Ena

Alle sind sie gekommen. Alle Verwandten und Bekannten. Sogar die Clique, aus der sie sich herausgewunden hatte und die im Anschluss nicht mit subtilen Anfeindungen und Intrigen gegeizt hat. Alle sammeln sie sich jetzt um Enas Grab herum und die Angst steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Es ist nicht die Trauer um Ena, die sie lähmt, es ist die nackte Furcht ums Überleben, die Großangst vor der eigenen Sterblichkeit. Es geht ihnen nicht um Ena. Es ging ihnen nie um Ena. Aber wem ging es schon je um den anderen? Beziehungen, Elternschaften, Verwandschaften, Ehen und Angestelltenverhältnisse. Wem geht es denn da um den anderen? Niemandem. Und so geht es auch heute an dem Tag, an dem es ausnahmsweise nur um Ena gehen soll, vermutlich am wenigsten um sie.

Der Fairness halber muss man sagen, dass es Ena tatsächlich auch fast auschließlich um sie selbst ging. Aber ihre Egomanie war keine böswillige. Es war noch nicht einmal Fahrlässigkeit. Ihre Rücksichtslosigkeit war eigentlich nur ein Versehen. Sie ging einfach nur voran und wusste haarklein, was sie wollte. Ihr Problem war, dass sie dabei niemanden aus dem Weg räumen wollte. Aber wenn man das nicht will, dann bekommt man auch nicht was man will und dann ist man unglücklich und am Ende tot wie Ena. Und liegt da zwischen all den Freunden und Bekannten, von denen keiner auch nur den blassesten Schimmer hatte, dass so etwas passieren kann. Dass so etwas vor allem unserer Ena passieren kann. Aber wie sollten sich auch etwas ahnen? Zum einen hätten sie sich mit Ena auseinandersetzen müssen und das fiel nicht leicht, weil Ena beinahe arrogant in ihrer aufgesetzten Sorglosigkeit wirkte, zum anderen hätte man Ena keines ihrer Probleme auch nur im Ansatz angemerkt. Niemand hat es kommen sehen. Niemand außer mir.

Für mich waren die Zeichen überall. Jeden Morgen lag der Tod ein bisschen intensiver in der Luft. Beim Aufwachen fand ich sie bereits halb tot vor in letzter Zeit. Und beim Einschlafen machte sie mir eine Heidenangst, denn sie drehte sich weg und rutschte ganz weit auf ihre Seite des Betts, damit ich nicht hören konnte wie kleine Tränen ihre Wange hinabliefen. Wenn sie lachte, lachte sie nicht aus tiefem Herzen, sie zeigte nur ihre makellosen Zähne. Und sobald wir alleine waren, schlief sie sofort ein. Sie entzog sich mir sofort. Sie wollte alleine sein.

Dass sie ihren Weg verloren hatte, merkte ich schon nach wenigen Wochen. Sie benutzte kein Make-Up mehr wenn wir ausgingen und bald gingen wir überhaupt nicht mehr aus. Sie ertrug mich mehr, als sie mich mochte, und das obwohl sie mich jahrelang verehrt hatte und seit wenigen Monaten endlich ihr Eigen nennen konnte. Aber das, aber ich half wohl auch nichts mehr. Ena war oft weggetreten, wenn sie las oder arbeitete. Man sprach sie an, aber sie hörte einen nicht. Oft rief sie tagelang nicht an, weil sie es vergaß. Weil sie einfach vergaß, dass es noch jemanden gab in ihrem Leben. Selbst ihr Vater, musste manchmal bei ihr klingeln, um mit ihr zu sprechen. Ena hatte vergessen ihr Telefon anzumachen. Seit fünf Tagen.

