Das Erwachen

„Nun sind wir wohl erwacht“, sagte sie – „für lange.“
(Arthur Schnitzler „Traumnovelle“)

Psst, St. Burnster. Aufstehen. Es ist Zeit.

Ich wache auf. Das Zimmer ist weiß wie ein Krankenzimmer, ein Aufwachzimmer. Nichts ist in dem Raum. Nichts außer ein Bett und weiße Wände. Nichts außer ein Bett, weiße Wände und ich. Ich bin aufgewacht und es ist nichts hier außer mir und einem weißen Mädchen, das neben mir in ein weißes Laken gewickelt ist und schläft. Das hier ist nicht die Hölle. Das ist nicht die Hölle, in der ich matt und kraftlos eingeschlafen bin. Ein weißes, warmes Licht bricht durch eine riesige Fensterfront in das weiße Zimmer und jetzt erwacht auch das Mädchen. Sie schiebt ein weißes Bein aus dem Laken. Sie ist nackt und wie aus Milch. Sie seufzt und dreht sich zu mir. Ihre Augen öffnen sich langsam und sie sind dunkel wie die Dunkelheit, aus der ich komme. Sie lächelt mild und ihre Wangen sind gerötet. „Du hast aber nicht lange geschlafen.â€?, flüstert sie und ich muss ihr Recht geben. Ich war nicht lange weg. Ich habe nicht lange geschlafen, obwohl ich gehofft hatte, es würde eine Ewigkeit dauern. Und jetzt bin ich wach und das hier ist definitiv nicht die Hölle.

Als ich mich vor zwei Wochen hingelegt habe, um zu schlafen, war da nicht viel, was mich wach gehalten hätte. Es lag etwas in der Luft, ich hätte es merken müssen, doch es war ein wenig zu spät, um Morgenluft zu wittern. Ich war aus der Hafenstadt zurück in den Moloch gekehrt, hatte die richtigen Leute an den falschen Orten getroffen. Der Verwesungsgeruch in dem Club war so stark, dass ich den Frühling nicht mehr bemerken konnte. Ich hatte mich schlichtweg aufgegeben. Es war ein kalter Abend und mein Körper war ein Bündel aus Schmerz und tauben Stellen. Als ich mich hineinlegte in das Bett, das mein Sarg werden sollte, war an ein Erwachen nicht mehr zu denken. Ich war bereit, ich wollte entschlafen, ich wollte dieser brutalen Szenerie endlich auf Dauer fernbleiben.

Obwohl ich so gut wie tot war, träumte ich seltsames Zeug. Da war dieses Mädchen mit der weißen Haut, die ich damals im dunklen Berliner November zuerst gesehen hatte. Die mir in einem Moment der tödlichen Unsicherheit erschienen war. Damals hatte sie mich, ohne etwas dazu zu tun, vor der Dunkelheit bewahrt, nur um mich genauso unabsichtlich zurück in dieselbe zu treiben. In meinem Traum, meinem zweiwöchigen Traum, hatte sie mich angetroffen und ich trank Wein, während sie nur neben mir saß. Wir liefen an alten Gebäuden vorbei und an Neuen, wo Regierungen in den ersten lauen Frühlingsnächten anfangen, uns genau zu beobachten, wenn sie zu lange im Büro sitzen. Wir erkundeten den Glaskoloss auf der Suche nach etwas zu essen und etwas Eiscreme. Wenn ich versuchte, sie zu ärgern, wurde sie noch eine Spur liebevoller und ich fing an zu hoffen, dass dies kein Traum war. Ich war schlaflos in meinen Träumen und sie war immer da. Doch bald verabschiedete sie sich und entwich der Stadt in der Dämmerung am vorderen Rand des Sommers. Ich sah nur zu und verfiel wieder in meinen alleserlösenden traumlosen Schlaf. Auf keinen Fall hätte ich gedacht, so früh wieder zu erwachen.

