Buenos Aires in Kreuzberg

Eine geschmacklose Anekdote aus meinem Nachtleben, in der ich im Mittelteil vom Präteritum ins Präsens springe, um dem Leser einen unmittelbaren Eindruck vom Flair der Situation zu vermitteln. Die Pointe aus der Überschrift erschließt sich im Übrigen erst nach mindestens der Hälfte des Artikels. Zumindest wenn man Spanisch kann oder das kleine Latinum hat. Also ausnahmsweise bitte mal mehr als den Anfang und das Ende lesen, liebe Freunde.

Eigentlich alles wunderbar. Sanft und polytox in den Abend hineinsacken. Sich über die milden Straßen Kreuzbergs an diverse Bars und Servicekräfte anschleichen, eine Portion Streetfood Ente beim Vietnamesen, ein bisschen Championsleague, ein bisschen Ronaldinhofresse, ein bisschen Pastis und ein paar Biers, schon ist das Maß voll und der Trakt braucht Durchzug.

Im Lido, wo man – typisch für Berlin – einer innenarchitektonischen Bauruinie pseudogesellschaftliche Funktionalität verleiht, schauten wir uns die zweite Hälfte an und das ohne Luft, Bildqualität und sympathische Menschen dafür aber mit spontanen Bildausfällen. Weil aus dem Spiel, ähnlich wie aus dem Gebäude, kurzzeitig die Luft raus war, beschloss ich, mich auf die Suche nach dem Herrenbadezimmer zu begeben. Ich verließ das Gebäude, betrat es durch einen Nebeneingang erneut, ging eine Treppe hinauf und fand mich in einem leergeräumten Stock mit diversen offenbar sanitär ausgestatteten Zimmern. Keine Menschenseele war zu sehen oder zu hören und eilig hatte ich es dann mittlerweile auch. Also nahm ich mir das erstbeste Scheißhaus vor, aber so richtig.

Als ich fertig war und meinen erleichterten Gesichtsausdruck nochmal im Spiegel sehen wollte, öffnete ich die Tür, damit das Licht vom Gang mein Anlitz erhellen konnte und der Durchzug meine ungeheuerliche Duftmarke in die Weite der Kreuzberger Nacht verscheuchen konnte. Doch was muss ich sehen, als ich die Tür zum Gang öffne? Ein vorlautes Mädchen steht mitten im Ausströmungsfeld meines Dampfhammers und quäkt etwas von:

„Jibt et hier Klopapier?“
„Ja, ja.“ antworte ich ertappt und der Stinkerei überführt. Und dann fällt mir nichts Besseres ein, als zu sagen: „Sorry, ist noch nicht ganz geruchsneutrale Zone hier.“
„Ach, man riecht nüscht.“ stößt sie hervor weil sie die Luft anhält.
„Ich wasch mir noch schnell die Hände.“ setze ich die Peinlichkeitenparade fort.
„Na klar und du könntest doch ooch noch mit Seife runter spülen, wa.“ meint sie.
„Äh, ich weiß nicht genau was du meinst.“ gerate ich langsam ins Stammeln.

Auf einmal stürmt ein weiteres Mädchen heran und schreit:
„Ach hier biste. Und hier ist auch das Klo. Ist das jetzt endlich mal frei?“
„Ja, der Typ hier ist, äh, gleich soweit.“ entgegnet sie mit einem despektierlichen Blick auf meine Hände unter dem laufenden Wasserhahn und dann wirft sie ihrer Freundin einen Blick zu, der nur heißen kann: „Puh…“
Als ich das Klo verlassen will, um endlich aus diesem Schlund von einem Fettnapf heraus zu klettern, versperrt mir plötzlich auch noch die Barkeeperin des Lido den Weg und sagt zu den anderen Mädchen:
„Habt ihr’s jetzt gefunden? Das ist das andere Klo.“ Und dann gerät auch sie, beziehungsweise ihr Atem, ins Stocken:
„Ach, äh, da ist ja jemand drin.“
Jetzt stehe ich also mittlerweile schon drei Mädchen gegenüber, die kollektiv die Nase rümpfen und eine davon arbeitet auch noch hier und kennt Leute, die ich auch kenne.

