Wie ich einmal die Melancholie verlor*

Nothing to regret
(Slayer – Dittohead)

Es gab einmal eine Zeit, da war ich der Melancholie fetteste Beute Deutschlands. Ich brauchte nur morgens aus dem Fenster schauen und schon überkam mich die Erinnerung an Exfreundinnen, Autofahrten in bayrischen Sommern meiner Jugend oder Studentenparties mit Schwarzem Afghanen im Nussjoghurt. Und das war nur beim Aus-dem-Fenster-schauen. Frag nicht, was passierte wenn ich zum Aus-dem-Fenster-schauen auch noch Musik gehört habe. Ich hab diese Melancholie immer angenommen. Hab immer gedacht, mein Gott, was soll’s, du bist halt so ein Melancholischer. Und als Speichermedium hab ich sie benutzt. Speichermedium für wie man sich gefühlt hat. An die Fakten erinnerst du dich ja in den meisten Fällen, aber selten wie etwas gerochen hat, oder wie einem der Bauch mitgespielt hat oder anderes metaphysisches Zeug. Die Musik und die Melancholie, das war also der Speicherstand von meinen Herzensabenteuern der vergangen Jahre. Damit hab ich mich abgefunden.

Irgendwann ist die Melancholie aber von einem Tag auf den anderen weg gewesen. Ich will jetzt nicht auslassen, dass das koinzidierend mit einer Frauengeschichte zusammengefallen ist, aber es war schon erstaunlich. Weil da zerreisst du dir jahrelang das Herz und zermarterst dir das Hirn, alles wegen ein paar Liedern und Wetterszenarien und dann stehst du eines Morgens auf und schaust aus dem Fenster wie jeder normale Mensch auch. Jetzt war ich aber nicht neu verliebt oder so über Gebühr Glückbetankt, dass die Melancholie praktisch von der Glückseligkeit erquetscht worden wäre. Ganz im Gegenteil: das Mädel, um das es jahrelang ging, war von heut auf morgen unter die Kofferpacker gegangen, und hatte mir das noch schlagende Herz herausgerissen und gesagt: „Schau, das Ding schlägt doch immer noch, ich weiß gar nicht was du hast.“

Also von guten Zeiten keine Rede. Und auch nicht davon, dass ich ab dieser Amputation nicht mehr an dieses Unmädchen gedacht hätte. Geärgert hab ich mich noch oft und geflucht wurde wie ein Unwetter. Aber die Melancholie, die war weg. Wenn man es simplifiziert, ist die Melancholie ja ein Mittelweg aus Verzweiflung und Hoffnung und genau dieser Mittelweg war plötzlich verschwunden. Wutanfall oder Spaßausbruch, aber kein Mittelweg mehr. Das war dann schon gewöhnungsbedürftig am Anfang. Du sitzt im Auto und da kommt ein melancholisches Lied, das du mit diesem Unmädchen gehört hast, die Sonne scheint aufs Amaturenbrett und du spürst nichts. Da hätte jetzt auch was von Slayer laufen können, gleiches Resultat. Keine Melancholie. Keine Seele, kein Gefühl, noch nicht einmal ein Gedanke. Ein bisschen war das so, als hätte man den Geruchssinn verloren. Aber da sieht man mal, wie der Mensch gleich wieder undankbar wird. Weil auch wenn ich mir jahrelang eingeredet habe, du musst die Melancholie annehmen, das gehört nun einmal zu dir wie der grässliche Wind zu Ostberlin – in Wirklichkeit hat mich die Melancholie ganz oft gehandicappt im Leben. Vor allem im alltäglichen Leben.

Ich mein, du gehst in den Supermarkt und musst dringend einkaufen, weil daheim alles weg, und plötzlich stehst du vor dem Gewürzefachregal und siehst den Kümmel, von dem sie damals gesagt hat, den kaufen wir dir jetzt, weil du ja nicht immer nur mit Salz würzen kannst. Heute weiß ich, dass ich das sehr gut kann, aber das ist eine andere Geschichte. Na, auf jeden Fall stehst du vor dem Gewürzefachregal und starrst auf den Kümmel und musst fast heulen. Der Supermarkt schiebt seine Regale ganz dicht an dich heran und du fühlst dich furchtbar ertappt und bloßgestellt so in der Öffentlichkeit mit deiner Melancholie. Du rennst nach Hause, ohne die Sachen gekauft zu haben und es ist gleich Sonntag und nichts ist daheim. Und nur wegen der Melancholie. Das Kapitel Melancholie nach Alkoholgebrauch möchte ich eigentlich noch nicht einmal ansprechen. Was sich da oft für Szenen in Bars und Diskotheken abgespielt haben. Wie oft mir da die Melancholie schon einen Strich durch den Wochenendfick gemacht hat, ach, ich will’s gar nicht wissen.