Und jetzt ist es passiert. Ich bin aufgewacht in diesem strahlenden Weiß, in diesem Zimmer, in dem Bett, das ich für leer gehalten habe, bis sie ihr weißes Bein aus dem Laken geschält hat. Sie drückt mich eng an sich und da sind diese winzigen Küsse. Ich muss sie berühren, sie muss mir ein wenig Gewalt antun, damit ich sicher gehen kann, nicht mehr zu schlafen. Dass dies kein Traum, sondern die Wirklichkeit ist, so surreal sie mir auch erscheinen mag. Ist das noch dieselbe Stadt da draußen? Ist das noch der Moloch, der sich in uns verbissen hatte mit seinen fauligen Zähnen und dem unguten Atem der Pestilenz seiner Bewohner? Höre ich da leise Musik von draußen? Das klingt wie Brian Wilson, das klingt wie die Siebziger, das könnten auch die High Llamas sein. So hell und so klar ist die Musik, mehrstimmig und harmonisch. Nun bin ich also erwacht, denke ich. Nun bin ich also endlich erwacht. „Psst..â€?, flüstert sie, „Es ist Zeit aufzustehen, St. Burnster, wir haben heute doch so vieles vor.â€? flüstert sie mir ins Ohr und Wasser läuft aus meinen Augen. Milchig und weiß.

„Steh auf.â€? sagt sie zu mir. „Du musst aufstehen.â€?

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Das versunkene Leben

Neige dich wenn du kannst
über das verdunkelte Meer
und vergiß den Flötenton
über den nackten Füßen
die deinen Schlaf zertraten
in dem anderen
dem versunkenen Leben
(Giorgos Seferis – Santorin)

Die Fäule in mir kommt kommt von dem verrotteten Herz. Ganz schwarz bin ich innen drin und ganz schwarz werde ich auch außen bald werden. Egal was ich tue, egal welchen Erfolg ich verzeichnen kann, egal welches Ziel ich erreiche, das Herz wird von Tag zu Tag noch ein bisschen schwärzer, ein bisschen fauliger, ein bisschen defunktionaler. Ich habe versucht, das Glück zu halten, es auszuweiden und bis auf die kleinste Faser auszukosten. Am Ende bleibe ich hungrig und verrückt nach mehr. Am Ende ist der Verfall nicht aufzuhalten und am Ende steht der Verfall. Von unten aus der schwarzen Blutfabrik steigt ein verdorbener Dampf hinauf in meinen Mund und mein Atem ist der eines Sterbenden. Mein Kuss ist der eines Todgeweihten und ich nehme noch ein paar von euch Sanften, euch Leichtgläubigen, euch depressiven Feiglingen mit ins Grab.

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In dem versunken Leben waren wir eins. Wir reichten uns die Hände und überquerten die Nächte bis wir am Rande des Sommers angelangt waren und auf die Stadt hinunter blickten wie sie zugrunde ging und uns endlich zu Füßen lag. In dem versunkenen Leben waren wie die Hüter hinter den Fenstern, die Seelen hinter den Drinks, die Bewahrer der antiken Trümmer. Ganze Inseln versanken in Asche und Rost, doch wir hielten das Leben instand. In den versunkenen Tagen konnten wir bis auf den Grund tauchen und uns dort holen, was wir brauchten. Wir trieben die Ungläubigen aus der Stadt und ließen die Mädchen hier bei uns bleiben, wollten alles und erreichten doch mehr als genug. Du konntest deine Hände nicht im Wagen behalten und ich meine Zunge nicht in Zaum und wir zerstreuten uns in alle Herbstwinde und es half alles nichts, mein Geschwür breitete sich aus und unser Leben versank am Ende des Sommers in eine Grube, die kein Sonnenlicht mehr sehen würde, solange wir leben. In dem versunkenen Leben waren wir eins.