Während ich mich endlich aus der immer-noch-nicht-geruchsneutralen Zone verdrücke, denke ich trotzig: „Neuer Club, denen haste aber gleich mal gezeigt, wo der Burnster den Most holt.“ Wir sind dann nach dem Spiel trotzdem sehr schnell aus dem Lido hinaus gegangen. Aber ist eh ein Kackladen. Und eigentlich war ja alles wunderbar in dieser milden Kreuzberger Nacht. Es roch sogar schon so ein bisschen nach Sommer.

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In schlechter Gesellschaft

Die Stadt stirbt langsam im Frühjahr. Sie liegt auf dem Rücken und keucht, während wir mehr Gift in ihre Venen injizieren. Es fließt durch die Abflüsse in ihren Blutkreislauf. Ich will mehr Chemie, ich will mehr Gift. Alles ist besser als das hier. Ich werde wahnsinnig, wenn ich keine Chemie mehr habe. Alles ist besser als das hier. Diese sterbende Stadt ertrag ich nicht mehr. Nur in schlechter Gesellschaft lässt sich das alles hier ertragen. Ich bleibe in schlechter Gesellschaft, ich brauche die Chemie.

Sie sollen sich von mir aus in einer Reihe aufstellen. Ich nehme sie mir alle vor. Jeden Einzelnen werde ich vor den Kopf stoßen, jeden von denen werde ich in seine Einzelteile zerlegen. Ich bedeute Ärger. Ich bedeute Verlust. Ich bedeute Tod. Ich bin eine schlechte Gesellschaft. Es geht wieder los. Her mit der Chemie, ich werde wahnsinnig ohne die Chemie. Alles ist besser als das hier. Ein Königreich für einen guten Freund. Jetzt ein guter Freund.

Die Stadt stöhnt, aber ich höre sie nicht, so zugedröhnt bin ich von dem ganzen Unheil hier. Die Maschinen röhren und versuchen zu reparieren, was nicht mehr zu richten ist. Die Stadt stirbt und ich komme nicht rechtzeitig hier weg. Deshalb her mit der Chemie, denn alles ist besser als das hier. In einer Reihe sollen sie sich aufstellen, damit ich sie mir vorknöpfen kann. Das wird der letzte Sommer, der letzte Blick von oben auf die erstickende Stadt. Es wäre ein guter Zeitpunkt für eine echte Freundschaft. Statt dessen nur Chemie.

Und du hast ja keine Ahnung, wo ich stecke. Du ahnst nicht, warum ich meine Maschinen noch einmal angeworfen habe. Das ist der Endspurt. Wenn du nicht hier bist, gibt es endlich keinen Grund mehr zu warten. Ich werde mich nie ändern und jetzt her mit der Chemie, denn alles ist besser als das hier. Ich bin eine schlechte Gesellschaft, ich bedeute Ärger. Ich bin Verlust. Ich bedeute den Tod für diese Stadt.

Die Stadt stirbt langsam. Im Frühjahr liegt sie darnieder und im Sommer ist sie schon tot.

Text inspiriert von Stephen Jenkins „Company“. Aufgenommen von der musikalisch nicht so besonderen Band Third Eye Blind.

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London

„Ich wünschte, du könntest jetzt die Themse sehen wie sie in der Abendsonne glitzert. Wenn ich hier so lang schlendere auf meinem Nachhauseweg, glitzert die Sonne auf der Themse. Ich glaube, du würdest es mögen. Ich gehe schon eine ganze Weile hier entlang. Ich glaube, du würdest London mögen. Du darfst nicht immer daran denken, dass ich mit ihm zusammenlebe. Darum geht es doch nicht. Das ist halt praktisch. Ich mag London und du würdest es auch mögen. Ich habe gestern Damon Albarn getroffen und man hat mir mein Handy geklaut. Ich muss jetzt auflegen, ich bin bald in der Brick Lane. Wir kochen alle. Das ganze Haus kocht zusammen. Ich mag dich auch. Tschüss.“

Und als sie mit ihm auf dem Bett liegt und der Fernseher läuft, hören sie ein Klatschen und ein Schreien aus dem Zimmer nebenan. Die Wände sind dünn und durchlässig hier.
„Sie mag es, wenn er sie auf den Hintern schlägt“, sagt sie.
„Dann versucht sie vielleicht heute nacht nicht, sich umzubringen“, meint er.
„Ich möchte mit dir schlafen jetzt. Ich mag dich nämlich.“ Sie küsst ihn schnell auf die Stirn.
„Das hast du noch nie so direkt gesagt.“ Er ist verunsichert.