Ja und heute ist sie weg, die Melancholie. Jetzt sind aber in der Zwischenzeit in meinem Leben durchaus schlimmere Sachen passiert als so ein Herzherausriss von so einem Unmädchen. Und es ist nicht so, dass ich mich nicht geärgert hätte oder auch ein bisschen globalverzweifelt. Aber von Melancholie war da keine Spur. Nichts hab ich erhofft und nichts bedauert. Es war halt wie’s war und jetzt ist es wie’s ist. Jetzt hör ich euch sagen: Ach, entweder der lügt uns an oder der ist eine ganz arme Sau, wenn der gar nicht mehr melancholisch sein kann. Und ich gebe es zu: ein bisschen merkwürdig ist das schon heute immer noch, einfach so in der Früh aus dem Fenster schauen und einfach nur den Verkehr sehen. Oder die Müllabfuhr. Aber man gewöhnt sich ja an alles.

*Diese Geschichte stammt aus der Reihe KURZSCHLUSS, einer Initiative von dragstripgirl.de. Weitere Beiträge zum Thema „vergessen/vergessen werden“ findet man bei

To01
Kleinodyssee
Bisaz
Bastmaat

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*Die Merkwürde des Menschen ist unantastbar.

The Man Who Stared At Alice In 3D And Fell Asleep

Am Donnerstag The Men Who Stare At Goats gesehen und mich ein bisschen gelangweilt. Albernheitslevel war zu weit unter der Nackten Kanone 33 1/3 und zu deutlich über Three Kings. George Clooney eh wieder eine Ausgeburt an Spielfreude, aber das ist ja auch nichts Neues. Und Ewan McGregor scheint seinen Job eher wie ein Barkeeper zu erledigen: Hingehen, ausschenken, heimgehen, vergessen, ausschlafen.

Dann heute nachmittag Alice in 3D gesehen und ich meine nicht jemanden von der DSL-Hotline auf einen Kaffee getroffen. Hätte aber auch nicht langweiliger sein können, so mit Einschlafen in der 17-Uhr-Vorstellung. Gähnende Leere, wo ich eine Handlung vermutet hatte und diese Disney-bereinigte Burton-Ästhetik ging mir auch auf den Zeiger, wobei mir Tim Burton seit Sweeney Todd eh ein bisschen über ist, was nichts daran ändert, dass ich ihn im Grundsatz verehre.

Am sinnentleertesten fand ich aber dieses 3D. Konnte ich bei Avatar noch staunen und hatte ich mich bei Cloudy With A Chance Of Meatballs schon daran gewöhnt, so hab ich es jetzt nach fünf Minuten Laufzeit überhaupt nicht mehr bemerkt und erst dann wieder als mir im Halbschlaf die Brille von der Nase gerutscht ist. Aus meiner „Sicht“ ganz sicher nicht die Zukunft des Kinos. Dass Verleiher und Hersteller da anderer Meinung sind, verstehe ich freilich, immerhin kommt die Wirtschaft rund um den Wettbewerb gegen DVD und illegale Downloads wieder tüchtig in Schwung.

Ich werde aber sicher schon in einer Woche vergessen haben, ob ich den Film jetzt in 3D, 2D oder auf meinem alten Röhrenfernseher gesehen habe. Ja, ich weiß, auch der sendet in 2D – ich wollte auch nur der Bombastik etwas anachronistische Drastik entgegen setzen. Ich sag jetzt mal, 3D wird nicht so groß, wie man das grade allerorts prognostiziert. Bildtelefonie hat sich ja auch nicht durchgesetzt, obwohl es schon seit den 60er Jahren möglich gewesen wäre.

Und ist mir das aus Gründen der Polemik falsch in Erinnerung, oder habe ich nicht auch schon mit 12 auf dem Straubinger Gäubodenfest 3D-Filme gesehen und für nicht so schnöfte erachtet? Falls ich mich täuschen sollte, kauf ich mir natürlich sofort einen 3D-tauglichen Fernseher, damit ich zumindest nicht mehr in einem vollgestopften Kino flankiert von menschgewordenen röchelnden Grippevirenverteilerkästen sitzen muss, wenn ich dann doch mal einen Film in 3D sehen will oder muß.