Ich weiß nicht genau, wie Ena früher war. Ob sie schon immer so war. Und ob es jetzt nur zuviel von diesem Immer war. Ich kannte sie ja kaum und erst seit ich mit ihr zusammen bin, verstehe ich sie in ihrer verzweifelten Gänze. Vielleicht hätte ich etwas tun können, um sie zu retten. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich irgendeinen Einfluss auf sie hätte ausüben können. Um ehrlich zu sein, hatte ich nicht einmal das Gefühl, ihr Freund zu sein, obwohl sie mich so nannte. Ich habe kein schlechtes Gewissen. Ena war schon verloren, als wir zusammen kamen und vielleicht war sie das immer schon. Es ist nicht meine Schuld. Aber für mich war das eindeutig. Eindeutig, dass es so kommen musste. Die anderen haben es nicht kommen sehen. Sie stehen hier versammelt und fürchten sich vor der Eindeutigkeit. Ich habe keine Angst. Ich wusste, was auf uns zukommt. Ich wusste, wie Ena ist. Ich weiß, wie fürchterlich das Leben sein kann. Ich beneide Ena sogar ein wenig, jetzt wo sie das hinter sich hat.

(Anmerkend: Artikel aus der Kategorie B-Files sind fiktiver Natur. Es ist auch niemand gestorben, den ich kenne und ich kenne auch niemanden, der jener Ena ähnlich ist. Also keine Sorge, liebe Leser. Alles ist gut soweit.)

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SPQR

Adora quod incendisti, incende quod adorasti –
oder Kein Stein bleibt auf dem anderen
wenn St. Burnstl in der Stadt ist

Mit monumentaler Wucht, epochalen Strapazen und kolossalen Eindrücken geht mein erster Besuch in Rom zu Ende. Die eingänglichen Wortklüngel seien mir erlaubt, denn was dem Tibertrutzburg-trainierten Italienurlauber ein alter Stiefel ist, wuchs sich für mich als ewigem Novizen zu einer epischen Rückbesinnung auf meine Kindheitsträume aus. Einmal im Colosseum zu stehen, das Titustor ins antike Rom zu durchschreiten, in der Abenddämmerung auf dem weiten Feld des Circus Maximus zu stehen und die perfekteste Lichtquelle der Antike im Pantheon zu begreifen.

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Umsonst war der Historienzauber freilich nicht. Neben forschen Eintritts- und frechen Getränkepreisen zahlte ich einen noch viel höheren, indem ich meine Geduld Meuten von schwätzenden Amerikanern opferte, die durch den Vatikan pilgerten als gäbe es keinen nächsten Papst. Die Schlange am Petersdom wickelte sich einmal um den gesamten Platz und wäre meine Begleitung nicht ein von Skrupeln erlöster, wiefer Vorschleichprofi, wir würden heute noch auf Einlass zu Peterchen Domfahrt warten. Aber irgendwie muss man sich ja auch zu wehren wissen, wenn der Nepp einen nach Fluidem lechzend zum Kauf eines 3,50€-Mineralwässerchens zwingt, das nach einem Panikrundgang im Vatikanmuseum mit einem erbarmungslosen, heerstarken Touristenmob lebensnotwendig wird.

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Apropos Vatikanmuseum, ich bin mir nicht sicher, ob die Renaissance tatsächlich ein ästhetischer Segen für diese Stadt war. Und überhaupt: würde man alles Gold dieser Stadt – wie es in selbst in der uneingezeichnetsten Kirche noch von der Decke tropft – einschmelzen, könnte man damit locker die Mark Brandenburg überfluten und hätte wenigstens noch was Gutes dabei getan. Da können sich die Michelangelos, Raffaels und Leonardos noch so sehr die Pinsel an den Kirchendecken reiben, meine Liebe werden sie nicht bekommen und solange sich nicht weniger als drei – statt dreihundert – Leute in der Sixtinischen Kapelle aufhalten, kann mich der Aquarell-Irsinn auch nicht begeistern, geschweige denn mit heiligem Geist befüllen. Gut übrigens, dass das Vatikanmuseum nachmittags geschlossen hat, sonst könnte der Ratzinger Bene mit seinen Bediensteten ja gar nicht ungestört Versteckste spielen. Denn mögliche Verstecke gibt es genügend in diesem Labyrinth aus sakralem Größenwahn.