Sie knöpft seine Hose auf und holt seinen Schwanz heraus. Als sie ihn streichelt, schaut sie ihn genau an. Normalerweise vergräbt sie dabei ihren Kopf in seinen Armen. Aus dem Nebenzimmer hört man ein Klatschen und ein Schreien.

Später hilft sie ihm, die Gitarren in den Backstageraum zu tragen. Vor dem Auftritt treffen sie G. und R. und sie wünschen ihnen Glück. Als er beim Soundcheck ist, geht sie mit R. auf die Toilette, um ein wenig Koks zu nehmen. Sie mag das Gefühl. Zuhause ist es schwer, welches geschenkt zu bekommen. Doch hier hat es jeder. Es ist wie ein Bier spendiert zu bekommen. G. und R. haben diese Band, Bloc Party. Sie nehmen eine Single auf, aber sie weiß nicht, ob jemand diese seltsame Musik mögen wird. Musik. Alles ist voller Musik.

Sie sieht ihm zu, wie er in Zeitlupe auf der Gitarre den Song begleitet. Sie versucht an seinen Schwanz zu denken, doch sie schämt sich ein wenig. Mit Koks schämt sie sich aber immerhin weniger als früher. Es wird schon besser. M. steht neben ihr und muss sich übergeben. Er trifft einen Teil ihres Rocks, den sie sich gestern bei Top Shop gekauft hat. Hier fällt es ihr so leicht, Röcke und Strumpfhosen zu tragen. Sie will diese Stiefel, die F. anhat. Die kleine Asiatin ist so unglaublich hübsch. Sie würde gerne einmal ihre Füße anfassen. Ihre Füße sind sicher viel, viel kleiner, als die Stiefel vermuten lassen. S. küsst sie in den Nacken. Er schreibt manchmal für den NME. G. geht mit einem Mädchen in Richtung Klo. Mark Owen ist auch da. Er lächelt ihr kurz zu und sie lächelt zurück. Mark Owen ist ständig im Barfly. Das Konzert dauert ihr zu lange. Sie will nicht wieder seine Instrumente nach Hause tragen. Berlin ist lächerlich, denkt sie und macht sich auf die Suche nach R.

„Es war sehr schön gestern. Ich gehe gar nicht mehr so viel aus hier. Und ich fühle mich sehr unscheinbar. Eigentlich bin ich nicht mehr so hübsch. Ich habe meine Haare pechschwarz gefärbt. Ich mag es hier. Ich mag London. Du weisst doch, dass du nicht einfach so kommen kannst. Berlin ist doch auch toll. Ich mag dich auch. Bis bald.“

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Die Stadt der Toten

Begrabt mich in Recoleta. Begrabt mich in Buenos Aires. Lasst meine Asche mit den hohen Winden um die Stadtpaläste wehen, aber baut mir bitteschön ein Mausoleum in Recoleta.

Nehmt einen Engel auf mein Dach, der hochnäsig und unberührbar Wache hält. Setzt einen schwarzen Hund vor die Tür zu meiner Krypta, der die Ungläubigen und die Spötter reisst, bis ihr Blut auf die Stufen zu meiner neuen Behausung tropft.

Zimmert mir einen Sarg aus glänzendem Holz, beschlagen mit Messing und Gold. Mein Name steht eingraviert auf dem schweren Deckel der nichts dort drinnen gefangen hält, weil man nichts gefangen halten kann, was nicht mehr da ist.

Haucht mir mit diesen Liedern Leben ein. Lasst meine Stimme am Abend auferstehen. In klammen Nächten vor Sonnentagen betrinkt ihr euch und denkt an mich, damit ich den beginnenden Tag nicht mehr erlebe und ihr aus dem nassen Grab der Erinnerung klettern könnt.

Begrabt mich in Recoleta. Begrabt mich in Buenos Aires. Lasst meine Asche mit den hohen Winde um die Stadtpaläste wehen, aber baut mir um Gottes Willen ein Mausoleum in Recoleta.

