Das falsche Tagebuch: 17.09.2014

Was ich am Gitarrespielen mag: dass es nicht auf Anhieb klappt. So gut kannst du gar nicht sein, dass du auf Anhieb das Solo von „Flash Of The Blade“ nachspielst. Egal wie gut du dich findest, einen anderen guten Gitarristen kopieren stutzt dich immer erstmal auf Demutsgröße. Dann kanns du dich wieder rekonstruieren, indem du auf Details achtest und übst, bis du das Solo einigermaßen in Muster und Automatismen unterteilen kannst und am Ende sogar nachspielst. Dann folgt großes Selbstbewusstsein, valide, verdient, erarbeitet. Mein Langzeitprojekt ist immer noch, Maidens „Powerslave“ auf der Gitarre komplett nachspielen zu können, mit allen Gitarrenspuren, Riffs, Licks, Solos und überhaupt. Seit einem Jahr sitze ich jetzt dran und es ist kein Ende in Sicht. Und wie schön das ist, weil du so den Weg aufmerksam gehst. Wüsstest du, dass es nur noch zwei Wochen dauert, würdest du hudeln. Hudeln ist der Tod. Kurzfristigkeit ist der Tod, aber Kurzfristigkeit ist die dominierende mentale Bewegung unserer Zeit.

Apropos Bewegung – Schottland, Separatismus, Nationalismus, Patriotismus, bla bla bla. Mit 17 hab ich Schottland auch noch die Unabhängigkeit gewünscht und hab mit einer Schottin auf der Fähre herumgeknutscht und bin danach ein halbes Jahr in Karos rumgelaufen und vier Jahre später habe ich bei „Braveheart“ im Kino in Dublin zusammen mit den Iren geklatscht. Und ja, ja, Denkzettel an Zentralregierungen und Lektion und Revanche und jetzt zeigen wir’s den Großkopferten mal. Das ist im Prinzip okay und es ist als soziale Momentaufnahme sogar wichtig, aber eigentlich ist es anachronistisch und ein kultureller Rückschritt. Revanchismus ist immer noch eins der größten Probleme der Menschheit, ein philosophischer Blackout, eine Barbarei des Verstands. Dass wir alle im selben Boot sitzen gegen Krieg, Armut, Zerstörung und Abschlachten sollte der allgegenwärtige Geisteszustand sein. „Alle zusammenhalten“ ist doch das Credo, das auf der Hand liegt.

Nebenbei: Was diese U2-Sache an Kleingeist und Hybris hervorprovoziert hat, verwundert sogar mich. Ich hab mich gefreut, dass mir Bono eine Platte geschenkt hat. Ernsthaft jetzt.

Das falsche Tagebuch: 10. September 2014

Achtung, es kommen Fetzen. Ich fuhrwerke verbal vor mich hin. Ich nöle, ich ächze und will gut dabei aussehen. Aber ich bin nicht Botho Strauß mit seiner Gravitassyntax, bei dem sowas immer klingt, als hätte er eine große Idee und eine noch größere Ahnung, obwohl er auch nur fuhrwerkt. Ich sage wirklich nichts, ich sage nur:

Ich bin ein seltsames Gebräu aus sturem Positivist und Apokalyptiker dieser Tage. Einerseits spreche ich Großteilen der Menschheit ab, die nächste Stufe der geistigen Evolutionsleiter erklimmen zu können und auf Ewigkeit ein ungehalten revanchistisches Pack zu bleiben, andererseits glaube ich ungebrochen an die intellektuelle Evolution, nur nicht an ihre Geschwindigkeit. Die Apple Uhr ist da, aber mit der Post kam heute meine erste Taschenuhr. Jetzt steht ein Spagat bevor: Sich aus Genussgründen tief in der Analogie zu verschanzen, aber nur als Conaisseur. Als Entreprenuer technisch auf dem neusten Stand bleiben, um nicht so wie die Eltern zu werden, die SMS-schreiben gelernt haben wie in einem Kurs an der Volkshochschule. Geiz nicht, spreiz dich. Mach alles mit, wo was bei rumkommt, sagt man den jungen Leuten an jeder Lebensstation. Kompositionale Ambiguität ist das Rüstzeug für das moderne Leben, und wer geradewegs schizophren ist, ist der wetterfesteste Darwinist. Das hat uns ein ethisch und sozial rückständiges Land wie Amerika schon immer vorgelebt, das mit der Zerrissenheit leben. Doch diese situative Moral maskiert nichts anders als einen splitterfasernackten und menschenhassenden Egoismus. Krieg kann man wieder machen, hab ich gehört, dafür ist Kapitalismus out. Situativ halt. Widersprüchlich sind nur noch Leute, die an Widersprüchen scheitern.