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Freilich habe ich als Ex-Katholik bei solchen Schmähungen und auch live vor Ort immer noch einen Heidenrespekt vor meinem Ex-Schöpfer. Weiß ich doch nicht, ob er nicht doch grade mitliest und in irgendeinem Gewittergremium was zu sagen hat, das die Blitze über Berlin delegiert. Ach ja, italienisches Essen fällt mir noch ein. Gegessen hab ich einmal sogar ganz gut in Rom. Glaube ich zumindest. Denn in dem Moment, als die Spagetti Vongole gustiv einkicken sollten, überfiel mich eine urplötzliche Erkältung wie der Zorn Gottes und lähmte meinen Geschmackssinn. Brut-al dente waren sie, das bemerkte ich noch, bevor mich in vorauseilendem Gehorsam das Oeuvre eines verregneten Berliner Sommers mit durchschnittlichen 16 Grad bereits in Rom erfasste.

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Das nächste Mal fahr ich nach Ostia, leg mich ins Strandbad und wälz mich zwischen Badetouristen. Das ist allemal besser als im Kreise junger besandalter Ostchristinnen und alter, lukullusleibiger Amis im Treppenhaus zur Kuppel vom Petersdom festzustecken. Ein Wortwitz geht noch: Dass ich mich grundsätzlich im Sommerurlaub aufs übelste erkälte, ist der spanische Treppenwitz meiner Reiseautobiografie. Jetzt ist aber genug mit diesem Beitrag, könnte ich ja sonst gleich eine CD-Rom rausbringen.

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Blut und ein Anfang ist gemacht

Als wir uns vor wenigen Wochen liebten, bis das Blut spritzte, konnte noch keiner von uns wissen, dass dieser spektakuläre Kickstart in diesen Looping von einer Liaison der Auftakt zu etwas, das bis ins Blut geht, sein sollte. Ein heisser Abendwind wehte uns durch die Straßen von Mitte bis vor ins Regierungsviertel, ein kühler Nachtwind blies uns zurück in die Betten, riss uns die Kleider vom und wir vögelten uns die Seele in den Leib zurück. Danach das Meer. Und danach ist ein Anfang.

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Coney Island

From the park you hear the happy sounds of the carousel,
and you can almost taste the hot-dogs and french fries they sell.
Under the Boardwalk, down by the sea
on a blanket with my baby, is where I’ll be.

(The Drifters – Under The Boardwalk)

Am Montag waren sie in Manhattan angekommen. Heute war Freitag und Samuel und Martha waren per U-Bahn unterwegs nach Coney Island. Eine Fernsehdokumentation über den Strand Brooklyns hatte bereits vor Monaten noch zuhause sein Interesse geweckt und er konnte Martha davon überzeugen, ihr geliebtes Manhattan für ein paar Stunden zu verlassen. Auf dem Weg dorthin spielte Samuel die Bilder der Dokumentation in seinem Kopf ab, weichgezeichnet und verfremdet durch seine verblassende Erinnerung. Da war die alte Holzachterbahn, längst außer Betrieb mit Gras überwuchert, Teil des 1912 geschlossenen Luna Parks, die ihm als Erstes in den Sinn kam. Eine surreale Welt aus Wasserrutschen, kitschiger Geländebahnen, schnörkelhaften kleinen Schlosstürmchen und der für damalige Verhältnisse einzigartigen Holzachterbahn Loop Of The Loop. Jetzt lag Müll auf dem seit vielen Jahrzehnten stillgelegten Gelände und die Schienen waren vom Rost zerfressen. Und trotzdem erschien es Samuel in dem Film, als wäre in einer Art Metawelt, der alte Luna Park mitsamt der Achterbahn noch aktiv, als würde die Vergangenheit spirituell in die Gegenwart strahlen. Als wären sie noch da, die Verliebten, die Familien, die Geschwister die kleinen Gauner und die Arbeiterkinder von Brooklyn, die russischen Juden, die sich nach der Flucht aus Russland hier an Brooklyns Brighton Beach angesiedelt hatten. Als würden ihre Astralleiber die hölzernen Bahnen weiterhin rauf und runter fahren und ihre Unschuld und ihr Staunen die Jahrzehnte überdauern können. Das Old Mills Gebäude, auch Tunnel Of Love genannt, eine Wasserstrasse im Stil viktorianischer gekünstelter Intimität, als dunkelromantischer Höhepunkt der öffentlichen und der geheimen Liebespaare New Yorks ging ihm auch nicht mehr aus dem Kopf und er dachte daran, wie es wohl sein mochte, Martha jetzt als attraktive Fremde zufällig irgendwo zu sehen und zu wollen.