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IB 6832

Warum buche ich nur bei Iberia? Hinterher frage ich mich das jedes verfluchte Mal und mir fällt kein triftiger Grund ein. Dieser Bericht soll mir selbst als endgültige Warnung vor der nächsten Buchung dienen. Die Meister der Ansammlung von Midflight-Kalamitäten und Organisationsunpässlichkeiten haben letzten Donnerstag mal wieder ihr gräßliches Haupt erhoben, als euer Chef seine Heimreise von Santiago de Chile nach Madrid antrat.
Es fing schon am Flughafen an, indem man mir einen Platz zuwies, den ich nicht haben wollte. Ich war zwei Stunden vorher am Flughafen. Wann muss ich da sein, damit ich mir einen Fensterplatz aussuchen kann? Zwei Tage vorher? Checken die Chilenen alle per Handy beim Abendessen am Vorabend ein?

Ah, Gilberto dame una otra cerveza y mi movil. Ah, no esto, esto.
Uh, tengo que hacer una reservacion por mi vuela a Madrid.
Sipo, sipo.

Den Ärger wegen meinen Turnschuhen und der Mischpoke am Zoll erspare ich dieser Erzählung, denn es kommt viel dicker. Ich besteige also den museumsreifen Langstreckenbomber und quetsche mich in meinem Minimalsitz, natürlich nicht am Fenster, sondern am Gang, wo man mir den Servierwagen in der Folge circa 45-mal gegen das Knie fahren wird. Das Grauen nimmt seinen Lauf und neben mir ein fortan pfeifender und unerträglich gutgelaunter Belgischer Biologe Platz. Ich nenne ihn den Pfeifer. Hinter mir quartieren sich zwei Russen ein, die in den folgenden dreizehn Stunden nicht einmal ihr Maul halten werden, sondern insistent den scheinbar gleichen Witz im zwei Minuten Intervall rotieren lassen, gefolgt von ohrenbetäubendem Gelächter. Ich nenne sie die Russen.
Vor mir quetscht sich ein unsympathischer und kahlköpfiger Spanier mit seiner knochigen Ehefrau in die Sitze. Ich nenne ihn den Rüden. Aber zu dem komme ich gleich noch.

Die Stewardsituation gleicht einem Bild aus dem zweiten Carlistenkrieg. Ich, der beim dritten Durchlesen der Mötley Crüe Biografie langbeinige, blonde Stewardessen mit Bereitschaft zum spontanen Kundenverkehr im Kopf hat, muss auf ein ästhetisches Schlachtfeld blicken. In meiner Reihe bedienen zwei fette Mittfünfziger mit wenig Haaren, aber mit viel Haarwachs drin. Beide sehen aus wie J.R., der großindustrielle Onkel meines Vaters. Ich nenne sie die Sleazy Stewards. In der anderen Reihe bedienen zwei Frauen, ebenfalls um die fünfzig, aber offenbar weniger mürrisch.

Als das fliegende Gefängnis dann endlich abhebt, ist meine Laune schon längst am Boden. In den ersten zwei Stunden läuft „Walk The Line” und Reese Witherspoons Gejodel lässt mich das Gejohle der Russen und das Gepfeife des Belgiers noch einigermaßen aushalten. Doch das Verhängnis beginnt, als der rüde Spanier vor mir seinen Stuhl zurücklässt. Das ist ja immer eine sehr prekäre Situation auf Flügen, die meinen Namen auf der Passagierliste stehen haben. Beim Zurücklassen der Lehne im Sitz vor mir verstehe ich nämlich das genaue Gegenteil von Spaß. Zunächst bitte ich den Rüden, der mir gerade mit dem zurückschnalzenden Sessel mein Buch aus der Hand und meine Mütze vom Kopf geschlagen hat, höflich aber bestimmt, seinen Zug zurück zu nehmen. Er scheint zunächst einzuwilligen, aber als ich eine halbe Stunde später in einem unachtsamen Moment mein Knie von seiner Lehne nehme, schlägt er geradezu hinterrücks zu und wirft sich mit seiner gesamten Leibesfülle gegen den Stuhl. Und plötzlich ist mein ohnehin sehr geringer Lebensraum auf dem Iberia Flug 6832 um die Hälfte dezimiert.

