Das falsche Tagebuch: 6. Oktober 2017

Selten so viele Defizite an mir festgestellt, wie im letzten Jahr. Oder noch schlimmer: gemerkt, die man immer noch in alten Defiziten verhaftet ist, von denen man dachte, man hätte sie abgelegt. Oder noch schlimmer: wie man wieder in alte Defizite zurückgefallen ist.

Gestern bei dem Sturm kam ich grade aus Blade Runner, auf den ich mich nicht so gut konzentrieren konnte, weil ich eine dysphorische Beziehungssituation per SMS klären wollte. Als ich an der S-Bahn stand und immer mehr Leute kamen und immer mehr Leute wieder gingen, überkam mich wieder dieses Gefühl, dass ich absolut nichts mehr unter Kontrolle habe. Ich reservierte schnell das einzige Drive-Now-Auto in der Gegend und rannte los. Draußen flogen Zweige an mir vorbei – ich war am Potsdamer Platz wohlgemerkt. Ich saß dumm in diesem Mietauto und vergaß, wie ich es starte. Das Gefühl, nichts mehr kontrollieren zu können, noch nicht einmal das dämliche Auto.

Meine Tochter ist schwer erkrankt und wird vielleicht in näherer Zukunft sterben, das hätte mich die Illusion von Kontrolle eigentlich aufgeben lassen können, aber es ist ja das Katastrophenmanagement, was dann übernimmt. Irgendwann startet das Auto, denn es liegt ja nur an meiner panischen Dummheit, dass es nicht fährt. Ich kreise ums Mall of Berlin, sehe wie Leuten beinahe davonfliegen und bin verwirrt und vulnerabel und sonstwas. Langsam erkenne ich den Weg zurück in meine Straße und stehe zwar im Sturmstau, weiß aber jetzt wieder, wo ich hin muss. Ein bisschen Kontrolle ist da wieder. Während ich fahre, denke ich darüber nach, wie defizitär ich bin. Eine Katastrophe wie die Krankheit bringt ja oft das Beste im Menschen hervor, sagt man. Man sagt auch, er lernt, den Moment zu schätzen. Meine Katastrophe bringt vor allem hervor, wie viel Angst ich habe, alles zu verlieren. Wie ungeduldig ich bin, wie wertend, wie rastlos, wie panisch, noch mehr Kontrolle zu verlieren.

Die Ehe hat’s zerbröselt im Jahr der Therapien und Bestrahlungen, ich wohne jetzt ein paar Häuser weiter weg von Daheim und die Kinder machen mir plötzlich Mühen, vorher waren sie oft der beste Zeitvertreib. Ich habe eine neue Freundin, die mir Dinge beigebracht hat, wie ich sie nicht mehr dachte, lernen zu können, aber ich bin zu nervös für Beziehungen, ich bin zu nervös für das ganze Leben. Meditieren hilft mir manchmal. Auch der Sturmstau ist eine Meditation. Als ich ankomme, fühle ich mich erleichtert, etwas unter Kontrolle gebracht zu haben.

Das falsche Tagebuch: 14. Juni 2017

Ich brauch Power für mein Akku.

Denn das ist ein Hochverbrauchsritt zwischen Begeisterung, Ratlosigkeit und Verzweiflung. Ein performierendes Leben im besten und ein perforiertes im schlechtesten Sinne. Es liegt ja alles so nah beinander – Tod, Sex, Aufbruch, Abbruch, Scheißhaus, Waschbecken. Mir gings wirklich selten besser und selten schlechter und ich kann nicht ewig so leben – mein Rücken begs to differ – aber eine kleine Zeit lang will ich es, muss ich es. Weil Gespräche und einzelne Vokabeln, die lexikalischen Einheiten wieder so viel bedeuten. Es ist das Zeitalter der Semantik. Weil die Zeit auch wieder wichtig ist, weil mich interessiert, wie lang die Schatten werden und der Blick auf der Uhr wie der Blick aufs Meer ist. Es sieht unendlich aus, aber nur weil man nicht weit genug sieht.