Es ist egal, was ich tue. Es ist egal, was ich sage. Der Fäulnis, die mich umgibt, ist nicht mehr beizukommen und der Tod hat sich fest eingenistet in diesem Körper voll mit schwarzem Öl. Schwer fallen mir die Bewegungen und was ihr als Unnahbarkeit oder Arroganz wertet, ist letztlich nur eine tödliche Trägheit, die es mir längst nicht mehr erlaubt, behende auf die Menschen, die ich einst liebte, zuzugehen. Verflucht ist diese Gestalt, die nachts am Spreeufer steht und die Lichter der Museumsinsel in ihren Augen trägt. Mürbe bin ich geworden. Mürbe und müde vom langen Kampf gegen die Krankheit. Schlafen will ich, nur noch schlafen. Mein verrottetes Herz in ein weiches Bett tragen, es in die Kissen versenken, mich endlich von ihm zu trennen und dann schlafen, nichts als schlafen.

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Die Allergien der Maschinen

A stream of numbers hit a screen
And you’re expected to know what they mean
Throughout the conflict I was serene
I can’t outrun the sadness I’ve seen
(Maximo Park – Our Velocity)

Die Maschine hat plötzlich Heuschnupfen. Nach all den Jahren. Verwundert reibt sie sich die Augen und sie tränen. Der Maschine ist schwindlig und sie verliert den Boden unter den Füßen. Plötzlich muß sie atmen und das fällt ihr auch noch schwer. Was zum Henker ist denn nun los? Die Maschine war doch immer so ein verlässliches Teil. So ein verlässliches Teil des Ganzen. Und im Frühjahr hat sie immer ganz besonders gut funktioniert. Und jetzt sowas. Der Maschine läuft das Öl aus, der Motor stockt, ihr ist schlecht. Die Maschine hat Heuschnupfen, sie fällt aus dem Rahmen, aus dem Ganzen und ehe sie sich versieht, liegt sie auf allen Vieren und schnappt nach Luft. Das ist der Moment, in dem ich anfange, die Maschine zu mögen. Ich nehme sie zu mir, weil sie sonst niemanden von Nutzen ist, stelle sie nach eigenen Parametern neu ein und reinige sie ein bisschen. Der Heuschnupfen wird so schnell nicht weggehen, aber in den kritischen zwei Monaten lasse ich sie nicht nach draußen. Sobald der Sommer in vollem Gange ist und sich die Gräser und Pollen weitesgehend aus der Luft verzogen haben, gebe ich der Maschine eine neue Aufgabe und schicke sie ins Freie. Ich mag es, wenn die Maschinen Heuschnupfen bekommen. Ich bin dann da und warte, bis sie aus dem Tritt geraten.

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Die Lethargie ohne Maria

While you’re waiting,
Be thankful for your fingers,
I’ll be fading
With the colors of your pictures
‚I’m not crying wolf,‘ you whisper,
‚I’m really dead this time…‘
I’m not joking when I tell you
I’d miss you all the time
I already miss you all the time
(Alkaline Trio – While You’re Waiting)

Das ist eine so tödliche Langeweile, die sich am Wochenende in meine Wohnung geschlichen hat. Mann könnte glatt von einer Sterbenslangeweile sprechen. Irgendwann hilft auch das Laufen nicht mehr, irgendwann nicht mehr das Essen. Die Muskeln erschlaffen und man liegt still, während links der Fernseher und rechts das Notebook läuft. Der letzte Anruf von dir scheint Wochen her zu sein, gehen die Stunden doch wie die Regenwälder zugrunde. Langsam und stetig aber nie ganz. Die Vorstellung andere Leute zu sehen, gleicht einer Fieberphantasie und die Erinnerung an jenen längst vergangenen Abend, wo du die ganze Zeit zu mir herüber geschaut hast in der Kneipe, die Erinnerung wirkt fremd, so als hätte ich sie irgendwo aufgelesen. In irgendeinem Buch, in dem ich von meiner glorreichen Zeit vor der Lethargie lese. Als ich draussen war, jung, prächtig und voller Willen. Ich trank literweise Pastis, redete hier mit jemand, flirtete da mit einer, ich war der König vom Prenzlauer Berg. Und je mehr ich Nachlese betreibe, desto unwirklicher werden meine Möglichkeiten und desto reeller meine Einzelhaft hier.