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Ein Samstag im Februar aber ohne Angst

Es ist schon merkwürdig wie furchtgetrieben unsere Gesellschaft ist. Wir machen uns mehr ins Hemd als jede unserer Vorgängergesellschaften, dabei ist zumindest ein westeuropäischer Alltag sicherer als das Amen in der Kirche. Selbst wenn jede Woche vier Flugzeuge vom CIA, äh, ich meinte arabischen Terroristen entführt werden, wäre Fliegen noch hunderte tausende Male sicherer als Autofahren. Jetzt stell dir vor, du würdest jedes Mal bevor du ins Auto einsteigst, gefilzt und geröntgt werden. Igitt und das Internet ist ja sowieso die größte Gefahrengrube. Pädophile, Raubkopierer und Pornoproduzenten. Scheckkartenhacker, Online-Versand-Nepper und ungeprüfte Teppichhändler. Lebensgefahr kann man da nur sagen. Aber das ist ja nicht alles: weil am meisten haben die Leute ja heutzutage ja Angst, dass sie nicht das bestmöglichste aus ihrem Leben machen, als da wären: Gangsterrapper, Chefkoch, Hundetrainer, Mutter von sieben Kindern, Ortsvorstand der FDP, Rockmusiker, Pornodarsteller, Bonusbanker, Buchautoren oder Blogger mit Monatsfestgehalt. Und auf jeden Fall ins Fernsehen. Ich weiß, ich hab das alles schon mal geschrieben, aber als Blogger ohne Monatsfestgehalt darf ich mich ja wiederholen wie ich grad lustig bin. Zurück zur Furchtgesellschaft: ein mitreissendes Klima, wie ich finde. Früher hatte ich weniger Angst, aber seit alle soviel Angst haben, bin ich auch ein bisschen ängstlicher geworden. Den Tod fürchte ich zum Beispiel neuerdings und ihm vorangehende Krankheiten. Das hat wohl auch mit dem Alter zu tun. Aber eins hat sich nicht geändert, egal ob ich mich früher vor einer Physikklausur gefürchtet habe oder heute vor der totalen Sinnentleerung unserer Gesellschaft: Mit drei Nachmittagsbier an einem sonnigen Samstagnachmittag ist die Furcht wie fortgeschwemmt. So mir nichts dir nichts. Saufen rentiert sich. Und wenn jemand was anderes sagt, dann lügt er oder hat Angst vorm Bier.

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Valiumträume

Und dann sinke ich wie ein Block Blei in die Tiefe meines Schlafs. Verharre dort regungslos. Für Stunden. Am Ende dann doch der Traum.