Als ich damals an der Uni Dickens‘ „Große Erwartungen“ gelesen habe, wollte ich auch zumindest einen Umriss für meine kommende glanzvolle, von mir aus auch tragikomische, Vita erahnen können. Immer ich – und immer ich vorne dran in der Aufzählung des Casts meines eigenen Lebens. Selbstdarstellung bis es weh tut, bis verdammt-noch-mal Resultate kommen. Ich hab mir das einigermaßen abgewöhnt, dachte ich. Durch Familie und so. Die Wahrheit ist aber, dass ich selbst die Familie andauernd in einen Kontext bringe, der etwas über mich aussagt. Das gibt mir Power für mein Akku, das macht mich sogar zu einem guten Familienmensch, weil ich dann gerne Familienmensch bin, aber es macht mich auch blind und rücksichtslos für andere Menschen, die ihre eigenen „Großen Erwartungen“ haben.

Dickens, Kafka, Bernhard, Zweig, Updike, Chomsky, Bronte und Easton Ellis hab ich während meiner Zeit an der Uni gelesen. Alles Geschichtenerzähler großer Desillusionierung, right? Trotzdem will man nicht wahrhaben, dass man auf dem Holzweg zur Komplettierung gehörig entgleisen wird und wahrscheinlich sogar muss. Ich will nicht sagen, ich hab das jetzt hinter mir, denn es wird noch ganz oft was rasend daneben gehen, aber ich weiß jetzt ein bisschen, wie es sich anfühlt, zu verlieren. Genauso brutal wie ich dachte, aber – hey – es ruft Aufwachmechanismen ab, die man nicht für möglich gehalten hätte.

Ich kann Erdbeeren am Kanal essen und oder in der Kantine vom Krankenhaus sitzen, ich kann singen und gleich danach bluten und schwitzen wie ein Vieh. Ich kann wieder panisch beten und ich kann mehr denn je auf meine innere Ruhe vertrauen, ich kann alles und ich kann absolut überhaupt nichts. Ich kann Grandioses schreiben und im nächsten Moment alles mit Entsetzen tiefrotstiftig wegkorrigieren wie ein Deutschlehrer den Aufsatz eines nachhilfebedürftigen Schülers. Es ist wirklich alles drin und alles draußen. Es gibt für alles einen Zugang, doch an die wenigsten Dinge kommt man in einem Leben heran. Vielleicht übernehm ich mich, vielleicht überheb ich mich – so oder so: ich brauch Power für mein Akku.

Das falsche Tagebuch: 24. April 2017

Bin kurz los, hab meinen Geldbeutel bei Steinecke geholt. Hatte ihn heute morgen dort vor dem Laden liegenlassen. Frau hinter der Theke sagt, ich habe Glück, dass ihn ein Kunde in den Laden gebracht hat. Göbe nicht mehr viel so ehrliche Leute, sagt sie. Glaube ich nicht, denke ich. Ich habe mein Portemonnaie schon an die sechsmal verloren und noch nie hat jemand auch nur einen Cent rausgenommen. Vielleicht sieht man aber auch den Schwerbehindertenausweis darin und bekommt ein schlechtes Gewissen. Es ist nicht meiner, falls das jemand fürchtet. Wär mir fast lieber er wärs.

Auf dem Weg zurück zum Büro ist wieder dieses Ding passiert, wo ich alles so genau wahrnehme. Jeden Schritt. Jede Rille meines Turnschuhs, wie sie den fuckin‘ Asphalt berührt, einzelne Haare an den Ohren, die der Wind streift. Das geht oft einher mit einer Art angenehmem Stromschlag, den meine Finger in den Brustkorb weiterleiten, bis es kribbelt, am Hals, über den Kiefer bis fast hoch unter die Wangenknochen. Das wird manchmal durch Musik getriggert, aber seit letztem Jahr kann ich diese „Zeitlupen-Funktion“ immer öfter nach Wunsch einschalten. Manchmal denke ich, umgekehrt fühlt sich der Rote Blitz, wenn er durch die Gegend rennt und alles steht still, einfach nur, weil er so schnell ist. Ich hingegen bin plötzlich zu langsam, aber das fühlt sich mindestens genau so metahuman an.

Wenn ich dann vor der Bürotür stehe und ganz genau spür, förmlich sehe, wie der Bart vom Schlüssel sich im Innern des Türschlosses einfügt, sich die einzelnen Metallteile ineinander verzahnen, dann halte ich mich nicht für achtsam oder „aware“, sondern einfach nur für ein wenig überdreht und deshalb besonders langsam und bedacht auf diese Langsamkeit. Dass mir das Gefühl gefällt und ich mich währenddessen über nichts anderes im Leben aufregen muss, kann man mir ja nicht verübeln.

