sehen ist, eine Explosion, die den Regen verdampfen lässt und die Nacht erhellt.

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Brick Lane

Als wir die Brick Lane entlang gehen, weht uns der Rauch der Barbecues aus den Innenhöfen um die Nase. Bierkrüge geraten aneinander und die Straßen sind verstopft mit burlesken East-Endern und neureichen Afterwork Arschlöchern. Der Sommer gibt heute abend sein erstes Gastspiel in London. Ich habe das Mädchen aus Litauen von der Arbeit abgeholt und sie hat mir ihre hochhackigen Schuhe in die Sporttasche gesteckt und ist in Ballerinas geschlüpft. Sie ist unmöglich geschminkt und jedes zweite Wort ist „wicked“, aber ich mag sie, weil sie eine leise Ahnung davon hat, wie man jemand das Gefühl gibt, er sei am richtigen Ort, ohne dass er es ist. Und ich mag ihr Parfüm, auch wenn es viel zu viel ist. Ich habe es schon am Flughafen Luton gerochen, hundert Kilometer weit weg von der Innenstadt. Ich fühle mich wohl hier, der Ort meiner schlechten Träume ist zu einem guten Ort geworden.

Zuvor war ich den ganzen Tag durch die Stadt gelaufen. Immer an der Themse entlang, über die Tower Bridge durch Regen und Wind bis der Tag in einer sonnigen Dämmerung verebbte und ich in der Brick Lane ankam. Es war noch nicht dunkel, aber die Lichter gingen an und es waren viele. Ich ging bis zur U-Bahn Station Shoreditch und von dort beobachtete ich ein Flugzeug, das im Tiefflug die Brick Lane in Richtung Old Spitalfields Market überquerte, über die alte Christ Church hinweg. Ich konnte dich sehen, dich hören, dich riechen. Du hast deine auralen Spuren hier hinterlassen. Es war fast, als könnte ich deinen Geist sehen, wie er durch die Brick Lane irrt auf der Suche nach dem Echtesten aus deinen ganzen englischen Gefühlen. Mir war, als würde dich jeder hier kennen, aber du warst weg. Ich habe London gehasst, das East End, die Brick Lane. Sie haben dich von mir abgelenkt.

Und dann stand ich da inmitten der Brick Lane und die Trümmer meiner Erinnerung an deine Berichte aus London fügten sich zu einer Szenerie zusammen. Eine Szenerie voller Musik, voller Freunde. Die Drogen und Eitelkeiten, die Psychosen, die Messer im Bettkasten deiner Mitbewohnerin, der ganze neue Sex, die schwarzen Nächte, all das fügte sich den Gesetzen des East Ends. Und das hatte sich für Gastfreundlichkeit enschieden. Es hatte beschlossen, dich aufzunehmen. Dich und deine Freunde. Dich und deine neuen Freunde. Und jetzt nahm es mich auf. Müde und mittellos war ich nach London gekommen und hatte den ganzen Tag gesucht. Von West Kensington über Notting Hill über die Oxford Street und Covent Garden runter ans Wasser, die Themse entlang bis ich ankam. Und dann stand ich unter all den Fremden und konnte dich sehen, wie du eine von ihnen warst und nicht eine von uns und ich fand das Gleiche, was du vor genau zwei Jahren hier vorgefunden hattest. Ich fand meinen Frieden. Und Sufjan Stevens sang „All Things Go.“ Ich und du, wir waren uns das erste Mal einig, obwohl wir uns längst nicht mehr trafen.

Stunden später hole ich das litauische Mädchen und ihre Schuhe von dem Friseur und wir gehen durch die Brick Lane. Ich habe verschwiegen, dass ich heute schon einmal hier war. Ich habe verschwiegen, dass ich dich fast angerufen hätte, hätte ich deine Nummer noch besessen. Ich verschweige, dass ich einfach nur gerne hier sitzen will und rauchen. Doch ich bin ihr Gast und sie führt mich herum. Wir treffen einen Freund von ihr, der in leeren Häusern wohnt. Wir gehen in eine volle Bar und trinken Weißwein. Ich schlafe tief und friedlich in dieser Nacht und träume von einem Haus in der Brick Lane, in dem wir wohnen. Am nächsten Tag geht das litauische Mädchen früh zur Arbeit, ich packe mein Zeug und verlasse ihr Haus, fahre zu jemand in der Vorstadt und komme nicht mehr zurück.