Und hier kommt (ich nenn ihn) der Jähzornige ins Spiel, also ich. Erstmal gibt es die Handkante gegen den Stuhl des Rüden. Dann eine giftige und lautstarke Moralpredigt auf Spanisch. Mindestens zwei Minuten lang. Keine Ahnung, was ich ihm erzählt habe. Weder mein Vokabular, noch meine Grammatik reichen für länger als zwanzig Sekunden. Dann fliegen mein Buch und meine Kopfhörer unter vulgären (deutschen) Flüchen auf den Flugzeugboden und zum Abschluss nochmal das Knie in den Rücken des Rüden. Hilft leider alles nichts. Der Gegner beibt hartnäckig und gibt vor zu schlafen, auch wenn ich ihm ständig in den Rücken trete und ihm auf die Glatze blase.

Hinter mir erzählen sich die Russen wieder diesen einen Witz und um mich herum stapfen die Leute wie Zombies im Kreis durch den Flieger, um sich keine Sitzwunden zu holen. Die Sleazy Stewards mähen mit dem Servierwagen durch die Reihen und sind mürrisch zu den meisten, mich ignorieren sie völlig. Vermutlich hat der Rüde sich beim letzten Rotwein längst über mich beschwert. Als ich beim Verteilen der Zusatzbrötchen vom Allersleazigsten der Sleazy Stewards einfach übersehen werde, sage ich ihm leise „Du Arschloch” hinterher. Durchaus guter Dinge, dass der Spanier dieses deutsche Schimpfwortgut nicht in seinem aktiven Wortschatz beherbergt. Als er das nächste Mal mit dem Servierwagen gegen meinen Fuß fährt sagt er auf spanisch:
„Brauchst fei net glaum, dass ich des net verstanden hab, Freundchen.”

Aber was solls, unfreundlicher kann der Service ja nicht mehr werden. Während also die Russen weiterbellen und der Pfeifer pfeifend an seinen Forschungsmemoiren feilt, der Rüde sich weiter im Schlaf gegen den Stuhl wirft und der Rest der Freaks hier durch die Boing stapft, beschließe ich noch etwas mit diesem angebrochen Abend anzufangen.
Ich experimentiere ein bisschen blauäugig mit Paracetamol und ein paar rezeptfreien Schlaftabletten herum, bis ich irgendwann anfange, leicht zu halluzinieren und mit einem breiten Grinsen vor mich hin dämmere und mir denke: „Machts gut ihr Idioten.”

Doch das auf die eigene Schulterklopfen wegen dem gelungenen Highsein findet ein jähes Ende, als ich bemerke, dass sich aus dem Downergemisch ein handfester Upper entwickelt hat und sich ein unwillkommenes Zucken im rechten Bein etabliert. Gemeinsam mit einem panischen Anflug von Platzangst. Plötzlich erscheint mir mein Sitzplatz wie ein Stehplatz und das Gejohle der Russen schwillt zu einem Brüllen an. Wir befinden uns in Flugstunde fünf und die Paranoia hat gerade erst begonnen. Um den misslungenen Medikamententrip wieder zu verlassen, trinke ich Wasser wie ein Blöder, wozu ich jedes Mal zu dem beleidigten Sleazemeister rennen muss, um fünf Minuten später gleich nochmal an ihm vorbei aufs Klo zu hetzen. Weil ich rabenbreit bin, fällt mir auch noch meine Lesebrille in die Kloschüssel und ich kann sie im letzten Moment herausfingern bevor der Sog des ewigen Vergessens sie und meine Hand in die kalte Luft über Lima befördert.

Wenn Sie, verehrter Leser, jetzt auf ein erlösendes Moment oder einen Klimax warten, muss ich sie leider enttäuschen. Ich blieb high bis kurz vor Madrid und der Horrortrip endete am Zoll, als ich den Rüden mit „Verpiss dich, du Fucker” verabschiedete, ich mir aber diesmal sicher war, dass er kein Deutsch verstand. Notiz an mich selbst: Das war das letzte Mal, dass du bei Iberia gebucht hast.

Das Ende in Santiago De Chile

Du kannst dich nicht vollkommen umkrempeln, denkt er, waehrend er in der immer noch aggressiven chilenischen Herbstsonne sitzt und auf seinen Cortado wartet. Da kannst du reisen, wie du willst.

Du ziehst den Exzess nicht an, dir wirft man keine Karriere hinterher und dein Verhältnis zu Frauen wird ein Leben lang ein problematisches bleiben. Du wirst auch weiterhin Angst vor dem Unbekannten empfinden und das Gefühl haben, kein Teil eines Alltags zu sein. Keine Reise der Welt kann dich auf die Unpässlichkeiten vorbereiten, die noch vor dir liegen. Du hast auch in den letzten Wochen am Ende der Welt nicht aufgehört, an sie zu denken und du wirst auch nicht in Berlin damit aufhören. Die Haare werden dir ausgehen und du wirst bald einen Bierbauch mit dir herumschleppen, wenn du so weiter säufst, da kannst du soviel reisen wie du willst. Deine Gesundheit wird nicht besser mit den Jahren und als juveniler, dekadenter Musiker gehst du doch jetzt schon nicht mehr durch. Den Alkohol wirst du nicht los, indem du ihn verharmlost und die Zigaretten hören nicht von selbst auf zu schmecken. Romane schreiben sich auch ab nächster Woche nicht von selbst und deine Jobs verhelfen dir nur dann zu Reichtum, wenn du das ganz dringlich willst so wie die Generation Dringlich, zu der du nicht gehörst. Dein schwarzes Blut tauschst du nicht aus wie Songs auf deinem iPod und deine Zukunft bleibt genauso verschleiert wie noch vor 6 Wochen. Du kannst dich nicht vollkommen umkrempeln, denkt er und raucht eine Zigarette, während er auf seinen Cortado wartet. Da kannst du reisen wie du willst.

Aber du kannst Pläne machen, denkt er. Du kannst zusehen, wie du Tag für Tag ein Stück deiner Angst verlierst, du kannst weiter reisen du kannst weiter experimentieren. Du kannst weiter gehen, als du es bisher getan hast. Du kannst dich ein bisschen verändern und du kannst fast alles um dich herum verändern. Du kannst dir dein eigenes Berlin basteln, du kannst nach Buenos Aires oder London ziehen, du kannst nach München zurück. Du kannst noch hundert Platten aufnehmen und irgendwann doch ein Buch veröffentlichen, du kannst Fremdsprachen sprechen. Du kannst eine Frau finden, die ein Feuerwerk für dich ist, du kannst eine Weile mit ihr zusammen sein und vielleicht hast du Kinder, denen du von Drogen, Alkohol und einer Musikerexistenz abraten koenntest, es aber wahrscheinlich nicht tust. Du kannst noch so weit reisen und so viel erzählen. Du kannst die Leute unterhalten und die Leute werden dich unterhalten, du kannst in Unruhen geraten und dabei die Oberhand behalten, du kannst jeden Tag ein bisschen mehr das sein, was du dir vorstellst. Und du kannst Freunde haben. Du kannst dich nicht vollkommen umkrempeln, aber du kannst dich verdammt nochmal dein ganzes Leben verbessern und sogar gelegentlich Spass dabei haben, denkt er. Dabei kannst du soviel reisen wie du willst.

Und die gläsernen Hochhaeuser der Stadt blitzen ihn wie zur Bestätigung an, während er seinen Cortado serviert bekommt und nochmals die letzten vier Wochen Revue passieren lässt.

Buenos Aires

Es qualmt in Buenos Aires. Den ganzen Tag und in der Nacht schleicht sich der Rauch meiner Zigarette hinaus in die offene Dunkelheit durch das Fenster des Taxis, das mit der Geschmeidigkeit des Batmobils durch die posttraumatisierten überbordend breiten Strassen dieses Koloss rast.

Wenn Deutsche reisen, wird gehadert, gejammert und jeder Peso doppelt umgedreht. In einem Land wie Argentinien noch die Taxipreise durch Dividieren in Euro umzurechnen ist fast ein Affront gegenueber der fremden Volksseele. Sparfuchs, du hast die Ganzlockerbleiben-Attitüde gestohlen.

Ach, der Wein, der ist gut. Da muss man sich ueberhaupt keine Sorgen machen. Das Fleisch ist gar manches Mal zäh, wie mein Kollege Fons Tensfelder einst so treffend zu berichten wusste und die Maedchen, die sind elegant ohne so erzogen zu sein. Geschmack ist hier nicht der Oberschicht vorbehalten. Aber genaueres kann man nicht sagen, wenn man wie ich seine Zeit mehr oder minder freiwillig mit Gesindel aus Litauen, England, Deutschland, Schweden und Spanien verbringt.