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Dieses Bild vor Augen saß er mit ihr im B-Train und sie passierten den weitläufigen Greenwood Cemetery, der seine weißen Grabkreuze über Brooklyn ausschickte und wie eine Art grimmiger Vorbote für diejenigen wirkte, die von Brooklyn her über den Motorway auf Manhattan zufuhren. Samuel dachte über den stillgelegten Vergnügungspark von Coney Island nach, dachte an die russischen Einwanderer und an eine aus dem Zusammenhang gerissene Filmszene aus Angel Heart, in der Mickey Rourke am Strand auf einen Mann trifft, der ihm bei Wind, Wetter und Sonne einen seltsamen Nasenschutz verkauft. Er dachte an „Under The Boardwalk“, den Song, der die Verliebten an der Promenade schildert, den Geruch von Pommes, den Klang des Karussells, und das Paar ganz nahe am Vergnügen der Masse, aber doch isoliert in ihrer eigenen Harmonie, autark und doch auf der Hut vor den Konventionen der New Yorker Gesellschaft. Martha saß ihm gegenüber und las Gabriel García Márquez.

Irgendwann hielt die U-Bahn und sie stiegen aus und gingen eine Treppe hinunter, durch eine Art Eingangshalle, die nach Urin stank, mit schlechtem Graffiti beschmiert war und deren Boden übersät war mit kleinen Lachen von Flüssigkeit, vielleicht Öl. Vier Polizisten mit verspiegelten Sonnenbrillen kontrollierten den Ausgang. Samuel, der vorbelastet durch einen Haschischdelikt und diverse Rangeleien in den Kneipen seiner Heimatstadt nicht besonders erpicht darauf war, sich den örtlichen Behörden erklären zu müssen, widmete den Cops keinen Blick. Martha blickte erstaunt in die Gesichter der Polizisten. Dann verließen sie das Gebäude und setzten ihren Weg in Richtung Strand fort. Ein großes Gebäude, das ein überdimensionaler Imbiss Laden zu sein schien, flankierte den Weg hinunter zur Strandpromenade. Es war Nathan’s Coney Island Hot Dogs. Schon von weitem konnten sie das Wonder Wheel, das traditionelle Riesenrad Brooklyns sehen, nach dem der Vergnügungspark unter anderem benannt war: Deno’s Wonder Wheel Amusement Park. Es drehte sich nicht. Die Straßen hier trugen Namen wie Surf Avenue, Neptune Avenue und Mermaid Avenue, aber sie waren vernarbt und übelriechend, keine Spur von maritimem Prestige oder Strandparty-Glanz. Sie gingen an dem Vergnügungspark entlang. Es war trocken und dennoch schwül und die Wolken hingen tief über dem Meer. Der seltsame Nebel, der ihnen aus Manhattan hinaus gefolgt zu sein schien, erlaubte es kaum, aufs Meer hinaus zu blicken, die erhoffte Weite des Ozeans blieb aus. Selbst das Strandszenario wirkte beengend auf Samuel. Escape From New York, wie der Werbespot aus dem Hotel suggeriert hatte, funktionierte auch hier offensichtlich nicht. Wenn Samuel sich den alten, geschlossen Luna-Park morbide vorgestellt hatte, musste er nun dem noch geöffneten mindestens dasselbe Charisma bescheinigen. Eine Art Kartbahn mit Booten war von einem hohen abweisenden Zaun umgeben und die Motoren der Boote liefen, obwohl niemand am Fahrgeschäft teilnahm. Die Wasserbahn trug einen unappetitlichen Ölfilm und es war kein Schausteller weit und breit zu sehen. Ein ähnliches Bild nebenan bei der echten Kartbahn. Kein Personal, aber laufende Motoren. Der westliche Eingang zum Vergnügungspark gab einen interessanten Blick frei: Eine leere Betonstrasse führte ins Innere des Parks, vorbei an geschlossenen und verrammelten Schaubuden und über den Buden, über dem fleckigen Asphalt waren Leinen gespannt, an denen bunte kleine Fähnchen zu Hunderten befestigt waren. Polizeiwagen standen am Straßenrand und sogar berittene Uniformierte kreuzten ihren Weg. Als sie die Promenade über eine Holzrampe hinaufschritten, grinste sie ein alter, zahnloser Mann an, der vom Strand abgewandt an der Rückseite einer Eisbude lehnte, vor sich einen Ghettoblaster stehend. Er winkte ihnen zu und aus dem Kasettenrekorder kam I Want You Back von den Jackson 5. Auf der Promenade: Polizisten und Soldaten. Am Außentresen einer heruntergekommenen McDonalds Filiale lehnten mehrere US Soldaten mit geschulterten Panzerfäusten. Es war mehr Militär und Polizei als Passanten unterwegs.