Jetzt sitze ich da und esse eine Schokolade mit Macadamia-Nüssen, hör Tom Petty und schmeck das erste Mal seit der Erkältung letzte Woche wieder was in vollem Ausmaß. Kein Fazit. Wozu auch.

Das falsche Tagebuch: 3. März 2017

ÜBER ESSEN UND RELIGION

Ich will nicht lügen. Das sind die finstersten Tage für meine Familie und mich und vielleicht werden daraus auch noch Jahre. Ich sag das, damit man sich die Hoffnung auf Pointen gleich zu Beginn dieses Textes abschminkt.

Ich bin in Essen gerade oder besser gesagt: in Teilen von Essen. Ich wohne in Heisingen auf dem Berg über dem See in einer Wohnviertelbeschaulichkeit, wie ich sie in Deutschland überhaupt nicht mehr für möglich gehalten habe. Es ist Geld da, aber es es soll nicht so aussehen. Es ist gesellig und isoliert zugleich. Es ist ein bisschen, als wäre ich zurück in die späten Achtziger gereist.

Ich bin da oben auf dem Berg und dann immer unten im Krankenhaus. Das sind meine beiden Haupt-Essen. Einmal war ich in der Zeche Zollverein, einmal in Hattingen, einmal in der Gruga und gestern im Südviertel in einem studentischen Cafe. Das meiste von der Stadt sehe ich von einem Taxi aus. Müsste ich Briefe an Zuhause schreiben, würde ich formulieren: „Mama, es ist alles furchtbar, aber mir geht es gut. Ich finde hier ein wenig Ruhe.“Aber grade das mit der Ruhe ist ja das fürchterlichste, denn Ruhe hat in diesem Fall was von Siechtum.

Ich hab mich immer ein bisschen geschämt, dass mein Leben sich niemals in irgendwelchen Extremen abgespielt hat, und gefunden, dass mich das als Künstler auch irgendwie diskreditiert. Jetzt, da so ein Extrem eingetroffen ist und jemand quält, der sich ganz sicher nie ein Extrem gewünscht hätte, schäme ich mich für solch idiotische Gedanken und überhaupt für meine jämmerliche jämmerliche Egozentrik.

Ich habe mal ausprobiert, ob ich noch beten kann, aber das ist wie Schwimmen, das sind Reflexe. Ich bin seit zwanzig Jahren nicht mehr in der Kirche und kann plötzlich besser denn je verstehen, wie Leute sich an einem höheren Sinn festhalten, selbst wenn ihnen jeder Instinkt sagen müsste, dass es den nicht gibt, denn es ist alles nur Algorithmus und marginale Abweichung.

Wenn man es richtig anpackt mit der Religion, dann ist sie wie ein Laster. Wenn man es mit ihr übertreibt, macht sie dumm und krank, aber sie kann dir eine gehörige Identität für zwischendurch stiften, machen wir uns nichts vor. Aber noch geh ich nicht in die Kirche. Ganz soweit ist es noch nicht. Noch tarne ich meine Gebete in meine morgendlichen Dehnungsübungen hinein.

Was wollte ich gleich noch noch über Essen sagen? Ich glaub, ich mag es hier. Die Stadt ist auf eine unaufgeregte Art mit sich beschäftigt. Ohne größere Minderwertigkeitskomplexe. Berlin ist im Gegensatz zu anderen Städten wie Köln und München nicht ständiges Gesprächsthema, zumindest nicht da, wo ich residiere – in meinen beiden Essen, auf dem Berg und unten im Krankenhaus. Die Taxifahrer, die beide Teile miteinander verbinden, sind außergewöhnlich freundlich und fahren vermutlich auch dem Transportanlass nach besonnen, aber mich hat auch noch kein Busfahrer angeschnauzt und es ist beinahe mein 16. Tag hier. Wenn nicht ganz so viel Krankheit und Tod in der Luft läge, gefiele es mir hier außergewöhnlich gut.

Das falsche Tagebuch: 01. Februar 2017

Kurz was über Musik.