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Zwischen 15 und 16 Uhr quält sich der Zeiger, als müsste er bergauf ticken. Es ist kaum auszuhalten wie langsam die Zeit vergeht und wie schändlich schnell die guten Zeiten zurückbleiben. Ich wünschte, du wärst hier, mit deinen Launen und deiner wütenden Art, meine volle Aufmerksamkeit zu erlangen. Ich wünschte, du könntest deine Sätze hier in den Raum stellen und ich könnte mich damit beschäftigen, sie drehen, sie wenden, sie zerbrechen, sie verwenden, sie beenden. Ich könnte ins Kino gehen, ich könnte ein Schwimmbad besuchen, auf einem Konzert sein, oder entfernte Bekannte sehen. Aber alle Orte scheinen mir zu weit entfernt und alle Bekannten noch entfernter. Ich bekomme es mit der Angst zu tun. Wenn ich nicht bald die Matratzengruft verlasse, werden meine Muskeln so weich werden, dass ich nicht mehr von alleine aufstehen kann. Und ich bin mir nicht sicher, ob das nicht schon längst passiert ist. Am längsten Wochenende des Jahres. In den langweiligsten Stunden meines Daseins. Höchste Eisenbahn, dass du dich hier blicken lässt, Maria, wer immer du auch mittlerweile sein magst.

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Verdammt, ich lieb dich

Ich mag es, wenn die Dinge ein bisschen aus dem Ruder laufen. Die Zungen sprechen wirres Zeug, alles, was die Stadt an Sprachgut hergibt, mischt sich, die Temperaturen kippen aus den Latschen und man jagt meine Freunde wie räudige Hunde vom Hof. Das Wolfsrudel ist in alle Winde zerstreut und ich kann endlich wieder alleine jagen. Farben spielen verrückt, Formen keine Rolle. Es ist ein Fluss, der den Morast des Winters hinaus aus der Stadt spült und es ist eine Schwindsucht, weil man bald in voller Blüte wieder auftauchen kann. Sie kann so gravierend lächeln und er kann so grob sein, dass die Zeit gefriert. Das letzte Aufbäumen des Winters war die reinste Lachnummer und wir lachen heute noch. Modest Mouse sind Nummer eins in den Vereinigten Staaten und ich warte auf das Erwachen eines neuen Konservatismus. Es sind die Tage, an denen man sich verabschiedet von der winterlangen Nörglerei, weil man fast widerwillig zugeben muss, dass diese Stadt ein lichterloher Tempel ist, wenn man sie lässt. Ich reisse diese Stadt auf und nehm sie heute nacht mit zu mir nach Hause.

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To Make Ends Meet

Du bist so clever. Du stellst das alles ganz richtig an. Du rückst kein bisschen von deinem ursprünglichen Plan ab. Du bist dir so unglaublich sicher, dass die Stadt dich wieder ausspucken wird und du weich fällst. Dieses Gottvertrauen, dieser Aberglaube macht dich so einzigartig hier. In jeder nicht ausgeführten Bewegung, in jedem Verharren, in deinem fatal-apathischen Innehalten zeigst du mir, wie sehr es an der Zeit ist, mich in deine Richtung aufzumachen. Nur dein neugieriger Blick verrät dich. Deine Depression ist so unglaublich sexy.

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Als ich damals nach Berlin kam

Are you aching for the blade?
That’s o.k. We’re insured.
Are you aching for the grave?
That’s o.k. We’re insured.
(James – Getting Away With It)

Es war im Spätsommer 2003 und hinter mir lag ein Jahr voller Blut und vergebener Liebesmüh. Es war der finsterste Jahreswechsel meines Lebens gewesen und ich hatte mich noch gewundert, dass das Jahr überhaupt wechselte. Danach nahmen wir alle an Fahrt auf und Autos landeten im Straßengraben, wir rollten uns betrunken mit Instrumenten auf dem Boden, die Nächte wurden unerträglich lang, Freundschaften wurden in letzter Minute und im Eiltempo geschlossen und wir ließen München endlich sterben. Ich befand mich in schlechter Gesellschaft und ich war eine ebensolche. Ich zerriss alle Arbeitsverträge und brach mit alten, schlechten Gewohnheiten. Es waren noch ein paar Monate voller brutaler Scherze auf Kosten der alten Stadt, es gab noch ein paar unglaubliche Ficks und die letzten Sensationen, die wir aus diesem Blutsommer noch herauskitzeln konnten und dann verschwand ich mit all meinen Möbeln und einem weißen Transporter aus München.