Samuel und Martha liefen jetzt einen langen Steg in Richtung Meer entlang, vorbei an dicken Männern, die ihre Angelschnüre ins Meer hingen und neben sich eine Plastikschüssel mit kleinen, schmutzigen Fischen stehen hatten. Als sie am Ende des Stegs angekommen waren und aufs Meer starrten, riss die Nebeldecke kurz auf und die Sonne kam hervor. Für einen Moment wirkte das Meer wie das Meer, der Strand wie ein Strand und der Vergnügungspark wie ein Hort der Unterhaltung. Nur wenige Minuten später war die Sonne wieder verschwunden. Sie versuchte sich durch die seltsame Melange aus Wolken und Nebel hindurch zu drücken, zu behaupten und schlich dahinter in mattem Gelb ungeduldig auf und ab, aber es gelang ihr nicht – der Durchbruch blieb aus. Hinter ihnen waren einige Polizisten herangetreten und blickten ebenfalls aufs Meer. Samuels malader Zahn vermeldete ein leichtes Pochen. Martha und Samuel gingen den Weg zur Promenade nicht ganz zurück, sondern zweigten zum Strand ab. Dort setzten sie sich in den Sand und Samuel fühlte beim Hinsetzen, wie das Pochen in seinem Mund anschwoll.

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Hört, hört

Die Welt des Hörens und Sehens, die Welt des Atmen und Gehens, die kommt einem so selbstverständlich vor. Aber lassen Sie sich doch mal kurz das Trommelfell kaputt stechen und Sie werden schnell merken wie verteufelt wenig selbstverständlich so ein Gang zum Bäcker wird, wenn man weder seinem Gehör, noch seinem Gleichgewichtssinn vertrauen kann. Und der klägliche Rest ergibt sich auf vertrackte Weise dann selbst. Der Kreislauf meldet sich krank, die Haut rebelliert und die Sehstärke lässt nach. Halsweh kündigt sich an und ehe man sich versieht, sieht man sich ans Bett gefesselt und das alles wegen so einem bisschen durchbohrten Trommelfell.

Nun ist freilich guter Rat teuer, wenn man sich nicht den durch bloße Tollpatschigkeit entfesselten Widrigkeiten geschlagen geben will. Ibuprofen ist der Grundstein, die Supersoldier-Droge für den Kampf Mann gegen Jammerlappen. Ich würde gerne in die Regionalbahn steigen, auf dem Weg zum Lieblingsflughafen Schönefeld, wo gleich die Schöne vom Himmel fällt und ich sie aufsammeln könnte. Aber auch wenn man jetzt meinen könnte, mir wäre Hören und Sehen vergangen, so muss ich doch schon auf dem Weg zum Bäcker Konversationen mitanhören und mit dem unabwendbaren Grauen eines Gegenspurgaffers auch die zugehörigen Protagonisten mitansehen. Nicht auszumalen, wie eine Fahrt mit der Bahn oder der BVG sich anfühlen muss.