Und das hat noch gefehlt. Nach zehn Jahren meine Rueckkehr ins Jugendherbergsgeschäft. Schlafsaal und Gemeinschaftsraum. Und ich hatte diese beiden Woerter aus meinem Vokabelheft so heftig ausradiert, dass auch noch die Seite darunter mit Gemeinschaftsdusche zerissen ist. Fucking Hostel Hell.

Heute am Flussufer gesessen, das er in der Regel ja nicht gerne pflegt, der Südländer an sich. Die Füsse in der Sonne, den Kopf in einem Daiquiri und dabei gedacht: „Ach, scheiss auf den Tango.“ So viel, so schnell, so schlampig spanisch in der Vornacht geredet, dass die anderen dachten, ich spräche es wirklich. Que divertido. Und wieder einmal mit Contenance aber Bestimmtheit Herrscharen von Grabschern in der Disko beiseite geräumt, die eine litauische Blondine mit Cowboyhut für Freiwild hielten.

Nach Mendoza

Die Sterne ueber den Anden sind zum Greifen nahe. Die Milchstrasse ist kein Mythos mehr und du kannst mich kreuzweise, weil du endlich einmal genauso unwesentlich bist wie ich. Cortez der Killer segelt ueber den Sternenhimmel und verliebt sich in diejenige, deren Leute er auf dem schlechten Gewissen hat. Genau wie Tiger Lou mir etwas linkisch ins Ohr verspricht, dass er diese Schlingschönheit schon noch irgendwann Ja sagen hören wird. Oder wenigstens nicht Nein.

Und klar werde ich das auch hören, dieses Ja, aber zuerst muss ich aus dieser Marsstation entkommen, wo sie uns hineinpferchen bevor wir wieder zurueck auf die Erde geschickt werden. Eine Steaksemmel noch und ein paar eisige Bergwinde und man treibt uns über die Grenze wie eine Herde, den Berg hinunter, weg von der Milchstrasse, dorthin, wo das Geld noch weniger wert ist.

Es ist so stockfinster, dass der Bus vielleicht nur sieben Stunden im Kreis gefahren ist und Mendoza der Nachbarort von Santiago De Chile ist. Ich haette es nicht bemerkt. Over the Andes and far away.

Adios Santiago, adios Joaquin!

Es hat sich ausgeruht! Nach 14 grossartigen Tagen Santiago De Chile packt mich die alte Hexe Rastlosigkeit bei den Pantalones und zieht mich aus dem Andenkessel hinaus in die weite südamerikanische Welt. Morgen werde ich mir den unsäglichen Backpackersack umgurten und die Stadt verlassen und ich weiss selbst noch nicht so genau wohin.

Von den ersten nervösen Tagen im Ghetto bis hin zu den herrlich träge fliessenden Nachmittagen im Viertel der Boheme war es eine erstaunlich kurze Zeit. Die Nationalitäten sind nur so uüber mich hereingebrochen und abgesehen von dem enervierenden Grammatikunterricht und meiner notorischen Unausgeschlafenheit in selbigem, bestanden die Tage aus Begegnungen der angenehmen Art. Wenn man von den marodierenden Hundegangs, dem ein oder anderen einfältigen Sprachreisenden und einem chilenischen Gangsterrapper einmal absieht.

Da ist Pamela Morales aus der Pinte um die Ecke, Profesora Isabel aus Santiago, Johanna aus Stockholm, Mariana aus Mexico City, Constance aus der Provence (ich sag das nur wegen dem Reim, wahrscheinlich stimmts gar nicht), Ana und Benjamin aus Berlin und natuerlich mein grossartiger Mitbewohner und Queenfan Joaquin aus Talca, Chile.