Meine Eltern haben ein Haus in Bonn, ich bin der Pflichtgast, die Bootsfahrt dahin war anstrengend. Das Haus liegt neben dem Stadion, es ist laut. Die geladenen Gäste piesacken mich mit Fragen und Scherzen auf meine Kosten wie damals, als ich noch ein Kind war, aber alt genug, um schlechten Humor zu erkennen. Eine deutsche Hip Hop-Band gibt eine Einlage und auch die ist mies, wie Fettes Brot auf kindisch und ohne die Ironie. Diese Jungs lassen mich nachts nicht schlafen mit ihren Witzen. Nach Berlin fliege ich zurück, aber man hält mich stundenlang am Flughafen auf und durchsucht mein Gepäck. Zurück in Berlin, ich bin verabredet mit einem alten Bekannten. Mit dem Fahrrad rase ich einen Berg hinunter, der mich verdächtig an den Uniberg in Regensburg erinnert. Ganz verdächtig. Ich komme an ein weißes Gebäude, vor dem eine Grünfläche liegt. Grasgrün, ohne Hundedreck. Die Hip Hop-Jungs aus Bonn geben eine Einlage und haben sich als Proleten verkleidet, so wie Dendemann das gerade macht. Eine kleine Menge Menschen steht herum. Maximal neugierig, aber noch nicht einmal interessiert. Als die Bonner Hip Hopper mich sehen, sind sie erfreut.
„Der Mann mit dem Led Zeppelin T-Shirt.“, sagen sie und kann sein, dass ich das gestern noch anhatte.
Sie packen ihr Zeug zusammen und wir gehen in das Innere des weißen, einstöckigen Gebäudes. Es ist eigentlich eher ein Überdach, ein steinerner Pavillon mehr als ein Gebäude. Die Hip Hopper reden mit mir, aber ich kann fast nichts hören vor lauter Sonne. Und nichts sehen, ich muss die Augen fast schließen, weil egal wo ich stehe, scheint mir die Sonne ins Gesicht, überblendet alles. Die Seite des steinernen Pavillons, die nicht zu der Grasfläche hinausgeht, zeigt aufs Meer. Sie liegt mindestens 30 Meter über dem Wasser. Funkelndes blaues Wasser, wie soll man das anders sagen, wenn es halt so ist.
„Hör mal, Mann.“, sage ich zu einem von den Hip Hoppern. „Das hier ist wie in L.A. Das Licht, das Meer. Wenn du nicht wüsstest, dass wir in Berlin sind, das könnte auch der Pazifik sein.“
Der Hip Hopper aus Bonn nickt ehrfürchtig und starrt jetzt auch aufs Meer hinaus. Seine zwei Bandkollegen tun es ihm gleich. Ich gehe raus, den Abhang hinunter und frage mich, warum mir das mit dem Meer und dem Licht nicht schon eher aufgefallen ist. Unten angelangt stehe ich vor der Stadtautobahn, die am Ufer entlang führt. Die 100. Schade eigentlich, dass noch eine Straße vor dem Wasser liegt. Aber vielleicht ist das auch nur eine urbane Besonderheit, die eben zu unserer Stadt gehört und man sollte nicht undankbar sein, denn welche Stadt hat schon ein Meer und so ein Licht obendrein.

Und dann bin ich aufgewacht und da muss sich jetzt keiner wundern, dass die Sonne ins Schlafzimmer hineingebrochen ist wie ein Scheinwerfer.

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Dylan Thomas

O may my heart’s truth
Still be sung
On this high hill in a year’s turning.
(Dylan Thomas – Poem In October)

So you watch the sunrise sinking, and she’s talking in her sleep. Das läuft im Autoradio. Auf der Rückfahrt. Weil ich ja dort im ersten Industrieort nach den zig Kilometern aus der Stadt heraus erst die CD kaufen werde. In meinem Szenario sind wir aber noch auf der Hinfahrt, wie das halt oft so ist mit Erinnerungen, reinste Eigenkomposition. Es ist vermutlich schon Anfang Oktober, aber ich schwöre, das ist der einzige Oktober, der das Prädikat golden verdient hat seit ich in der Stadt bin. Alleen, Alleen, die Bäume streicheln die Straße, so tief und grün hängen sie. Von Herbst keine Rede und keine Spur. Perspektive, nichts als Perspektive.

Nach einem Monat Berlin bin ich high wie der Mond über dem Boxhagener Platz, wo ich fast wohne. Nicht schön da, aber ein fast krimineller Gegensatz zur toten Idylle Schwabings noch vor einem Monat. Ich bin am Leben wie eine Seuche und das in zwei Welten. Diese Tage in Berlin ohne Idee, die erst dann aufhören, wenn man es will und in den Zwischentagen in München, dieser innerhalb von vier Wochen völlig fremdartig gewordenen Stadt. In Haidhausen bei der blonden Freundin, die in einer Agentur gearbeitet hat. Die süße blonde Freundin in der blinden Stadt. Diese Idylle im unverschämten Sonnenlicht, hinter dem sich angeberisch die anmaßenden Alpen abzeichnen, wenn man einmal nicht aufpasst. Über den in Sonnenlicht ertränkten Platz gehen und immerhin ist da ein Laden auf dem Hell steht.

Und in wenigen Stunden wieder in der neuen Welt, auf Parties, zu denen man nie eingeladen werden wollte, endlich wieder wildfremd und voller Idiotien. Eine Weile keine Ahnung haben und dabei keine Angst, das ist eine Gauklerei, die mir danach nur noch in den zwei Monaten Barcelona gelingen wird. Noch sind alle Türen ausgehängt, alle Wege offen. Und in die Nächte hineinversinken mit Medizin und Gin Tonic, das geht eine Weile gut, aber am Ende wird es nicht gut ausgehen. Und am nächsten Ende ein paar Jahre später dann vielleicht doch wieder. Und dann…, wer weiß. Aber jetzt einmal noch das Fenster aufmachen – im Auto von dem einen Freund, der mitgereist ist – und an der goldenen Luft fast ersticken. Just one More drink and then I should be on my way home. I’m not entirely sure what you’re talking about, sagt das Autoradio und zuhause kriecht schon Dylan Thomas aus den Startlöchern.