Mit 11 oder so war ich unglaublicher Fan der ersten Dire Straits. Die mit „Sultans of Swing“, drauf, was aber noch nicht einmal mein Lieblingslied war. „Down To The Waterline“, „Lions“, „Water Of Love“ und „In The Gallery“ schlugen Sultans in letzter Instanz wegen dem Groooooove, nur beim Gitarrensolo gewann Sultans wegen dem schnellen Lauf am Ende, den ich bis heute nicht sauber mit Fingertechnik nachspielen kann. Aber auch sonst nicht. Die Platte war eh schon angekratzt als ich sie von meinem Dad übernahm, als ich mit ihr fertig war, war sie nur noch weißes Rauschen.

Einige Zeit danach, vielleicht Jahre, schenkte mir mein Onkel die „Making Movies“ als CD (meine erste CD) und von da an dachte ich, das wär das zweite Album der Dire Straits. Zunächst war ich schockiert über das viele Klavier, die weniger gewordenen Knopfler-Alleingänge, den aufziehenden 80er-Vibe, den Ansatz zum Epischen im Gegensatz zum Spartanischen und den gänzlich fehlenden rotzigen Jazz-Swing der 70er. Natürlich haben mich „Tunnel of Love“, „Romeo & Juliet“ und später auch „Expresso Love“ (der Song war schuld daran, dass ich jahrelang nicht korrekt Espresso bestellen konnte) schnell mit der Platte versöhnt, aber so richtig konnte ich trotzdem nicht verstehen, wie die Knopfler-Brüder (die sie mittlerweile ja gar nicht mehr waren) sich so schnell in Richtung Industrie-Rock wandeln hatten können und zwar nicht ihr gutes Songwriting, aber eben ihre Lässigkeit und den verlotterten Sound verlieren.

Irgendetwas fehlte da doch. Irgendein Übergang. Genau den entdeckte ich, als mich meine Eltern mal mit in die METRO (gab’s da CDs oder spielt mir die Nostalgie einen Streich?) nahmen und ich völlig achtlos im Regal eine blaue CD stehen sah, auf der „Dire Straits – Communique“ stand. Mittlerweile hatte ich die „Love Over Gold“ mit ihren Mini-Opern über emotionale Privatermittler und Industrialisierung gekauft und die extrapolierte „Brothers In Arms“ zu Weihnachten bekommen, hatte also im Grunde mit den alten Dire Straits abgeschlossen. Deshalb konnte ich eigentlich gar nicht glauben, dass diese unscheinbare blaue CD ein reguläres Album war und schaute auf die Jahreszahl der Veröffentlichung: 1979 – köpf mir einer ’nen Storch – also unmittelbar nach dem Debüt.

Ich konnte es wirklich nicht fassen, kaufte sie für ca. 20 Mark, hätte aber auch 50 dafür ausgegeben, und legte sie zuhause in den CD-Player meines Vaters. Und es war, als würde ich die Grabkammern von Nofretete entdecken. Einen verloren geglaubten Schatz, den missing link der Dire-Straits-Epochen, nochmal eine ganze Platte mit der rhythmischen Abgehangenheit der späten 70er. Dass die Songs bei weitem nicht so gut waren wie auf dem Debüt – drauf geschissen. Wochenlang hörte ich die CD rauf und runter, während ich auf dem C64 Miami Vice spielte.

Ich habe mich nie wieder in meinem Leben so über den Fund eines Albums so gefreut wie damals. Für andere wäre das vielleicht eine verlorene Dylan-Platte oder so, aber ich war ein Knopfler-Homer, wie es keinen zweiten im Landkreis gab. Ich schreib das jetzt, weil ich grade zufällig „Portobello Belle“ von der „Communique“ höre und mich frage, ob das Leben vor dem Internet noch ein bisschen mysteriöser war. Nicht, dass ich es vermisse, ich hatte Pickel und niemand hätte je ein Buch von mir veröffentlicht.

Das falsche Tagebuch: 17. Januar 2017

Weil ich grade in der Online-Zeitung lese, dass Stadtautofahrer mutmaßlich immer noch andere Autofahrer anhupen, wenn sie eine Landnummer beim unsachgemäßen Spurwechsel sehen, noch kurz eine artverwandte Anekdote.