Der Vermieter hatte mir mir noch Renovierungskosten von 2000 Euro angedroht und mich dann in letzter Sekunde vor dem Bankrott bewahrt, bevor ich den weißen Wagen bestieg, den guten alten Omnimike im Gepäck, den perfekten Begleiter für die Reise in eine Stadt, die jungen Leuten nix versprach und nicht im Traum daran dachte, irgendetwas zu halten. Das Wetter war fantastisch, die Siegessäule glitzerte uns an und es roch nach Algen, als wir in Berlin einfuhren. Die Stadt war ausgetrocknet, aber der September ließ ihr endlich wieder Luft zum Atmen. Die Leute trauten sich aus den Schatten in die Sonne und trieben Sport. Omnimike und ich, wir tranken Bier in den Straßencafes, kauften Döner und ich telefonierte mit dieser blonden Moderatorin und sah mich schon als ihr neuer Freund in der gemeinsamen neuen Stadt. Ich schlief im Park in der Mittagssonne ein und ich dachte an den verschmorten Engel zuhause in München. Meine Freundin rief an und war weder sonderlich besorgt um mich, noch interessiert genug an meinem neuen Zuhause. Nachdem Omnimike sich ins Auto zurück nach München gesetzt hatte, ging ich alleine ins Kino und danach fuhr ich durch die unbeleuchteten Straßen Kreuzbergs zu einem kleinen Club. Ein Auto mit betrunkenen Wahnsinnigen verfolgte mich, sie hörten in ohrenbetäubender Lautstärke Beethoven und schrien mich an. Panisch suchte ich mein Heil in unbekannten Nebenstraßen und verfluchte meine Einsamkeit.

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Während die Wochen voranschritten, fand ich mich hinter einer zerschlissenen Bar wieder und in einem modrigen Proberaum. Meine Besuche in München gerieten von Mal zu Mal morbider, der Sommer verzog sich ohne ein abschließendes Lächeln aus Berlin, meine Freundin machte mit mir Schluss und der verschmorte Engel hatte seine Flügel repariert und war im Anflug auf Berlin, um seine Feuer auch hier zu legen. Man war nicht sicher hier und man konnte sich nie sicher sein, was die Stadt von einem hielt. Ich begab mich mehr und mehr unter Menschen, keineswegs unter Einheimische, und ich begann zu verstehen, dass Berlin kein Irrenhaus war, sondern eine Art Erziehungsanstalt. Die Leute hier koksten sich um den Verstand, zogen sich die Haut ab, fielen sich gegenseitig an und machten sich so kaputt, dass ihnen ab 35 nur noch der komplette Rückzug ins Berufs- und Familienleben blieb. Der Prenzlauer Berg wurde zur geburtenreichsten Region Deutschlands und die sinnsuchenden Wracks zu den bravsten und produktivsten Bundesbürgern weit und breit. Die Rechnung ging auf, der Staat profitierte von der überzogenen Freiheit, von der aus dem Rahmen gefallenen Superindividualität der Zugereisten.