Ich besitze jetzt nach dem Unfall eine Art Supergehör, mit dem auch noch der letzte Schwachsinn der Leute an mein Ohr dringt. Dadurch ist es mir auch nicht mehr möglich, das Haus zu verlassen. Oh, hoffentlich wächst das Trommelfell bald wieder zu, denn sonst geht es mir wie Spiderman nach dem Biss der radioaktiven Spinne. Mit großer Macht, kommt dann nämlich große Verantwortung. Dabei will ich keineswegs die Verantwortung übernehmen, den ganzen Laberfatzkes hier aufs Maul zu hauen für den Schwachsinn, den sie den ganzen Tag von sich geben. Schnell wieder ins Bett und auf den Ton vom Fernseher konzentrieren.

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Die krankhafte Gesundung des St. B.

When you stop drinking,
you have to deal with this marvelous personality
that started you drinking in the first place.
(Jimmy Breslin)

Es geht mir nicht gut. Ich trinke zu wenig. Ich kann nachts nicht schlafen, bin ständig gereizt und mir fehlt jegliche Gelassenheit. Die Gründe liegen auf der Hand. Ich trinke zu wenig. Ich erlebe zuviel mit von dem Leben hier in der Stadt. Und ich bekomme jeden elenden Tag eine Überdosis Reize frei Haus geflutet. Das ist mir zuviel. Da fehlt die Kapuze Alkohol. Auch die paar Notbiere nach dem Abendessen helfen nichts. Der Schnaps fehlt.

Ach wie selig waren die Zeiten, als wir uns mit Pastis und Averna nachts in der 8mm Bar in den Schlaf wiegten. Wie golden die Momente, in denen wir unsere Existenz zwar verfluchten aber längst nicht mehr spürten. Wir haben getanzt und gesungen, wir standen auf Bühnen und in der Manege. Wir waren Verlierer, aber wir hatten Stil.

Jetzt liegen wir brach und erfolgreich und fühlen uns ganz sicher nicht als Gewinner. Ausgetrocknet, verdammt zur nüchternen Wahrnehmung, was für Arschlöcher wir doch eigentlich sind. Was für ein Arschloch ich doch bin. Befreit vom phlegmatischen Filter der trägen Selbstverherrlichung merke ich, was für ein Hanswurst ich bin. Und nicht nur ich. Die Fratzen der anderen Hanswursten erscheinen mir im Lichte des Tages noch grotesker und ich bekomme es langsam mit einer ernsthaften Angst vor der Gesellschaft zu tun. Schaut her, seht mich an, ich treibe Sport und stehe früh auf, ich sehe gesund aus, gehe einem verantwortungsvollen Job nach und bin ganz und gar Pop. Wie soll ich das meinen Eltern erklären, die jahrelang nur auf meine Geschwister gesetzt haben und ihrem schwarzen Schäfchen den roten Teppich ausgerollt haben, weil es so verloren war. Wo sollen sie nun hin mit ihrem Mitleid, mit ihrer ganzen Sorge und Zuwendung? Wer will schon einen verlorenen Sohn, der sein Leben im Griff hat? Da könnte er ja gleich nach Hause zurück, nach Grafentraubach ziehen.

Nein, es geht mir nicht gut. Ich sehe mit einer Deutlichkeit, einer gellenden Grelle ins Licht des Tages und mir tun alle Gelenke weh, weil ich sie jetzt in ihrer Gesamtheit spüren muss. Ich kann nicht mehr schlafen, ich kann nichts mehr essen. Überhaupt esse ich deutlich zu wenig Fett und Fleisch. Gemüse, Obst, Säfte, Vitamine, pfui Teufel, es kann einem das kalte Grausen kommen vom vielen Gesunden. Wie schön finsterromantisch war das warme, notgedrungene Überleben im Gegensatz zur kalten Verpflichtung des echten Lebens. Und wie gemein ist die erfüllte Liebe. Wie furchtbar ist es, wenn einen jemand mag und man sich die Verwünschungen, die Vorhaltungen und ewigen Flüche sparen muss, weil einem Gutes widerfährt? Das ist die brutalste Form der Ausnüchterung: wenn man niemand mehr hat, der einem sein Leben ruiniert. Am Ende ist man noch selbst schuld. Das kann bei bestem Willen und Gewissen nicht wahr sein.

