Gegen den Regen

Während die Stadt schläft, stehe ich wach am Fenster und sehe auf die Häuser gegenüber. Ich schlafe kaum. Schlaf ist zum Luxus verkommen. Manchmal wenn ich Fieber habe, dann schlafe ich, um gesund zu werden. Sonst schlafe ich kaum. Mein Kreislauf ist schwach, obwohl ich ständig in Bewegung bin. Kalter Schweiß benetzt den ganzen Tag meinen Körper. Es ist geruchloser, schwerer, kühler Schweiß, wie nach einem Fieber. Einst war ich mir sicher, dass man – egal was passiert – nicht seine Seele und nicht seine Liebe zu den Dingen verlieren kann. Doch das hat sich relativiert. Es ist schwarz in mir drin geworden. Doch ich erinnere mich an eine Zeit des Aufbäumens gegen die Schwärze und den kalten Schweiß.

Ich war auf der Autobahn und vor mir fuhr ein LKW. Es war nass, kalt und dunkel. Das blaue Licht meiner Amaturen schien auf meine Hände, die das Lenkrad festhielten. Der LKW vor mir war lange Zeit das Einzige was ich in der Dunkelheit erkennen konnte. Es war ein Oktoberabend – es war nicht einmal Nacht – und ich war auf dem Weg zu meinen Eltern, den ganzen Weg, all die Stunden durch ein im Oktoberregen vergehendes Deutschland. Als ich an einer Raststätte hielt, roch ich kurz an einem der letzten Luftfetzen des Sommers. Doch die Luft war schon längst vergiftet von den Schwaden des aufziehenden Winters. Wie eine Absperrung umgaben sie das Land und hielten es für Monate fest. Monate, die mir wie ein ganzes Jahr erschienen. Der LKW vor mir fuhr schnell, so schnell, dass ich mich nicht traute, ihn zu überholen. Irgendwann kamen wir zwei Nebelscheinwerfer entgegen. Ich war nicht sicher, ob es auf meiner Hälfte der Autobahn geschah oder auf der Gegenfahrbahn. Ich weiß, dass ich nie grellere Nebelscheinwerfer sah als in dieser anbrechenden Oktobernacht auf einer deutschen, stockdunklen Autobahn. Ich schloss für einen Moment die Augen und als ich sie wieder öffnete, sah ich wie der LKW die Leitplanke streifte und anschließend ins Schleudern geriet. Er kippte und raste auf der nassen Autbahn quergestellt über den Asphalt. Mein Abstand war groß genug. Ich musste nicht einmal scharf bremsen. Langsam und neugierig fuhr ich dem ausser Kontrolle geratenen Monster hinterher. Schnell kollidierte der LKW in einer Kurve erneut mit der Leitplanke und riss ein Loch in die Absperrung. Hinter der Leitplanke ging es einen Hang hinauf, was verhinderte, dass der LKW die Fahrbahn verließ. Wie ein erlegter Elefant lag er jetzt in dem tiefschwarzen Regen und dampfte vor sich hin. Ich war auf dem Standstreifen zirka 20m dahinter stehen geblieben und saß mit zitternden Händen in meinem Auto. Das blaue Licht der Amaturen leuchtete mich an und außen suchte mein Fernlicht den verunglückten LKW. Ich blickte auf den hilflosen Blechtorso, wie er da leblos lag und stieg aus. Ich näherte mich der Unfallstelle, man hörte nichts außer dem Regen und keine Autos kamen. Es war zu dunkel um etwas in dem LKW zu erkennen. Das Führerhaus lag von mir weggekippt. Ich sah, dass Benzin auslief und ich nahm mein Feuerzeug und zündete ein Taschentuch an. Ich verdeckte es mit meiner Jacke, damit der Regen es nicht auslöschte, dann warf ich es auf die Benzinspur. Ein matte Flamme entzündete sich und setzte sich ein paar Meter fort. Sie brannte nicht lange, nur ein paar Minuten, bevor der Regen sie ausmachte. Doch sie war das Schönste was ich seit Langem gesehen hatte. Das einzige echte Licht an diesem tiefschwarzen verregneten Abend. Ich starrte auf die aus dem Benzin schlagenden Flammen und fühlte mich vollständig. Mit der Erinnerung an diese Flammen, die für einen Moment dem kalten, brutalen Regen trotzten, konnte ich den drohenden Winter überstehen. Ich stieg zurück in den Wagen und drehte. Nach ca. 500 Metern Geisterfahrt gelangte ich an eine Ausfahrt. Ich war keinem weiteren Fahrzeug begegnet. So fuhr ich weiter durch Deutschland, nach Hause zu meinen Eltern.

Und wie in vielen Nächten zuvor stehe ich am Fenster und lausche dem kalten, stechenden Regen, wie er den Rest des Sommers aufspießt. Ich schaue auf die Häuser gegenüber und sehe wie Lichter an- und ausgehen. Ich habe kein Auto mehr. Wie gerne würde ich jetzt ins Auto steigen und die vielen hundert Kilometer nach Hause zurücklegen, durch ein dunkles Deutschland. Immer in der Hoffnung noch einmal einem strauchelnden LKW zu begegnen. Und in ihn hineinrasen, in einer Explosion, die weit über die Wälder zu sehen ist, eine Explosion, die den Regen verdampfen lässt und die Nacht erhellt.