Mehr und mehr Freunde und Besucher versammelten sich um mich und am Wochenende verließen wir das ausfransende Friedrichshain und vergnügten uns selbstmitleidig in Mitte und am Prenzlauer Berg. Der erste Winter war per se nicht der Killer, den man uns angekündigt hatte. Ich war viel zu tief in mir versenkt, um zu frieren und nachdem der Feuerengel sich in London niedergelassen hatte, war die Stadt leer genug, um ein wenig Amok in den Kratern zu laufen. Wen interessierte da noch der Winter. Da gab es so ein Mädchen im Bastard, das ich so bewundert hatte und bis zum heutigen Tag alle vier Monate wiedersehe, wie einen Wiedergänger aus einer toten Zeit. Und ich kann sie nicht ansprechen, obwohl ich immer schon gerne über Leichen gegangen wäre. Dr. Dingsi nannten wir sie, fragen Sie besser nicht nach den Gründen. Die Wochenenden in Mitte riefen Geister und Bösartiges auf den Plan. Die Dinge kamen immer mehr in Gang, Berlin wurde von Tag zu Tag attraktiver nach außen und die Leute kamen in Scharen herein. Es war der Anfang eines Schaukampfs vor einer stetig gewinnenden Kulisse. Das Berlin, das ich heute beschreibe, in all seiner Pracht und furchterregenden Brutalität, hat seinen Ursprung in den Tagen, Wochen und Monaten von damals. Als ich damals nach Berlin kam, lag ein Sommer voller Blut hinter mir. Doch noch mehr Knochen würden splittern, die Kiefer brechen und die Messer, die man sich im Suff in die Mägen rammen sollte, wurden gerade erst scharf geschliffen. Die Stadt lag im September vom unbarmherzigen Sommer darnieder und atmete langsam, wie ein ruhendes Tier und sobald ich mich nahe genug heran traute, hieb ich ihr meine Stiefel in die Flanken und die Jagd begann. Als ich damals nach Berlin kam, war die Stadt ausgetrocknet und die Minen versteinert.

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This Land Is My Land

Ich weiß noch, wie ich losgelaufen bin als Kind. Über die große Wiese bis hinunter zum Fluß. Oder zur Reichermühle. Am liebsten war mir die Wiese nach dem Regen im Frühling. Der Heuschnupfen ließ noch auf sich warten, das Gras war gerade erst im Wiederaufbegehren gegen die fliehende Kälte, noch erschöpft von Schneedruck und Niederschlag. Ich war der Erste hier.

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Aus sicherer Entfernung war die Kirche für mich keine Bedrohung. Ich konnte zwar nie verstehen, wie man diese billig bemalten verkitschten Zwiebeltürme unserer Provinzen schön finden konnte, aber ich akzeptierte die zentrale Stellung des Gebäudes in unserer Dorfgesellschaft. Der Zwang, den sonntäglichen Gottesdienst nicht nur zu besuchen, sondern auch auszuüben war, was mich das Gotteshaus als so unangenehm empfinden ließ, dass ich ihm nicht freiwillig zu nahe kam.

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Ein Traum, den ich mir nie erfüllte, war, die Wiesen mit einem Rucksack und einem Zelt zu überqueren. Und mit genug Wurstsemmeln, um ein paar Wochen durchzuhalten. So ausgerüstet wollte ich die Wiesen durchschreiten, über Flüsse gelangen und Wälder durchkämmen, ohne in die Nähe von Dörfern oder Städten zu kommen. Der Blick der sich hinter dem Haus meiner Großeltern freigab, erinnert mich noch heute an den Wunsch, einfach nur loszuziehen und meine Umgebung kennenzulernen, fernab aller niederbayrischer Spießigkeit und herzlosem Siedlungsgehabe.

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Viele Jahre musste ich lernen zu vergessen, wie sehr uns unsere Heimat und der Begriff davon eingeschränkt und eingesperrt haben. Dann lernte ich zu akzeptieren, wo ich herkomme. Und jetzt begreife ich langsam, was es bedeutet, überhaupt woher zu kommen. Und gerade lerne ich, es zu mögen.

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Der Spuk

If you decide some day to stop this little game that you are a-playing
Im gonna tell you all the things my hearts been a-dying to be saying
Just like a ghost youve been a-haunting my dreams
But now I know youre not what you seem
Love is kind of crazy with a spooky little girl like you
(Dusty Springfield – Spooky)