Es geht mir nicht gut, ich trinke zu wenig. Heute Abend muss ich mich zwingen, eine Flasche Schnaps zu kaufen und mich an die Theke zu setzen. Das Herz ein wenig schwarz färben, die Leber ein wenig tunken und vergessen, dass es da draussen diese hässliche Ding namens Normalität gibt. Wenn mir jemand Gesellschaft leisten will, bittesehr.

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Utterly Mad, Max (Kurzkritik zu Apocalypto)

Nicht, dass ich es nicht schon vorher vermutet hätte, aber nachdem ich mir neulich die Maya-Metzgerei „Apocalypto“ auf DVD angesehen habe, bin ich sicher, dass Mel Gibson rettungslos irre geworden ist. Der Mann ist nicht mehr ganz sauber. Hat jemand diesen Film gesehen? Was soll denn das sein? Was wollte uns Melle damit sagen? Das ist nicht mehr mit einem Minderwertigkeitskomplex wegen Haarausfall zu begründen. Der Mann muss in Behandlung. Hat den Film jemand gesehen? Hat jemand?

Schön auch das:

Factual errors: When the bodies are falling down the pyramid steps, they are shown to have blood shooting from the neck. Not possible without a heart to create the pressure. (IMDB.com)

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Freiheit

Der Moment, in dem ich anfange zu fallen, ist der Moment in dem ich frei bin. Ich fange an zu fallen, denke ich, als ich in das Auto steige und an der East Side Gallery entlang in Richtung Mitte fahre. Die Sonne hängt fadenscheinig auf Höhe der Kugel des Fernsehturms und schält sich träge nach unten, während die roten Luftfetzen über Mitte innerhalb von Minuten mehr werden. Ich fahre auf die Stadtmitte zu und habe das Gefühl, ins Zentrum zu fallen. Ich spüre die Hitze des Abends, sie bedeckt mich wie Staub, der schmierig wird von meinem Schweiss. Ein Schwarm weißer Blüten weht auf meine Windschutzscheibe zu und es sieht aus, als würde es schneien. Schnee in der Heißluft eines Berliner Juniabends. Ein Wetterwitz nach meinem fahlen Geschmack. Die Spree begleitet meine Fahrt noch ein wenig, dann verlässt auch sie mich.

Es ist wunderschön, alleine zu sein. So stelle ich mir meinen Tod vor. Endlich befreit von allem Ballast des Unerledigten und endlich befreit vom schlimmsten Folterwerkzeug seit Beginn der Menscheit, der Hoffnung. Seit ich denken kann, habe ich mir ausgemalt, wie es sein würde, wenn ich jemand wie dich treffe. Seit ich denken kann, hab ich mir unser Zusammenleben im Kopf zusammengebaut. Und ich hab alle Türen aufgerissen und „Herein!“ gerufen, so viele Jahre, bis du den Weg nach Berlin gefunden hast. Jetzt, wo du weg bist, kann ich durchatmen, trotz der Schwüle. Es liegt soviel Kraft und in unserem Scheitern. Es fließt immer noch Kraft durch das Blut, das von den Türen tropft. Man muss es trinken, solange es frisch ist. Man muss sich nackt darin wälzen, in all dem Blut unseres Scheiterns. Und endlich wieder alleine.