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Die Auflösung

Unsere Freunde sind fort
vielleicht haben wir sie gar nicht gesehen, vielleicht
sind wir ihnen begegnet als noch der Schlaf
uns nah an die atmende Welle trug
vielleicht suchen wir sie nur weil wir das andere Leben suchen
das Leben jenseits der Statuen

(aus Giorgos Seferis – Wir kannten sie nicht)

Vor Jahren dachte ich, dass ich mich auflöse. Die Indizien dafür waren tatsächlich vorhanden. Ich brach aus einem sozialen Umfeld heraus, ich wurde kaum mehr wahrgenommen. Ich vergaß Dinge und Personen und Personen und Dinge vergaßen mich. Meine Pläne waren gescheitert, es gab keine Alternativen. Die Feuerleitern waren vom vielen Herauf- und Herunterlaufen rostig und brüchig, praktisch unbrauchbar. Meine Freizeit verschwand und den Teil, der blieb, trank ich in die Nonexistenz. Ich schlief jeden Tag angetrunken ein und verbannte so alle Träume aus meiner Nacht. Morgens wachte ich angetrunken auf und fügte mich ein in einen anonymen Alltag.

Ich war tatsächlich dabei, mich aufzulösen. Mit einer Idee fing es an. Zuerst löste sich diese Idee auf, dann begann mein Körper mitzuziehen. Meine Haare wurden grau und brüchig, meine Augen müde und farblos. Sie war in die Sonne gegangen und hatte mich in einem ewigen Januar zurückgelassen. Einem Januar, dessen ruchlose Kälte ans Bett fesselte und die Muskeln lähmte. Ich zählte die Tage bis zu meiner endgültigen Auflösung. Viele konnten es nicht mehr sein. Ich tippte auf ca. 600. Jeden Tag war ich ein bisschen weniger, ein bisschen mehr in die Nonexistenz vorgerückt. Es würde eine Art buddhistische Loslösung sein. Ich würde einfach aufhören zu existieren. Keine Bedrohung für Leib und Leben, kein Selbstmord, keine trauernden Angehörigen. Einfach aufhören. Die Mär vom friedlichen Einschlafen konnte mir gestohlen bleiben. Einfach aufhören, ohne Umstände, ohne Aufwand. Niemand, der meine Reste beseitigen musste.

Heute bin ich immer noch da. In letzter Sekunde hast du den Auflösungsprozess gestoppt. Wie du das gemacht hast? Ich weiß es nicht mehr genau. Wir waren bei deinen Eltern und du warst plötzlich eine Tochter, statt einer Verrückten. Wir sind mit deinem Hund ins Moos gewandert. Die Berge und das scheidende Licht der Samstagssonne. Der dämliche Dalmatiner hat den halben Fluss umgegraben. Dann hat er uns angelächelt. Ich habe soviel Fotos mit meinem Gedächtnis geschossen. Bis der Speicher voll war. Die schönsten hab ich entwickeln lassen. Eins, wo du neben dem Hund gehst, mit deinem tollen Hintern und deinen unglaublichen Haaren, hab ich aufgehängt. Gleich neben dem Bild mit der Sonnenbrille. An diesem Nachmittag hab ich aufgehört, mich aufzulösen und gleichzeitig wieder damit angefangen.

Es war nicht unkompliziert. Während einige Gedächtnislücken geschlossen wurden, fiel der Verfall mich erneut am anderen Ende meines Seins an. Es hat Zeit gebraucht, bis ich merkte, dass ich dieses Mal nicht selbst schuld war. Meine eigene Auflösung hast du gestoppt, aber mich gleichzeitig mit deiner infiziert. Es hat viele Monate, vielleicht sogar Jahre gedauert, bis wir miteinander schliefen. Du wolltest es sehen, wie es aussieht, wenn wir uns vereinigen. Zwei Halbexistierende, zwei Semiwesen. Danach bist du weg. Du wolltest nicht, dass ich dich so sehe, so halb, so nahezu verschwunden. Und dann ging es schnell bei mir. Ich konnte nun nicht mehr leugnen, dass bereits Teile von mir fehlten. Nachdem die Zugehörigkeit zu der Stadt verloren ging, verlor ich an Halt und ein stetig wiederkehrendes Fieber suchte mich heim. Viele meiner Freunde hörten auf, sich an mich zu erinnern. Sie heirateten und besannen sich auf ihre Familien. Ich hingegen streckte die Hand nach dir aus, aber deine Auflösung war bereits zu weit fortgeschritten, du warst nicht mehr genügend vorhanden, um meine Hand zu nehmen.

Jetzt liege ich da und mit dem abtretenden Sommer verliert nicht nur das Licht seine Konsistenz. Ich tippe mal, ich habe noch bis Dezember, bevor ich weg sein werde. Es ist in diesem Stadium kein unangenehmes Gefühl, weil man bereits zuviele Ideen eingebüßt hat, so dass man sich nicht aufbäumt. Süßlich und anziehend erscheint es mittlerweile, das Verschwinden. Deine Auflösung ist zu meiner geworden. Und vielleicht ist das besser, als einfach so Lebewohl zu sagen. An der Krankheit des anderen zu Grunde zu gehen, ist die letzte große Romanze dieses sterbenden Sommers.