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Der Gummiball

Ich weiß auch nicht, ob ich einfach nur mit jedem Jahr grantiger werde, oder ob es an den Anderen liegt. Ich hoffe ja auf das Erstere. Denn wenn ich derzeit morgens den Spiegel Online oder die SZ Offline aufschlage, dann lang ich mir zunächst ans Hirn. Standardgeste. Egal, welchen Wochentag wir haben, die sogenannten Aufmacher sind immer Sachen, wo man denkt: „Ja, seid’s ihr nicht gescheiter?“.

Die Leute streiten sich um Geld, was längst nicht mehr da ist, hauen sich die Köpfe aus Gründen zusammen, die sie selbst nicht mehr wissen, die meisten armen Schweine ham eh nix zum Fressen und zwischendrin haut die Natur immer wieder mal mit dem Dampfhammer rein, um uns zu erinnern, dass wir hier nicht die Hosen anhaben. So Unmenschen wie Guido Westerwelle dürfen sich ungestraft Minister nennen und von Schröders Politik der ruhigen Hand sind wir mit der Merkel bei der Politik der Hand in der Hosentasche angelangt. „Unser“ Papst ist dabei, einen verbrecherischen Ignoranten und Antijudaisten wie den Pius selig zu sprechen und einen Revisionisten wie den Johannes Paul Part 2 gleich noch heilig. Fehlt nur noch dass der ehemalige Hitlerjunge selbst zu Lebzeiten seine eigene Himmelfahrt bewerkstelligt.
Der Kulturteil beherbergt so Finsterlinge wie Helene Hegemann und Maxim Biller und deutsche Theaterproduktionen sind sowieso längst dem Wahnsinn verfallen. Im Fernsehen regiert der interessierte Laie, ob als Moderator, Kameramann, Schauspieler oder Sänger und im Radio läuft immer noch Summer Of 69. Nur der Fußballsport scheint eine unverwüstliche Delektable im Leben eines modernen Menschen sein, auch wenn Wolfsburg neulich Meister geworden ist.

Ich versuche mich wirklich ernsthaft zu erinnern, ob ich mich die Desillusion über das moderne Dasein schon mal so verdrossen hat und ich werde vielleicht in den 80ern und 90ern fündig, als mir Gudrun Pausewang noch Angst vor Atomkrieg und Atomkraft gemacht hatte, als der Regen noch sauer und die Raketen scharf waren, als die Mauer noch stand und Leute wie Ceausescu und Milosevic praktisch vor der Haustür über Leichen gingen. Irgendwie hatte ich nach dem Ende des Kosovo-Konflikts gedacht, man befände sich globalpolitisch auf einem langsamen aber steten Weg der Humanisierung. Man kann jetzt gegen Schröder, Fischer und Konsorten sagen was man will, aber auch in Regierungsfragen machte ein anderer Ton die Musik. Das Bollwerk sozialer Ignoranz, die Ecclesia Kohl, zerfiel und vorbei waren scheinbar auch die Zeiten solcher Agitzündler wie Strauss oder Geissler, von Schönhuber mal ganz zu schweigen. Und im Gazastreifen sind Frauen in kurzen Röcken in ein Kino gegangen, glaub es oder nicht.

Mir kommt es vor, als hätte man die Uhren unserer Kultur wieder um ein ganzes Stück zurückgedreht. Aber vielleicht ist unsere Zivilgesellschaft auch an eine nicht zu überquerende humanitäre Grenze gestoßen und davon abgeprallt wie ein Gummiball.

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Palästina

How long will you wait
At the shady end of the slope
Am I already late
With my pyramide sized hopes
(Kashmir – Still Boy)

Die Mädchen im Zug scherzen herum. Mädchenscherze, das kann man hören, auch wenn man kein Hebräisch kann. Süß sehen sie aus mit ihren Locken und der dicken Schminke, auf jeden Fall nicht erwachsen. Die Uniformen sitzen toll, das sieht ganz organisch aus. Selbst die polierten Griffe der Maschinengewehre in ihren Händen glänzen angenehm träge in der Mittagssonne. Überhaupt ist die Stimmung ganz gelassen in dem Zug. Die Mädchen scherzen herum und der Rest telefoniert.