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Ich möchte ans Meer. Ich möchte an die See. Ich möchte hineinlaufen und baden bis es dunkel wird. Schreien vor Schmerz und Widerstand gegen ihn. Schreien, bis jemand kommt und mir ins Gesicht schlägt. Endlich diese grauenvolle Stille durchbrechen. Ich bin so gerne am Leben, solange ich ein Ende absehen kann, denke ich. Wie perspektivenlos erschien mir diese Harmonie, dieses lähmende Gefühl der Zufriedenheit. Ich muss die Axt schwingen, ich muss mir selbst und dir die Gedärme herausreissen, ich muss uns hinrichten, damit wir spüren, was wir haben, was wir hatten, was wir verlieren, was wir verloren haben. Ich liebe dieses Aufgeben. Ich liebe dieses Fallen. Ich muss etwas trinken, ich muss etwas trinken, ich muss trinken. Ich gebe Gas und fahre auf den Turm zu, an dem sich die Abendsonne hämisch räkelt. Dass das Wetter so schön sein kann, während Leute sterben, das ist es, was mir soviel Freude bereitet. Bald stehe ich auf dem Balkon und kann mich nicht mehr erinnern, wie ich mich gestern gefühlt habe. Der Prenzlauer Berg erwacht in eine neue Nacht hinein und ich denke nur, dass ich angefangen habe zu fallen. Ich bin frei.

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Mindwarped by Zodiac (Kurzkritik zu Zodiac)

Gut, ich hätte wissen müssen, dass die Geschichte vom Zodiac-Killer nüscht hergibt. Typ bringt ein paar Pärchen und einen Taxler um, schreibt dämliche Briefe und wird nie erwischt. Da muss man schon ein Killerdrehbuchautor sein, um so einen highlight-armen antiklimatischen Plot auf die Vorderhufe zu bringen. Ja, ja, ich mag ja David Fincher auch und Schnitt und Kamera spielen bei ihm immer in einer eigenen Liga, aber was hilft die technische Schöngeisterei, wenn mich bereits nach einer Stunde alle guten Geister der Begeisterung, und nach einer weiteren halben, der Aufmerksamkeit verlassen? Bald fürchtete ich nicht mehr den Zodiac Killer, sondern lediglich, dass ich und meine Begleitung vielleicht in dem einzigen Film der Welt gelandet waren, der niemals aufhört. Und das ist eine gruselige Vorstellung, im Gegensatz zu der eben grade im Kino.

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Zur See

Seit Jahren hege ich einen einen mittlerweile wildgewachsenen Berlintraum. Zu warten, bis die Zeit reif ist, bis die richtige Gelegenheit und die richtige Begleitung kommt, um sich ins Auto zu setzen, um ans Meer zu fahren. Genauer gesagt an die Ostsee. Und dort ins oberste Stockwerks eines Hotels zu gehen, von wo aus man schon beim Aufwachen die Wellen sehen kann, wie sie an den weißen Sand eines noch menschenleeren Strands stoßen. Und morgens dann nach dem Frühstück die Promenade entlang spazieren und sich unsinniges Zeug zu essen an den Büdchen holen.

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Just diese besagte Gelegenheit hat sich nach fast vier Jahren Berlin nun endlich ergeben. Und nach lauten Nächten und gewittergeschwängerten Morgen in Berlin führte mich mein Weg endlich ans Meer, im Speziellen nach Usedom, nach Ahlbeck. Herrschaftlich touristisch resozialisiert und gleich wieder vergreist, aber im besten Sinne des Wortes immer noch beschaulich. Ich war da und fand nichts, ausser das, was ich wollte: Die See. In einem schneeweißen Zimmer voll von gleißendem Licht aufgewacht und außerhalb der Fenster nicht gesehen ausser die unruhige See. Als wäre ich im Himmel aufgewacht, so ruhig und hell war es.

Doch die Idylle muss man verlassen, solange man sich noch nicht an sie gewöhnt hat, sonst verliert sie an Bedeutung. Also zurück nach Berlin, zurück zum Prenzlauer Berg, zum Helmholtzplatz, wo man vor lauter halbgebildeten, aber besserverdienenden Biosupermarkteinkäufern die Windschutzscheibe vor Augen nicht mehr sieht und man sich fragt, wer denn die Idioten vermissen würde, liesse man mal einen über die Kühlerhaube springen. Aber ich werde schon wieder gehässig, dabei sollte ich ganz ruhig und seelig sein, denn ich war zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Am Meer und nichts anderes wollte ich die letzten Jahre. North Beach comes alive und die Kurtaxe können die sich n die Haare schmieren.

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