Ich sitze im Café und rede mit dem Besitzer über Personalnot in unserer ehemaligen KiTa. Die ist entstanden, weil sich für die staatlichen Berliner KiTas momentan nur schwer genug qualifiziertes Personal finden lässt, aber auch durch Krankheitsfälle und andere schwer vorauszusehende Kalamitäten. Und natürlich ist der Erzieher- wie der Pflegeberuf weder der best bezahlte, noch meist geachtete und das vermutlich auch das Kernproblem, aber es liegt zumindest in diesem Fall nicht daran, dass der Senat zu wenig Erzieherstellen besetzt oder systemisch kein Budget dafür vorgesehen ist. Es gibt halt scheinbar momentan hier in Berlin einfach nicht genug Leute in dem Beruf, aber auch das ist eine Annahme, die ich vorsichtig auf Gesprächen mit leitenden Angestellten begründe. Ich habe keine Zahlen.

Der Zeitung lesende Mensch neben mir fühlt sich auf jeden Fal von unserem Thema so gekitzelt, dass er einschreiten muss. Dabei haben wir noch nicht einmal diskutiert, ich hab mir nur ein Update geholt, um anschließend drüber nachzudenken oder auch nicht. Es hat mich halt interessiert, aber es war gleichzeitig auch nur eine Form von Smalltalk. Der Zeitung lesende Mensch neben mir will aber unbedingt das Fass aufmachen, dass der Staat nicht genug Geld für KiTas zur Verfügung stellt und zwar das generelle Fass und dann mit aller Empörung, obwohl es uns nur um den bestimmten Fall geht, wo das nicht zutrifft, und es uns ja eigentlich eh um gar nichts geht außer Konversation.

Es ist natürlich das gute Recht des jetzt nicht mehr Zeitung lesenden Menschen, sich einzumischen und seine Meinung zu sagen, aber man muss ja nicht von jedem Recht Gebrauch machen, vor allem nicht, wenn man gar nicht recht hat.

Vielleicht hänge ich die Messlatte für unsere Gesellschaft auch zu tief, aber ich bin ziemlich dankbar, dass der Staat überhaupt die Erziehung von meinen Kindern mitübernimmt und das auch noch überwiegend gratis. Dass er zumindest versucht, meine kranke Tochter zu heilen und mein Sohn einen Lehrer hat, der ihm beibringt, wie Freundschaften funktionieren. Ich bin der Erste, der sagt, dass sich der Staat um seine Bürger kümmern muss und first and foremost um seine Kinder, aber ich bin weit davon weg, das als Selbstverständlichkeit zu begreifen. Und selbst wenn ich das täte, kann ich ja immer noch froh sein, dass er es tut.

Und ich reg mich natürlich auch auf, wenn die Betreuungssituation in KiTa, Schule oder Krankenhaus zu desolat wird – und ich krieg da cholerische Züge – aber mein Zorn ist dann nicht gerecht, sondern bestenfalls situativ und der Lösung eines praktischen Problems geschuldet oder manchmal auch meiner Arroganz oder Eitelkeit.

Dem Zeitung lesenden Mensch war sicher nur langweilig, er wollte ein bisschen Aufmerksamkeit, deshalb hat er sofort mit dem befremdlichen Bonmot geglänzt, dass er einen Freund in der Notaufnahme hat, der sagt: jedes Jahr sterben 30 Leute in der Charité wegen zu wenig Pflegepersonal. Fair enough. Oder auch nicht. Aber mein Tag brauchte zu diesem Zeitpunkt keine stürmische Diskussion, der vom Cafébesitzer vielleicht auch nicht und auch die Sachlage an sich verlangte nicht danach. Letztlich hab ich einmal widersprochen (was ignoriert wurde, aber hey, da darf man nicht sensibel sein) und mich dann weggesetzt und der Cafébesitzer hat ein anderes Gespräch begonnen. Der Zeitungsleser ist nach Hause gegangen. Sicher ein bisschen wütend. Niemand hat gewonnen.

Ich spar mir jetzt das naheliegende und altkluge gesellschaftskritische Fazit, weils ja eh auf der Hand liegt. Nur kurz noch der Schulterschluss zu den hupenden Autofahrern. Nur weil ich hupen kann und es offensichtlich ist, dass der Ebersberger, Havelländer oder Pinneberger sich hier nicht auskennt, muss ich nicht hupen. Alle reden von Trump und seinem Ego, aber worum es eigentlich gehen müsste als Gegenbewegung zu solchen Leuten, ist Zurückhaltung und Bescheidenheit, zumindest wenn man gerade nicht um die Existenz kämpft. Und wer tut das von uns hier schon wirklich. Aber nein, es ist 2017 und alle denken, sie müssten unbedingt weiterhupen, ganz egal worum es geht.