In Tel Aviv sitzen wir an dem Frühstückskiosk und trinken frisch gepressten Orangensaft. Am Nebentisch zwei Models, eins einheimisch, das andere wo anders her. Die Frühjahrssonne lullt uns in den Vormittag hinein. Kein Mensch möchte bei so einem Wetter arbeiten oder Krieg führen. Ich würde rauchen, aber mein Magen ist ruiniert. Unten am Meer, in Jaffa, mit den Katzen und dem Auf und Ab der kleinen Treppen, hat man den weißen Blick auf Tel Aviv. Die Hochhäuser dort kennen eine Menge Tricks und Kniffe. An einem Sabbath liegen die Leute am Meer und ein paar betätigen sich als Surfer. Das Dolphinarium ruht brach und verfault über dem Wasser, seit sich 2001 jemand freiwillig mit vielen Unfreiwilligen in die Luft gesprengt hat. Eine 747 kommt übers Meer, über den Strand, in die Stadt.

Nachts ist alles so, wie man es kennt. Die scharfen Weiber sind in den Clubs mit der scheiß Musik und die gute Musik ist da, wo die Ökos und Emos sich die Zeit vertreiben. Bist du DJ aus Berlin, bist du wer, das kann man den Südländern einfach nicht austreiben. Und die ganzen Restaurants. In Tel Aviv machen sie was aus ihrem vielen Gemüse. Anders als in Jerusalem, wo sie eine Gurke und eine Tomate in kleine Teile schneiden und damit hat sich’s. Mein ruinierter Magen hat eh nichts davon. Kein Mensch kann vernünftig Auto fahren und der Asphalt ist noch warm vom Nachmittag.

Der Busbahnhof von Jerusalem ist waffenstarr. Ich muss hier weg. Die alte Jaffa-Straße in die Altstadt. Vorbei am Markt, der unzerstörbare Markt. Alles wirkt wie eine Echtzeitumsetzung vom ersten Assassin’s Creed. Wie modellgetreu die Stadt von Süleyman dem Ersten immer noch wirkt. Wir suchen uns aus, ob wir über die Dächer gehen oder unten durch. Ein Labyrinth, ein Spiel, genau wie die Windungen und Ecksäle der Grabeskirche, wo der Griechisch-Orthodoxe die Leute ins Grab Jesu hinein- und wieder hinausherrscht. Der Tempelberg, der Felsendom, das gelobte Plateau, und es kümmert sich niemand um den Olivengarten dahinter. Der an die Stadtmauer heranreicht. Die Stadtmauer über dem goldenen Tor, das zugemauert ist, nur für den Fall, dass der Messias doch noch. Müll und Katzen in dem Olivengarten. Im arabischen Teil ist es lauter, freundlicher, gelassener. Niemand nimmt Notiz oder Abstand von uns. Wenn man muss, kann man miteinander.

Mitten in Bethlehem. Mitten in der West Bank. Eine Kolonne Autos der Fatah. Niemand schießt mit dem Maschinengewehr in die Luft, aber es wird gleich dunkel. Ich habe die Mauer zuerst für einen Schallschutz gehalten. Zu grotesk erschien mir die schiere Gewalt der Trennung. In Berlin kennen wir keine Mauern mehr. Über diesen Satz habe ich nachgedacht, ihn trotz des übermächtigen Klischees hier hinein geschrieben. Wir nehmen die falschen Abzweigungen und sind die plötzlich die Einzigen. Jetzt erkennt man uns. Alle sehen uns zu, wie wir etwas suchen. Ein unangenehmes Gefühl ist das. Zuflucht vor diesem Gefühl haben wir in der Geburtskirche gefunden. Die Holzbalken hoch oben haben was Katholisches in mir aufgeweckt. Eine Ehrfurcht. Ich habe mich ohnehin schon gefürchtet. In der West Bank. An den Checkpoints. In dem Land.