Ich selbst bin ein dummer Sklave meiner eigenen Ansichten, ein Idiot der Neunziger, in denen wir unterinformiert wie Kindergartenkinder geglaubt haben, das Zeitalter der Kriege nähert sich zeitlich greifbar dem Ende. Und Bauklötze gestaunt haben, als sich Titos Kinder auf dem Balkan gegenseitig die Köpfe abgeschnitten haben. Aber den Positivismus haben sie mir damals eingeimpft. Mit Glasnost, alternativen Energien, den Grünen im Parlament und den ersten Klimaabkommen. Diesen Zahn kann man mir nicht mehr ziehen. Ich glaube an das Hirn wie ein Pannist an den ADAC.

Allerdings nicht immer an meins. Je älter ich werde, desto ängstlicher werde ich. Angstdemenz nenn ich das. Uns schuld sind Kinder. Kinder machen einen aufrechten Menschen bröslig und schwach. Die Liebe zu den Kindern macht einen angreifbar und weinerlich. Vorher hatte man wenig zu verlieren. Die Todesverachtung der Zwanziger kann ich mir gar nicht mehr retroaktiv ausmalen, aber sie steht schwarz auf weiß in meinen Liedern und Tagebucheinträgen (oh ja). Die Liebe ist die ungesündeste. Meine Schwester hat neulich gesagt, man muss loslassen bei den Kindern, und sie trotzdem genauso weiterlieben. Was banaleres und schlaueres hab ich die letzten fünf Jahre nicht gehört.

Zum Wetter: Dieses grausig langsame Sterben des Sommers ab Ende Juli, das ich sonst immer so schätze, setzt mir dieses Jahr irgendwie zu. Weil es im Schnellvorlauf die Geschichte menschlichen Siechtums ist und also Glück im Leben eines Erdbewohners immer ein resignatives sein muss, wenn er nicht eine glaubwürdige Religion findet, die ihm die Ewigkeit verspricht. Aber welche Religion ist schon glaubwürdig. Ab zwanzig ist der Mensch verkalkt und lebt nur noch aus der Einbildung, sagt Thomas Bernhard in seinen Weißweinseligen Mallorca-Monologen. Nur bei den Kindern sind die Venen noch frisch, die sind noch in der Wirklichkeit. Das bezieht er vermutlich nur auf die Wohlstandsgesellschaft, die sich tatsächlich neuerdings ein paar merkwürdige Maxime eingebildet hat: Persönliches Glück ist grade das Maß aller Dinge im Burnout-Zeitalter.

Das falsche Tagebuch: 19. August 2014

Das Älterwerden ist mit das Großartigste, was mir je passiert ist. Das habe ich ja immer gehofft, aber nicht zu träumen gewagt, dass man als geborener Homo Hecticus nochmals so gelassen werden kann (für meine Verhältnisse versteht sich). Mein Problem war nie Indifferenz oder Wurschtigkeit, nie die Lethargie oder die Empathie. Ich war immer zuviel von allem. Emotional wepsig, weinerlich, weidwund. Geblieben ist davon überwiegend eine selbstgerechte Grantigkeit. Yes, ich kann endlich Schmerzen und unangenehme Dinge, Traumata und Herzlöcher verdrängen, wegschieben und unter den Teppich kehren wie andere Leute auch. Ich muss nicht mehr alles ausleben und Lieder darüber schreiben. Das macht mich glücklich. Die Melancholie ist eine dumme Sau.