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Stilles Licht

Der Schlaf umhüllte dich, wie ein Baum, mit grünem Laub
du atmetest, wie ein Baum, im stillen Licht
in der klaren Quelle betrachtete ich dein Anlitz:
die Lider geschlossen und die Wimpern streiften das Wasser.
Meine Finger fanden im weichen Gras zu den deinen
ich hielt einen Augenblick lang deinen Puls
und spürte von fern das Weh deines Herzens

(Giorgos Seferis)

Es ist windig, als ich in die mir noch unbekannte Straße einbiege. Ich bin einfach losgelaufen, nach Wochen der Krankheit und des Fiebers. An meinem ersten Tag nach der Krankheit, als ich gerade wieder stehen konnte, bin ich losgelaufen. Ich bin losgelaufen, hinein in die Straßen meiner Stadt. Ich habe die bekannten Straßen benutzt, damit sie mich zu den unbekannten führen.

Und jetzt biege ich in diese Straße ein und es ist windig, als sie mich diesem über allem thronenden Hochhaus entgegen führt. Die Fassade ist grau und abgenutzt, das Dach ist flach und unerreichbar und es ist ein Turm, mehr als ein Haus. Als ich auf der schmalen Terasse vor dem Turm stehe, sehe ich Menschen mit Verbänden und Bademänteln. Sie rauchen. Sie stehen. Sie sitzen. Sie bewegen sich, aber niemand lebt. Der Wind weht ihnen durchs Haar. Es ist ein kühler Wind. Ich gehe an ihnen vorbei und versuche, sie nicht zu beachten. Ich bin etwas erschöpft von dem langen Spaziergang, ich bin etwas erschöpft von meiner langen Krankheit. Die Empfangshalle ist voller Hinweisschilder und Warnungen. Es gibt einen kleinen Zeitschriftenladen. Ich gehe über die Treppe in den dritten Stock. Enge weiße Gänge treiben mich vorwärts, nur selten kreuzt ein Pfleger meinen Weg. Es ist still, aber es ist hell. Die weißen Wände führen mich im Kreis herum. Nach einer Weile verliere ich das Gefühl für die Weile und bekomme das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Ich suche die Treppe zur Empfangshalle. Im Treppenhaus ist es etwas dunkler. Ich sehne mich nach etwas Dunkelheit.

Auf meinem Weg nach Hause, sehe ich ein Mädchen, das mich an dich erinnert. Ich wechsle die Straßenseite und stehe neben ihr an der Ampel. Wir könnten jetzt sprechen, aber das Licht wechselt und wir gehen, bevor sich unsere Richtungen verlieren. Ich bin noch nicht gesund genug, ich muss noch einmal zurück in die Matratzengruft. Nur ein paar Tage noch schlafen. Es ist immer noch hell draußen, als ich meinen Blick auf die weiße Decke richte und die Augen schließe.

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Don’t Fear The Reaper

Fürchtest du den Wechsel der Jahreszeiten, dann fürchtest du den Wechsel im Allgemeinen. Dann fürchtest du den Tod, dann fürchtest du dich selbst. Das denke ich, als ich mit dem Fahrrad durch das Dunkle rase, ohne darauf zu achten, wohin es geht. Ohne darauf zu achten, worum es geht, wenn ich blind in die Dunkelheit schieße.

Ich denke an den einen, den tödlichen Sommer, den wir nur überlebten, weil wir die Stadt verließen. Ich denke an den Geruch von Tod, der den ganzen Sommer lang in der Luft hing. Dieser süßliche Verwesungsgeruch, an den wir uns fast gewöhnt hätten. Ich denke daran, wie sehr wir zusammenhielten und uns um den anderen sorgten. Wir zogen uns an den Haaren durch die glitzernden Wochen an den gefährlichen Ufern der Isar. Und als es kalt wurde, aber die Hitze nicht mehr aus den Steinen der alten Stadt wich, gingen wir weg, so heimlich wie wir gekommen waren.

An deinem letzten Abend warst du ganz ruhig. Ungewöhnlich besonnen. Man konnte sehen, dass dich deine Furcht verlassen hatte. Ich war krank am morgen meiner Abreise. Wir trafen uns wieder in diesem Koloss aus Staub und Stein und gingen gemeinsam getrennte Wege. Immerhin hatten wir uns das Leben gerettet, das reichte für einen Sommer. Diesen einen tödlichen Sommer, der sich in einen tödlichen Herbst verwandelte, in einer anderen, noch viel gefährlicheren Stadt. Und doch fürchte ich nicht den Wechsel der Jahreszeiten. Ich sehne ihn herbei. Ich fürchte weder Tod noch Teufel, wie man so schön sagt. Ich fürchte nur den Stillstand, er ist es, der mich wie ein Besessener durch die blinde Nacht rasen lässt, in der Hoffnung, endlich meiner Angst zu begegnen.

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