Das falsche Tagebuch: 9. Dezember 2016

Neulich das erste Mal Grünkohl gegessen. Nächstes Jahr bin ich das erste Mal in Essen. Vorgestern Abend in den menschenleeren Friedrichstadt-Passagen herumgeschlendert, heute das neue Childish Gambino angehört und erschrocken als der Bass eingesetzt hat. Überlegt, was mein Lieblingsalbum dieses Jahr war. Zu dem Ergebnis gekommen, dass es eine ältere Fucked Up Platte ist. David Comes To Life. Die aus der Fucked-Up-heit heraus so verzweifelt optimistisch ist, dass ich in die Musik zurückschreien will, wie sehr ich am Leben bin. Wie weit weg von den alten Zwickerchen, wie tief drin im sprichwörtlichsten Kampf um Leben und Tod, ohne Ahnung wie er ausgeht. Wie friedlich, freundlich und gleichzeitig zerfetzt und vor Wut schäumend ich bin. Wie ich dann doch hin und wieder froh bin, so ein Egomane zu sein, weil ich immerhin auf mich und mein Äußeres aufpasse, weitgehend in der Spur bleibe und mich dank einer einigermaßen intakten geistigen Gesundheit um andere kümmern kann. Ich drück mich und bin feige, wie ich das schon immer war, aber da mir Etikette und was ich selbst von mir halte, wichtig sind, bin ich es dann doch ganz oft eben nicht. Es ist eine ganz gravierende Evolution, die da stattfindet: von jemand, der vom Leben allerhand erwartet und motzend die Hand aufhält, zu jemand, der nichts mehr erwartet, sondern selbst gräbt. Defätist und Optimist gleichzeitig ist. Ein Defäptimist quasi. Ich rede ein bisschen selbstbezogenen Unsinn grade. So wie Uli Hoeneß, als er betonte, wie „fantastisch und ohne Makel“ er sich im Knast benommen hat und 5000 Briefe bekommen. So dringend muss ich dann doch nicht geliebt werden. Hoffe ich.

PS: Übrig hat Amazon meine Rezension für Childish Gambino nicht angenommen. Wahrscheinlich wegen dem „Arsch“. Dann eben hier:

Giving a damn by not giving a damn

Genauso kulturbewusst, schlitzohrig, zutiefst menschlich und leck-mich-am-Arsch-Establishment-ig wie Donald Glovers tolle TV-Serie „Atlanta“. Das ist quasi sein Audio-Atlanta. Black lives matter ja sowieso mehr denn je, aber das geht immer noch ein Stück besser mit black music, die sich weder im Proll-Genialischen wie Kanye verrennt, noch im Zu-Verkopften wie Teile von Kendricks (natürlich toller Platte) „To Pimp A Butterfly“ oder Frank Oceans „Blonde“. Klingen tuts ein bisschen nach Motown, aber trotzdem nicht auf die Retro-Werkbank gezwungen. Pocht stark auf Soul-Tradition und hat gleichzeitig keinen Bock auf Tradition. Postmoderner, old schooliger, neuartiger high end low fi shit.

fullsizerender

Das falsche Tagebuch: 9. November 2016

Trump. Nur ein paar Worte.

„What the fuck America“ ist ein falscher Reflex. Wir predigen ständig nur zum eigenen Chor und kehren vor der eigenen Haustür. Genau das machen auch Trump-Wähler. Genau das machen auch Nichtwähler und Politikverdrossene. Niemand übernimmt Verantwortung, vor allem nicht für den Teil der Bevölkerung, der man nicht sein will. Ich wünschte manchmal, ich hätte keine Kinder. Ich würde die Faust aus der Tasche nehmen und durch die Welt reisen und über sie schreiben. Aber ich habe Kinder und eins davon ist schwerkrank. Meine Familie ist meine Prioriät.

Meine Lektion aus dem zurückliegenden Jahr muss aber lauten, erst recht aktiv und aufmerksam zu bleiben. Sich was zu trauen, das Risiko einzugehen, Verantwortung zu übernehmen. Meine Frau hat das gerade getan, sie ist öffentlich sichtbar gegen den Pflegenotstand in der Charité aufgestanden, natürlich weil das unsere Tochter betrifft, aber auch, damit andere Eltern was davon haben, die wir nie kennenlernen werden und mit denen wir sicher auch nie befreundet wären. Vielleicht sogar AfD-Wähler, wer weiß.