Das falsche Tagebuch: 7. August 2014

Schon wieder und immer noch im Westernwahn. Muss wohl am Wochenende nach El Dorado Templin fahren und den ganzen Tag ungehindert den schwarzen Cowboyhut tragen. Beeindruckt haben mich nachhaltig die Peckinpah-Western „Pat Garrett & Billy Kid“ mit dem Dylan-Soundtrack und der Sterbeszene am unbebauten Fluss, und vor allem der sterbensvollerdreckige „The Wild Bunch“. Über Pike Bishop habe ich ein Lied geschrieben. Die Sergio Leones samt Eastwood hab ich schon letzten Sommer durchgebrütet, dieses Jahr sind Ford, Hawks und der Duke dran. „The Searchers“ hat mich regelrecht eingedunkelt mit seiner Weltverneinung im Monument Valley. Der Western, überhaupt ein düsteres Genre, selbst „High Noon“ ist alles andere als eine happy-go-lucky Heldensaga. „The Sons of Katie Elder“ und „Stage Coach“ sind als Nächstes dran. Es ist das erste Mal im Leben, dass ich John Wayne etwas abgewinnen kann. Weil ich ihn jetzt erstmals im Original reden höre vermutlich und da wird auch deutlicher, was für ein guter Schauspieler er war, ob man den reaktionären Hund jetzt mag oder nicht.

Die Frau, die mich neulich für den Tagesspiegel interviewte, hat nicht ganz zu Unrecht gesagt, ich hänge in den Mandel-Büchern in so archemännlichen Genres wie Detektiv, Metal und Wrestling herum. Kommt auch noch der Western dazu? Plötzlich habe ich so ein Bild vor Augen, wie der Mandel in El Dorado Templin im Saloon sitzt und dort als Pianist sein Geld verdient und ich sehe meine Chance, einen eigenen Western zu kreiern, wenn auch in der Uckermark. Aber nein, die Mandel-Bücher sind vorbei. Bavarian Gothic ist mein neustes Genre.

Und was immer das auch über mich aussagt, dass ich die Machomilieus mag (ich sage, es bedeutet nur, dass ich ein Kindskopf bin), in jedem lässt sich ganz ausgezeichnet das finden, was ich finden will: alle sind fürchterliche Opportunisten und Kompetitionisten, deshalb gibt’s auch Krieg auf der Welt. Ich will die Frauen von der Weltsünde nicht komplett ausnehmen, aber die ihnen im Lauf der patriarchischen Jahrtausenden aufgezwungene Zurückhaltung hat sie einen feinsinnigeren und manchmal auch hinterfotzigeren Opportunismus gelehrt: die Manipulation ist ein süßes Gift, und die eine oder andere gelegentliche Vergiftung ist mir lieber als die männliche Ultima Ratio, alles in Schutt und Asche zu legen und dann zu überlegen, wie’s weitergeht.

Meine Frau sagt manchmal: „Gib’s zu, du magst keine Frauen.“ Ich sag, das kann schon sein, aber ich mag Männer genauso wenig. Nur bei Männern hab ich das Gefühl ich könnt noch was zum Weltwohlergehen beitragen, weil ich unsere grauslichen Minderwertigkeitskomplexe besser kenne und verstehe. Und noch besser verstünde ich sie sicher nach einem Besuch in El Dorado Templin.

Das falsche Tagebuch: 29. Juli 2014

In unserem Wahn zu Gott und der Welt auf Teufel komm raus publizierte Position zu beziehen und dabei noch so pointiert wie möglich aufzucremen, räumen wir mittlerweile sogar hin und wieder ein, dass beide Seiten eines Disputs Recht haben könnten. Was mir viel zu wenig in Betracht gezogen wird: Niemand hat Recht, alle kehren vor der eigenen Haustür, weil sie unsichere Arschlöcher sind, deren einziger Spaß im Leben geblieben ist, sich an sich selbst zu ergeilen und andere alt ausschauen zu lassen. Planet Selfie. Vielleicht liegt’s auch nur an der stehenden Hitze, durch die man durchwaten kann wie einen Sumpf, dass ich so übelgelaunt bin und rhetorisch vor mich hinschwefle wie ein Furz ohne Druck. Ich meine, ist das normal, dass einen jede Zeitung, jeder Artikel zur Weißglut treibt, dass man nur noch sehen kann, wie der Mann/die Frau hinter den Zeilen sich selbst beim Schreiben einen harthobelt?

Und dann Eltern, ich hasse Eltern. Andere Eltern hauptsächlich, die das Netz mit Fotos von kleinen Kindern, die nix dafür können, dass sie sich entwickeln, die sich nicht wehren können dagegen, dass sie als Menschgewordene Medaillen um die speckigen Hälse ihrer Erzeuger baumeln, verpesten. Aber auch manchmal mich selbst als Vater, weil mir außer dem larmoyanten „Lass uns reden“, ein bisschen hausüblicher Cholerik und blöden Sprüchen von den eigenen Eltern nichts einfällt bei dieser Hitze. Nur dem System fällt noch viel weniger ein als mir: Spiel Feuerwehrmann, mal mal was, spiel Kaufladen, geh klettern. Kindsein kann überhaupt der langweiligste Beruf sein.

Und dann die Religionen. Und die politische Korrektheit mit der alle so herumwürgen wie mit einer besoffenen Python, die zu schnapsschwer ist, um sich auf wichtige Dinge wie das Verschlucken von Mäusen zu konzentrieren. Man sieht ja an meiner behinderten Metapher schon, wie schwer es mir fällt, meine Verachtung für die Apotheose im Zaum zu halten. Weil nämlich die Religion an sich nur ein intellektuelles Relikt ist. Ein Rudiment, ein Ohrenwackler, ein geistiger Atavismus. Würde der Mensch seinen Raubtier-Egoismus überwinden, könnte er erstmals ein Mensch sein und müsste nicht vorgeben, religiös zu sein. Ist ja eh keiner, der bis fünf zählen kann und genug zu fressen hat. Nur ohne Religion ist es wie ohne Tageslichtprojektor an einer Schule. Müsste man rhetorisch schon wirklich was auf dem Kasten zu haben um einen ganze Stunde nur mit Inhalten und Stimme zu gestalten.

Der Wasserspielplatz nebenan hat nach anderthalb Jahren wieder auf. Vielleicht sollte ich meinen Wutschädel unter einen der überdimensionalen Spritzfische halten, bevor ich mit der infernalischen Laune etwas ins Internet schreibe.

Das falsche Tagebuch: 23. Juli 2014

Es ist mir schon während der WM aufgefallen. Zeitung aufschlagen und es ist Krieg. Und nicht nur auf den Schlachtfeldern – was für ein Wort immer noch – auch in aller Munde und Profile. Tragisch ist das nicht, aber tratzen tut es mich dennoch, wie plötzlich jeder einen Furz zum Tagesgeschehen auf Facebook lassen muss und das mit politischem Interesse oder gar Engagement verwechselt. Bizarr ist ja auch, dass die meisten Leute an ihre sogenannten Freundeskreise schreiben, von denen sowieso jeder die selbe großbürgerliche Meinung vertritt. Vorsicht Antisemitismus ruft es grade von überall her, von Poschardt bis taz wird dafür alles verlinkt, was nicht auf einer Flash-Seite steht. Und ich empfinde das als Beleidigung, ja als Affront. Als ob ich hier rumlaufe und „Scheiß Juden“ schreie. Als ob ich nicht wüsste, was sich gehört. Ich nehme diese pseudohumanistische Aufklärungsgülle persönlich. Ich brauche keinen Poschardt und keine taz, ich lese doch schon die SZ, da werden alle nur denkbaren humanistischen Positionen als buntes Meinungsbuffet mit Wortwitzdressing, essayistischem Teigbaaadz und altjournalistischer Großkotzigkeit feilgeboten. Ich kann keine Meinung mehr hören, ich will nur noch Informationen. Eure Meinung schreit mich an und ich schreie zurück: „Scheiß Krieg, scheiß Darwin!“ „Zen“, schreie ich. „Zenfix halleluja!“ Nein, das ist gelogen, ich schreie ja gar nicht, ich bin mit dem Filius nach Niederbayern gefahren, an den See und ins Freibad, wo Schwimmengehen noch kein Event ist und auch keine 7,50 € Spaßbadzuschlag kostet. Dafür lassen wir uns von Stechmücken (vulgo: Staunsen) zerfleischen und merken wieder einmal, dass es gar kein gelobtes Land gibt (auch wenn die Kühlschränke bei der Mama/Oma tatsächlich niemals leer werden). Merk dir das, Nahostkonflikt.

Das falsche Tagebuch: 15. Mai 2014

„The Death Of Yugoslavia“ ist eine der besten Dokumentationen, die ich je gesehen habe. Weil sie kurz nach dem Krieg produziert wurde und die Metzger, Wahnsinnigen und Gesinnungsbürokraten sich völlig im Recht fühlen, wenn sie von den Konflikten berichten, teils noch nicht einmal ahnend was ihnen bald via „The Hague“ blühen wird. Der 6-teilige BBC-Film ist ohnehin ein Lehrstück über das, was Menschen so antreibt. Über die Selbstgefälligkeit. Über die Selbstgerechtigkeit. Über die Bereicherung, die persönliche. Und das ist ja nicht nur das allerunlauterste, sondern auch schwachsinnigste Motiv, weil Bereicherung ja den kurzfristigsten Effekt von allen hat: das MOMENTANE Wohlbefinden. Außer man spart für die Kinder. Ergo ist der Mensch in seiner hauptsächlichsten Eigenschaft ein kurzfristig denkender Idiot, der seine intellektuelle Evolution en gros noch vor sich hat. Eine andere Quintessenz lässt der Film beinahe gar nicht zu. Klingt ein bisschen humoristisch, ist es aber nicht. Bis weit in den Schlaf hinein quälen einen die Bilder aus dem „gesäuberten“ Zvornik und die sprechenden Pokergesichter von Milosevic bis Å eÅ¡elj. Dass ein einziger Mensch wie Tito solange den Deckel auf einem Konstrukt wie Jugoslawien draufhalten konnte, ist gleichzeitig eine Tragödie aber auch eine Hoffnung. Die Blöden folgen guten Ideen genauso wie schlechten. Es gibt keine eindeutigen Positionen, es gibt nur die situativen Wahrheiten. Das macht die Leute wuschig bis irre, siehe Ukraine. Dass die Wahrheit so vielgliedrig ist, das macht unsere Gesellschaft fertig. Aber damit muss sie fertig werden. Dringend.

Das falsche Tagebuch: 5. Mai 2014

Ich bin Berni Mayer und ich mag keine Leihbüchereien. Ich leihe nicht gerne etwas aus. Es macht mich nervös, über einen längeren Zeitraum für fremdes Eigentum verantwortlich zu sein. Ich bin mit wilder Begeisterung und viehischer Wut für mein Eigenes verantwortlich, ich brauche nichts und ich brauche es von niemanden und wenn, dann will ich es geschenkt. Ich mag Apotheken. Allein der Gedanke, freien Willens in ein Geschäft spazieren zu können, das mir eine Verbesserung meiner Lebensumstände verkauft, gefällt mir unglaublich gut. Und ich mag die Gegensätze, ich lasse sie oft mit Vorsatz stehen.

Meinung ist Mode geworden. Egal ob zum FC Bayern oder zum FC Putin, jeder scheint einen geradezu dämonischen Zwang in sich zu verspüren, einer bestimmten Meinung zu sein. „Putin hat schon recht, der Westen ist ein oppressiver Ungeist, der sich hinter demokratischen Werten versteckt.“ Das ist die eine Variante. Die andere: „Wer Schwule verfolgt und Systemkritiker verstrahlt, kann überhaupt nicht recht haben und muss zur Raison gewiesen werden, zur Not mit dem Leopard.“ Das Schwierigste für den Menschen an sich, ist miteinander zu reden und die Allgegenwärtigkeit von multipel berechtigten Meinungen zu akzeptieren. Das gilt für jede Ehe, das gilt für jeden Krieg. Und für Fußball. Nur weil ich Bayernfan bin, muss ich nicht progromartig zu Pep Guardiola beten, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Genauso wenig muss ich ihn hassen, weil er sein erstes wichtiges Spiel verloren hat und seine Mannschaft dabei ausgesehen hat wie Deppen. Ich muss sowieso überhaupt nichts und der Bayernfan an sich auch nicht. Es ist ein Verein, keine Religion.

Ich bin Berni Mayer und ich war grade auf Lesereise. Davon erzähle ich im Detail ein ander Mal, jetzt sage ich nur, dass ich von der Lesereise ein Bluegrass-Album mit dem wundervollen Titel „Foggy Mountain Jamboree“ mitbegracht habe. Ich mag die Ideen nicht, die hinter dem traditionellen Nashville-Country stehen, aber ich mag den traditionellen Nashville Country. Ich war auch auf Rügen. Es war schön, aber arschkalt, spießig, aber beruhigend. So einfach ist das gelegentlich mit Gegensätzen. So chiastisch sie auch manchmal auftreten, ein simples Aber verschaffft ihnen die notwendige Ko-Existenz. Das ist sowieso die Grundlage des Humanismus: die Ko-Existenz im Aber. Ich bin Berni Mayer und mag keine Leihbüchereien, aber ich laufe gerne darin herum, ohne etwas auszuleihen. Und deutsche Apotheken sind mir zu kleinlich, was größere Mengen an Wohlfühlmitteln betrifft.

In other news: Im aktuellen „DAS MAGAZIN“ ist eine Kurzgeschichte von Mandel und Singer erschienen, in denen die beiden in Frankfurt am Main ermitteln und gegen Roten Libanesen, Automobil-Spionage, Skilanglauf und eine Sprinkleranlage antreten.

Das falsche Tagebuch: 31. März 2014

Letzte Woche habe ich noch zu meinen Schwestern gesagt, ich gebe ihnen nicht die Hand zum Gruß, weil ich keinen Virus mehr will. Noch ein einziger Virus, hab ich gesagt, und ich geh zugrunde. Ich habe aufgehört, die Grippefälle seit letzten Oktober zu zählen, aber auf der zweiten Hand sind wir fast durch. Ich habe also ohnehin schon das Gefühl im Ganzen zu zerfasern, da sichelt mich am Freitag ein Mordvirus auf die Matratze, dass ich denke: Jüngstes Gericht. Selbst Ibuprofen 400 hat sich gedacht, zu starker Tobak, da halt ich mich raus und ein anderes Schmerzmittel war nicht im Haus. Von Fieberfantasien vollkommen aufgeweicht und vom Kopfschmerz völlig zerrüttet, wäre ich durchaus bereit gewesen, noch in der Nacht zum Samstag in die Charité zu gehen, wenn noch gewusst hätte, wie ich heiße. Angefangen hat natürlich das Kind mit dem Mordvirus und die Frau hat gleich nachgezogen, was natürlich auch jeglich Anteilnahme an meinem Beinahe-Sterbefall verhindert hat. Aber die haben ja leicht reden. Motzen ein bisschen rum und schlafen dann jede Grippe in Grund und Boden, während der Virus bei mir einen Veitstanz in Festivalformat aufführt. Wer kann da schlafen?

Als dann zumindest der nackter-Stahl-durch-Schädelknochen-Schmerz weggeht, fällt das Kind aus zwei Metern Höhe vom Klettergerüst und bricht sich das Schlüsselbein. Das bedeutet nicht nur eine ganz beschissene Zeit für den eh noch grippal schwer angeschlagenen Junior, es bedeutet auch Sonntagabend einen Familienausflug in die untergehende warme Frühlingssonne zu unternehmen, um das gereizte Familienklima durch ein gemeinsames Abenteuer zu beruhigen, es bedeutet: vier Stunden Notaufnahme Kinderklinik Virchow.

Einen Tag später liegen der Junior und ich in der Matratzengruft – er, weil er Schmerzen hat und ich, weil das Fieber immer mal wieder vorbeischaut. Wir schauen den Film „Die Piraten!“, der sehr lustig ist. Ich denke: Die Welt wird jede Stunde um eine Stunde verrückter und man ist zur Untätigkeit verdammt, das ist ja immer das Schlimmste am Kranksein.

Das falsche Tagebuch: 17. März 2014

Vergiftet hab ich mich gefühlt in den letzten Tagen und Wochen. Vergiftet vom Internet, den Zeitungen und der Politik. Vergiftet von Häme und Kriegstreiberei. Deprimiert bin ich nach Leipzig gefahren, aber das mit Vorsatz, denn wenn einen eine Stadt wieder aufrichten kann, dann Leipzig. Man darf den Hype nicht glauben, so viel Kultur und tolle Leute gibt es da nicht. Aber selbst die gänzlich Seelenunverwandten sind freundlich. Es ist die Freundlichkeit, nicht die Subkultur, die einen aufrichtet. Wobei die Freundlichkeit in Berlin längst zur Subkultur verkommen ist. Dafür ist die Buchmesse grausam. Ein Geschubse, mental und körperlich. Eine Branche, der man zu Unrecht mehr Herz als dem Rest der Kulturindustrie unterstellt. Im Gehen höre ich noch, wie Thilo Sarrazin sich über Uli Hoeneß äußert.

Neulich war ich bei McDonald und ein deutsches Poplied lief. Mein Sohn hat sich gerade den Mund an einem brühend heißen Kakao verbrannt und geschrien und jemand hat in einem viel zu Tim-Bendzko-artigen Song etwas viel zu defätistisches für einen Tim-Bendzko-artigen Song gesungen. Die vollkommene und plötzliche Neuordnung der Dinge ist eine schöne, eine wildromantische und gefährliche Illusion. Doch ich brauche die Restrukturierung ohne Umwälzrage. Die schwerste Disziplin der Welt: sich deutlich weiterentwickeln und dabei in aller Ruhe der Alte zu bleiben.