Die Ruhe vom Toten Meer ist schwarz. Eine stille Masse Wasser, lautlos, farblos und dunkel. Ein paar Meter nur nach Jordanien. Ein paar Meter nur bis zum heiligen Gral aus Indiana Jones und der letzte Kreuzzug. Um das Tote Meer herum ein paar ausradierte Landschaften. Leere Häuser, Einschusslöcher, Bushaltestellen. Mitten in der Wüste, gleich neben Jericho so tief alles unter dem Meeresspiegel. Still ist es, selbst wenn jemand vorbei fährt. Eine Rauchsäule, man denkt gleich Uh. Aber dann nur Palmenblätterverbrennung. Es riecht nach Verbranntem, kilometerweit und schon wieder ein bisschen Ehrfurcht, aber diesmal nicht katholisch. Im Bus spricht uns ein palästinensisches Mädchen an. Es geht in die sechste Klasse in Jerusalem und lernt Deutsch. Sie will wissen, warum wir hier sind. Überhaupt wollen das immer alle genau wissen.

Um den Flughafen herum überall diese Orangenbäume. Im Flughafen drin eine Ruhe. In all dieser Ruhe gesamtbiografische Durchsuchung. Ich mach einen Spaß nach dem anderen, trotz Aviator-Sonnebrille und dunklem Haar, vielleicht gerade deshalb. Tief in die Augen wird einem geschaut und gestoppt wie lange es dauert, bis man auf seinen phonetisch verhunzten Vornamen anspringt. Man sollte nie zulange mit etwas warten hier, bei aller scheinbaren Ruhe. Zwei Hosen und einen Magen hab ich mir hier ruiniert. Aber es geht ja immer weiter.

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Russischer Spam

Hier hat sich alles festgefroren, könnte man meinen. Weil selbst der Akismet-Spam kommt offensichtlich aus der Tundra. Immer eine beispielhafte deutsche Kältesteppe ist auch das Berlin. Aber das Berlin ist einem nicht feindlich gesinnt, das ist ein populäres Missverständnis. Angegriffen von der Kälte fühlt sich nur derjenige, der auch sonst gern in die Defensive geht. Zum Beispiel weil der Arbeitskollege mehr verdient. Oder weil das einjährige Kind nur langsame Fortschritte im Englischunterricht macht. Oder der Baby-Yoga-Kurs zuviel kostet. Aber ansonsten ist es halt einfach kalt. Eine Weile hat keiner reagiert, weil so ein Frost ist ja auch immer eine gute Ausrede fürs Nichtreagieren auf irgendwas. Aber langsam tut sich was, das merkt man. Jetzt wieder der Mayer mit seinem Pathosgetriefe vom nahenden Frühling. Nein, so weit wie bis zum Frühling geh ich jetzt nicht. Hannibal ad portas, so spät ham wir’s noch nicht. Ein paar eiserne Vorräte müssen wir schon noch aufbrauchen bis zum Auftauen. Aber passieren tut schon wieder ein bisschen mehr als noch in der ersten Januarwoche, das kann ja wohl keiner leugnen. Phoenix haben einen Grammy bekommen und der Bruder vom Australier an der Ecke hat Sundance gewonnen. Und die Russen mit der Spaminitiative nicht zu vergessen. Also doch nicht alles festgefroren.

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Verständnishorizont.

Heute, weil bemitleidenswert bettlägrig und erkältet, über Schwarze Löcher gelesen. Und über den Ereignishorizont. Es war mir nicht bewusst, wie viel Poesie in diesen Umständen steckt. Ein Stern, ein Riese, eine Existenz kracht vollkommen in sich zusammen. Das Resultat dieser Zerstörung ist viel zu groß, als dass das Universum mit seinen herkömmlichen Naturgesetzen den Verlust verkraften könnte und so entwickelt es ein eigenes Phänomen, eine galaktische Sickergrube, in der keine einzige der bekannten Regeln mehr gilt. Der Rand dieser Sickergrube nennt sich Ereignishorizont. Das Wort alleine, ich bitte dich. Wenn einer auf ein schwarzes Loch hinzufliegt, heisst es, dann merkt er, wie er sich nach hinlänglich bekannter Physik dem Ereignishorizont nähert. Irgendwann zumindest. Wenn ich aber jetzt eben dieser Person beim Hineinfliegen zuschaue, kommt er in meinen Augen nie am Ereignishorizont an, weil sich in meiner Perspektive grundverschiedene metrische Abhängigkeiten vermischen. Heute, weil ziemlich erkältet und im Bett, über Schwarze Löcher gelesen. Und über den Ereignishorizont. Und über den Zukunftslichtkegel. Wenig verstanden wie bei einem Keats-Gedicht, aber von der Poesie her genauso tadellos.

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