Da ist zu wenig Grusel in meinem Leben, seit du weg bist. Da ist zu wenig Angst und zu wenig Grauen. Ich wandelte durch München wie ein Untoter und du kamst nie zu mir, du tauchtest nur vereinzelt auf, du erschienst mir. Du, die bleiche Erscheinung mit dem geisterhaft blonden, fast weißen Haar, den wässrigen, taghellen Augen und deiner finsteren jungen Seele. Dein pechschwarzes Herz und mein gleißendes Verlangen paktierten in jenen Tagen in einer unheiligen Allianz, doch ein Geist kennt keine Regeln, keine Gesetze. Er ist körperlos, er durchdringt Wände, Barrieren, Häuserfronten und schreckt nur vor fließendem Gewässer zurück. Am Fluss scheutest du. Du hieltst an, da wurdest du immer eine Weile fleischlich, du materialisiertest dich, solange wir zusammen am Fluss saßen und ich konnte dich bei den Füßen packen und hinter mir herzerren, solange bis der Abend kam und du, langsam durchsichtig werdend, vom Fluss Abstand nahmst. Ich blieb leise winkend zurück, nicht wirklich gewahr dessen, was ich gerade gesehen hatte.

Einst hatte ich die Idee, dass dich wohl einst jemand hingerichtet haben muss und du fortan umgingst. Ein ewiger ruheloser Rachegeist auf der Suche nach Vergeltung. Nie sah ich dich Auto fahren, nie auf dem Fahrrad, nie in der U-Bahn. Selbst wenn du nach Berlin kamst, warst du plötzlich da. Standest plötzlich vor meiner Haustür, lagst plötzlich in meinem Bett und warst genauso plötzlich wieder weg. In London, Barcelona, München, Lissabon, Berlin und wieder zuhause. Unsere Begegnungen erfolgten heimlich, unsere Berührungen waren unheimlich. Schauer über Schauer über Jahre und Jahre überkamen mich bei dem bloßen Gedanken an dich.

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Ich war damals nach München gekommen, um zu arbeiten und du warst gerade hingekommen, um dort zu studieren. Das erste Mal erschienst du mir in einer Diskothek, inmitten von Hunderten standest du plötzlich und leuchtetest in die Nacht hinein. Nie und nimmer hätte ich mich in deine Nähe getraut, aber es gab Leute die den Mut besaßen. Und denen folgte ich, spürte sie auf, befragte sie nach dir und hielt sie solange fest, bis sie mir deinen Namen nannten. Eines Abends, als du fast durch mich hindurchglittst auf einem Konzert, nannte ich deinen Namen und deine milchigen Augen (die von Jahr zu Jahr wässriger wurden) richteten sich auf mich. Von dem Abend an versuchte ich, dich wiederzutreffen, aber es lief nie nach meinen Vorstellungen, nach meiner Planung, nur zu den unmöglichsten Zeiten und oft in tiefer Nacht kamen wir zusammen. Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass es dich an die Isar zog, dass du nur da wahr werden konntest. Und so saßen wir ganze Sommer lang am Fluss und ich tat nichts weiter, als deine Haut zu bestaunen, wie die Sonne darauf fiel und mich zu wundern, dass du offensichtlich aus Fleisch und Blut warst.

Doch die Sommer gingen zu Ende und du verschwandst für Monate. Ich streifte durch ein verschneites München und suchte dich, ich hatte Fieber, ich war entkräftet, aber ich konnte nicht aufhören dich zu suchen. Manchmal fand ich dich im Winter und kurz streiften mich deine wässrigen Augen, aber wenn ich nur eine Sekunde abgelenkt war, dann warst du mir wieder entrückt. Bald beschloss ich, den Fluch der auf uns lastete, selbst beizulegen. Ich ließ noch einen Sommer passieren, ich zwang dich noch ein paar Monate an den Fluss, doch bevor der Herbst kam, verzog ich nach Berlin. Ich hätte wissen müssen, dass ein körperloses Wesen die 600 Kilometer spielend zurücklegt, dass es keine Stadtgrenzen und keine Häuserwände für den Spuk gibt. Ich versuchte mir so gut es ging, ein metaphysisches Zuhause nach eigenen ektoplasmischen Parametern einzurichten, doch du warst nicht aufzuhalten. Einmal bliebst du mehrere Monate lang und ich begann, an deine Existenz zu glauben. Als die Wohnung dann an einem Morgen im Frühjahr ohne eine Spur deiner Anwesenheit zurückblieb, wusste ich, dass der Spuk nur dann aufhören würde, wenn ich aufhörte, an ihn zu glauben. Ich veränderte alles. Ich zog in eine andere Wohnung, ich zerstörte alle diese schemenhaften Aufnahmen von dir, ich verbannte deinen Namen aus meinem Kopf und alle Zahlen- und Buchstabenkombinationen, die mit dir zu tun hatten. Und du erschienst mir nicht mehr. Dein geisterhaftes Eintreffen blieb endlich aus.