Es ist ja schön, wie ihr euch jetzt alle Pointen und Befindlichkeits-Bonmots aus der US-Wahl herausquält, aber noch schöner wäre, ihr macht da was draus. Denn obwohl Trump dieses Konzept völlig dekonstruiert hat, glaube ich daran, dass unsere Gesellschaft nach wie vor von Etikette und moralischem Konsens zusammengehalten wird. Das Verhalten jedes Einzelnen gegenüber dem anderen Einzelnen ist ein politisches Verhalten. Also seien wir politisch oder wie Gottes einziges Gebot in John Nivens Jesus-Satire „Second Coming“ lautet: Seid nett zueinander.

Und außerdem: ein furchtbarer Tag für alle Frauen auf dieser Welt. White men are the dirtfuck worst.

Das falsche Tagebuch: 12. Oktober 2016

Liebes falsches Tagebuch,
ich habe dir länger nicht geschrieben, weil so viel Irrsinn passiert ist, den ich nicht in Worte fassen konnte. Nicht wollte. Und jetzt hat sich so viel mehr Irrsinn angesammelt, dass ich dir nur fragmentarisches hinterlassen kann. Will. Ich fange einfach mit den „Bushes Of Love“ an. Eigentlich ist das nur ein Lied, das diese Menschen von Bad Lip Reading (Nomen est Omen) aus dem ersten Star Wars-Film gemacht haben. Vermutlich reine Comedy, die mich aber komischerweise an einer ganz empfindlichen Stelle trifft. Text geht so:

How did my father die?
49 times, we fought that beast
Your old man and me
It had a chicken head with duck feet,
With a Woman’s face too
And it was waiting in the bushes for us
Then it ripped off your dad’s face
He was screaming something awful
In fact there was this huge mess
And I had to change the floors
You see, his blood, it drained into the boards
And I had to change ‚em
But we all got a Chicken-Duck-Woman thing,
Waiting for us

Every day I worry all day
About what’s waiting in the bushes of love.
Cause something’s waiting in the bushes for us
Something’s waiting in the bushes of love

Das hat mir trotz seiner Albernheit den Zeigefinger in die Eingeweide gebohrt, weil es so eine kurze und brutale Bestandsaufnahme von jedem Lebensentwurf ist. Egal, wohin man geht, irgendwo wartet eine Sensation, eine Verliebtheit, eine große Herzensbegeisterung auf einen. Die einen ganz einnimmt, ob man will oder nicht. Und einen früher oder später zerfetzt. Kinder, Partner, Eltern, Freunde, alles zerfällt irgendwann. Langfristig deprimiert mich das nicht, denn – Streicher bitte – Liebe ist ein Zustand, der sich über alle Zerfallserscheinungen und Tempi erheben kann. Aber manchmal und momentan bleibt die Zeit stehen und man sieht überdeutlich alle die Risse in seinem Leben.

Es gab so ein paar gnadenlose Risse in letzter Zeit, liebes falsches Tagebuch. In der Gesundheit von jemand, dem ich als allerletztes auf der Welt einen Riss irgendwo wünsche. Ein Riss in der Realität in der Mitte der Strecke zwischen Klinik und Zuhause. Zwischen den Haltestellen Fürsorge und Selbstmitleid. Dafür schließt sich die Lücke zwischen meiner Biografie und dem Buch, das ich geschrieben habe. Über die vielen nächtlichen Lektoratssitzungen verwischen die Grenzen zwischen den Dingen, die ich erfunden habe und denen, die ich selbst erlebt hab. Und ich schwöre, das Erfundene hatte ursprünglich die Oberhand. Es ist auch eine Zeit, in der man die Risse mit Medikamenten überbrückt, Chemie ist das Wort der Stunde. Chemie ist auch jemand, der kurz mit einem in den Abgrund starrt und dann von mir aus auch wieder weitergehen kann. Ist kein Problem für mich. Nur einen kurzen Augeblick zusammen starren.

Und während sich ein Tag an den anderen reiht und schon drängelt zu passieren und das Wetter sich nicht gerade Mühe gibt, einen Schönheitspreis zu gewinnen, bin ich sicher, dass auch jetzt etwas auf mich und alle im Gebüsch der Liebe wartet. Etwas, das uns zerfetzt und wahnsinnig freut.