Der Medizinstudent mit dem tiefergelegten Latinloverblick hatte nicht nur in 10 Tagen drei verschiedene Maedchen einquartiert, nein, am Ende hat er sich gar noch in das argentinische davon verliebt und will mit ihr zusammen ziehen, sobald sie geschieden ist. Ich werde die vielen Fragen vermissen, die er mir gestellt hat. Natuerlich auf Englisch, da ist er ganz stolz darauf:

„Burny, did you see that girl yesterday? Do you think she’s good?“
„Burny, my friend, what did you think of my ex-girlfriend?“
„Burny, when do we go to a party of the Swedish girl?“
„Burny, are you busy? Have you met the Swedish girl again?“
„Burny, what about the other girl you met?“
„Burny, have you seen the Argentinian girl? What do you think of her?“
„Burny, can we go to a bar that has girls?“
„Burny, are there any Swedish or German girls at the party?“
„Burny, did you hear the girl and me last night?“
„Burny, should I be with that Argentinian girl?“
„Burny, is the German girl coming over again?“
„Burny, where does the Swedish girl live?“

Joaqin y las chicas. Claro. Aber ich täte ihm Unrecht, reduzierte ich ihn nur auf seine promiskuitiven Unternehmungen. Zum Einen scheint er sich in die Argentinierin aufrichtig verliebt zu haben, zum Anderen hat er mir viel ueber sein Land erzählt, er versteht eine Menge von Fussball und ist überhaupt ein prima Kerl.

Eine Menge von dem, was ich hier kennengelernt habe, wird mir fehlen. Ich denke, ich werde am Ende noch ein paar Tage Santiago dranhaengen, aber das gibt dann lediglich einen Epilog. Adios Muchachos, ich melde mich bald von irgendwo. Ich bin selbst gespannt.

Susan

So ein huüsches und trauriges Kind auf dem Weg der Vernichtung. In einer Gesellschaft, die alles verspricht und alles hält bis auf die bleibenden Werte, die sie so sehr herbeisehnt. Nun wirft man sie den Wölfen und ihr anschliessend vor, dass sie sich nicht fressen lässt. Sexy Sadie, schoenes, tödliches Mädchen.

Wer verlassen wird, verlässt, weil er es so gelernt hat. Die Naechte in San Franciso sind voller Verlassener und solchen die verlassen werden wollten. Ganz langsam wird unser Mädchen zu einer Expertin auf dem Gebiet. Jeden abend tanzt sie den Tanz der einsamen Teufel und je länger sie im schwarzen Licht des Mondes bleibt, desto weisser wird ihre ebene Haut und desto mehr folgen ihr die Amateurdämonen der Stadt. Nach zahllosen Nächten im Zwielicht von Rausch ohne Rechenschaft ist sie bereit fuer Rache an den Räbern ihrer Kindheit. An den Hütern der Option. An denen, die sich am Erwachsenwerden schuldig gemacht haben.

Als sie ihn trifft, fühlt sich das erste Mal seit langen Monaten endlich wieder unterlegen. Jetzt kann sie ihm beweisen, dass er die Richtige ausgesucht hat. In keinem anderen Moment kommt sie sich verlorener und stolzer vor als unter seiner Obhut. Er gibt ihr das, was sie in den triefenden Nächten unter den schwitzenden Körpern ihrer Brüder und den explodierenden Stimmen ihrer Eltern nie erhalten hat: Freiheit und Fürsorge zugleich. Und für die Fesseln der Verantwortung einer jungen Mutter ist es zu früh und zu gleichzeitig zu spät. Das Morden zum Zwecke der endgültigen Loslösung von der verheerenden Multiopotionalität einer privilegierten Gesellschaft hat im Geiste längst begonnen.

Jetzt sind sie selbst das Wolfspack und ihr Rudel schwärmt aus, um die Domestizierten ans Messer zu liefern. Ihre Zähne sind scharf. Susan nimmt und gibt nun das Feuer, von dem sie ein Leben lang so abhängig gewesen war. Es sind nun alles ihre Optionen. Es geht längst nicht mehr um ihn. Und der Tod ist auch ihr Verdienst und ist ihr lebenslang nicht mehr zu nehmen. Sie entscheidet nun, wer verlässt und wer verlassen wird.

Dass man sie einsperrt und sie nicht einmal mehr dem Mondlicht aussetzt, bricht sie nicht. Sie hat ihren Platz in der Geschichte eingenommen.

Go run along my little nightmare.
Your job is done here.
You’ve scared them all to death.
If they revive them just sit there.
Just smile dear. Make them thankful for every breath.

(lyrics by Alkaline Trio: Sadie)

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