Jetzt, viele Jahre später, weiß ich, dass ein Spuk wie dieser nicht einfach aufhört. Er wird nur schwächer. Ihn zu amplifizieren oder zu ignorieren liegt allein in meiner Hand. Wenn ich blutend und weit offen, schwanger mit sinistren Ideen und voll mit Schnaps nachts nach Hause gehe, an der unbeleuchteten Zionskirche vorbei, in der wir zusammen gebetet haben, dann spüre ich, wie du hinter mir gehst. Die Frage ist dann nur, ob ich mich umdrehe. Es gibt zu wenig Angst und Schrecken in meinem Leben. Zu wenig Thrill und Grusel. Mir fehlt der nächtliche Terror und die bangen Sekunden vor deinem Auftauchen. Die Frage ist tatsächlich, ob ich mich umdrehen soll.

Jetzt auch als gespenstisch guter Blogread Beitrag vom stark vermissten Rationalstürmer!

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Ich bin dann soweit

Komm schon, zieh dich an. Gleich beginnt das Wochenende. Ich bin schon fertig, ich bin bereit. Wenn du soweit bist, können wir losfahren. Wir steigen in den Wagen und fahren raus aus der Stadt. Die Häuserfronten schälen sich fast lautlos hinüber zu Szenarien, die wir fast vergessen hätten. Endloses Grün und eine unüberschaubare Weite, viel zu viel Luft zum Atmen und Wälder, in denen man sich vor seinen Gläubigern verstecken kann. Und du kannst deine Spinnereien, deine peinlichen Eitelkeiten, deine klebrigen Liebhaber und deine Drogen, du kannst sie alle in der Stadt lassen. Die haben hier draußen überhaupt nichts mehr verloren. Deine Tränen sind bis zur Stadtgrenze getrocknet und deine kaputte Haut wird sich regenerieren, sobald wir außer Landes sind. Du musst nicht mehr überlegen, ob du dir deinen Pagenkopf schon wieder zurechtstutzen sollst. Du musst nicht mehr überlegen, wann du wem welche SMS schreibst und du musst nicht mehr im Büro sitzen und tatenlos zusehen, wie sich andere an dir vorbei in den Vordergrund spielen. Und deinen Freund, deinen Freund musst du auch nicht mehr anlügen. Du bist jetzt eine Frau, die Mädchenjahre sind vorbei und dieses Mal haben wir das erste Mal wirklich nichts Besseres zu tun, als zusammen zu sein.

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Ich habe dich in diese Stadt gebracht, hab dir ihre Monstrositäten gezeigt und dich ihr überlassen. Du wärst fast ersoffen in der Spree, der Berliner Stadtverkehr hätte dich fast überrollt, der scharfe Ostwind hat dir fast die Haut abgezogen. Und ich war so beschäftigt damit, meine eigene Haut zu retten, das ich am Ende nicht einmal mehr wusste, wo du wohnst. Doch jetzt hab ich dich geholt und hole dich hier raus, denn wir fahren zurück zur Unschuld, aufs Land, in die Berge, an die Seen, ans Meer. Und das Wetter riecht nach 22, meine Haare wachsen schneller und dein Mund passt auf meinen wie die Faust aufs Auge. Wir können uns zurücklehnen und es mit uns passieren lassen, denn da ist nichts mehr was uns ablenkt. Nicht mehr lange und wir heiraten und unsere Familie wird gesund sein, so wie wir. Jetzt komm schon, zieh dich an. Gleich beginnt das Wochenende. Wenn du soweit bist, können wir losfahren.

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