Das falsche Tagebuch: 16. Oktober 2015

Das Attentat von Paris hat sich das vor ein paar Jahren in Mumbai zum Vorbild genommen. Und damit die naheliegendste und schrecklichste Form von Terrorismus gleich nach Amokläufen an Schulen gewählt: innerstädtisches Nachtleben über den Haufen schießen. In einem Moment zuschlagen, wo die Leute sich aus dem Leben der Kriege und schlechten Nachrichten zurückziehen.

Jetzt schwingen wir wieder alle große Reden auf Facebook und finden plötzlich die Eagles Of Death Metal gut, als hätte es die erwischt. Dabei ist deren Sänger Jesse „The Devil“ Hughes selbst ein Waffennarr und bei NRA. Viel wichtiger als jetzt als irrsinnig mitfühlender Mensch dazustehen ist doch, sein Leben nicht nur maximieren zu wollen, das ist es doch, was alle in den Wahnsinn treibt. Die einen wollen das Maximum an Geld, die anderen das Maximum an Allah oder die maximale Anzahl an Jungfrauen im Paradies, ganz andere die maximalen Likes auf Facebook und die größten Deppen ein Maximum an Volkstümlichkeit.

Sich selber zurücknehmen, schauen was links und recht passiert und nicht immer gleich die einfache Meinung haben, nur weil die Wahrheit so ungemütlich komplex ist. Helmut Schmidt war auch nicht der beste Politiker Deutschlands, aber auch nicht das der reaktionäre Leibhaftige. Der Tod macht die Leute immer dermaßen wuschig, dass sie nur noch in Euphemismen oder völligen Deformationen denken wollen.

Neulich ist Dickie Hammond gestorben, Gitarrist von Leatherface. Das ist noch vor Iron Maiden immer meine Lieblingsband gewesen und ist es wahrscheinlich immer noch. Der Sänger Frankie Stubbs hat schon vor zwanzig Jahren eine Gesellschaft wie die jetzige vorhergesagt. Und wie konnte er das? Weil die damalige dieselben Maximen gehegt und gepflegt hat. Ich zitiere mal eben meinen Lieblingstext, der auf den ersten Blick so belanglos wie profan aussieht, auf den zweiten aber in ein paar Zeilen alles sagt, was man über den Menschen und das was ihm vorschwebt wissen muss.

A life full of grand ideas
A life full of grand designs
Of noble feats and noble minds
An entire lifetime of petty crime
A life full of pound signs

(Leatherface – Fat Earthy Flirt)

Und dann noch auf einem Laternenumzug gewesen. Und beim Kinderarzt. Und meine Tochter ist ein Jahr alt geworden. Und das Leben ist weitergegangen wie immer. Das ist vielleicht seine größte Qualität. Dafür nehm ich Altwerden gern in Kauf.

Am Freitag, den 20. November spielen meine The Gebruder Grim übrigens im Schokoladen in Berlin. Wir spielen neue Lieder, in denen es meistens ums Weitergehen geht. Auch wenn wir musikalisch 1986 stehengeblieben sind.

5 comments / Add your comment below

  1. Auf jeden Fall „Mush“ und den Nachfolger „Minx“. Gibts auch als Re-Issues mit der noch raueren (aber coolen) „Fill Your Boots“ in einer netten Box. Nach der Reunion sind „Horsebox“ und „Stormy Petrel“ zu empfehlen. Aber lieber mal hinten anfangen, als man noch dachte Leatherface seien die englischen Hüsker Dü.

  2. Ich finde ja schon, dass das „Gefühl“ im öffentlich bezeugten Mitgefühl eine maximale Maxime ist, war und sein sollte. Was bitteschön anderes ist denn der ursprüngliche Sinn des Laternenumzugs (in Bayern ja weiterhin der Martinszug genannt)? Nach den letzten Tagen finde ich es tatsächlich sehr beruhigend, zu sehen (auch auf FB), dass Emotionen nach einem solchen Ereignis – so naiv oder hysterisch sie auch manchmal erscheinen – etwas Weltbewegendes sind. Und das eben nicht nur hin zum Bösen.
    Und jetzt zum Schluss noch ein letzter Widerspruch: die hier erwähnten schrecklichen Euphemismen sind halt leider oft notwendig, wenn der Tod Trost fordert.
    Lots of love from Su (and I mean it!)

  3. Lots of love right back atcha, gal. Das möchte ich halt in der Praxis sehen, die Liebe und die Emotionen, nicht auf Facebook proklamiert. Das hat relativ wenig Wert. Früher hätte man gesagt, das ist nur virtuell.

  4. Diese Fixierung auf Jungfrauen war mir schon immer ein Rätsel. Religionen sind per se verstörend, aber das Verlangen nach einem Himmel voller Jungfrauen ist komplett geisteskrank.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert