Das falsche Tagebuch: 31. März 2014

Letzte Woche habe ich noch zu meinen Schwestern gesagt, ich gebe ihnen nicht die Hand zum Gruß, weil ich keinen Virus mehr will. Noch ein einziger Virus, hab ich gesagt, und ich geh zugrunde. Ich habe aufgehört, die Grippefälle seit letzten Oktober zu zählen, aber auf der zweiten Hand sind wir fast durch. Ich habe also ohnehin schon das Gefühl im Ganzen zu zerfasern, da sichelt mich am Freitag ein Mordvirus auf die Matratze, dass ich denke: Jüngstes Gericht. Selbst Ibuprofen 400 hat sich gedacht, zu starker Tobak, da halt ich mich raus und ein anderes Schmerzmittel war nicht im Haus. Von Fieberfantasien vollkommen aufgeweicht und vom Kopfschmerz völlig zerrüttet, wäre ich durchaus bereit gewesen, noch in der Nacht zum Samstag in die Charité zu gehen, wenn noch gewusst hätte, wie ich heiße. Angefangen hat natürlich das Kind mit dem Mordvirus und die Frau hat gleich nachgezogen, was natürlich auch jeglich Anteilnahme an meinem Beinahe-Sterbefall verhindert hat. Aber die haben ja leicht reden. Motzen ein bisschen rum und schlafen dann jede Grippe in Grund und Boden, während der Virus bei mir einen Veitstanz in Festivalformat aufführt. Wer kann da schlafen?

Als dann zumindest der nackter-Stahl-durch-Schädelknochen-Schmerz weggeht, fällt das Kind aus zwei Metern Höhe vom Klettergerüst und bricht sich das Schlüsselbein. Das bedeutet nicht nur eine ganz beschissene Zeit für den eh noch grippal schwer angeschlagenen Junior, es bedeutet auch Sonntagabend einen Familienausflug in die untergehende warme Frühlingssonne zu unternehmen, um das gereizte Familienklima durch ein gemeinsames Abenteuer zu beruhigen, es bedeutet: vier Stunden Notaufnahme Kinderklinik Virchow.

Einen Tag später liegen der Junior und ich in der Matratzengruft – er, weil er Schmerzen hat und ich, weil das Fieber immer mal wieder vorbeischaut. Wir schauen den Film „Die Piraten!“, der sehr lustig ist. Ich denke: Die Welt wird jede Stunde um eine Stunde verrückter und man ist zur Untätigkeit verdammt, das ist ja immer das Schlimmste am Kranksein.

Das falsche Tagebuch: 17. März 2014

Vergiftet hab ich mich gefühlt in den letzten Tagen und Wochen. Vergiftet vom Internet, den Zeitungen und der Politik. Vergiftet von Häme und Kriegstreiberei. Deprimiert bin ich nach Leipzig gefahren, aber das mit Vorsatz, denn wenn einen eine Stadt wieder aufrichten kann, dann Leipzig. Man darf den Hype nicht glauben, so viel Kultur und tolle Leute gibt es da nicht. Aber selbst die gänzlich Seelenunverwandten sind freundlich. Es ist die Freundlichkeit, nicht die Subkultur, die einen aufrichtet. Wobei die Freundlichkeit in Berlin längst zur Subkultur verkommen ist. Dafür ist die Buchmesse grausam. Ein Geschubse, mental und körperlich. Eine Branche, der man zu Unrecht mehr Herz als dem Rest der Kulturindustrie unterstellt. Im Gehen höre ich noch, wie Thilo Sarrazin sich über Uli Hoeneß äußert.

Neulich war ich bei McDonald und ein deutsches Poplied lief. Mein Sohn hat sich gerade den Mund an einem brühend heißen Kakao verbrannt und geschrien und jemand hat in einem viel zu Tim-Bendzko-artigen Song etwas viel zu defätistisches für einen Tim-Bendzko-artigen Song gesungen. Die vollkommene und plötzliche Neuordnung der Dinge ist eine schöne, eine wildromantische und gefährliche Illusion. Doch ich brauche die Restrukturierung ohne Umwälzrage. Die schwerste Disziplin der Welt: sich deutlich weiterentwickeln und dabei in aller Ruhe der Alte zu bleiben.

Das falsche Tourtagebuch: 2. März 2014

Ich fühle mich älter, jetzt wo ich wieder daheim bin. Im positiven Sinne älter. Und ja, DAHEIM. Ich sage das, weil ich es meine. Seit langem bin ich wieder mal auf den Westfunkturm zugefahren und habe gedacht: gleich daheim. Wo war ich? Ach ja, ich war auf Tour. Sagt sich cool, liest sich cool, ist aber wie das meiste in meinem Leben nur die halbe Wahrheit. Es waren nur drei Auftritte im Süden mit meiner Heavy-Metal-Band The Gebruder Grim. Der Begriff Heavy Metal kommt mir manchmal schwer über die Lippen, aber sobald ich anfange, etwas von Retro- und DIY-Metal zu erzählen, wirkt es wie eine Rechtfertigung. Wer die Band live sieht, versteht dann aber alles. Wo einst Ironie vermutet, regiert die Liebe für die Musik meiner Jugend und dasselbe gilt für die Bandmitglieder. Die Besetzung gibt es erst seit letztem Herbst, es war wichtig die menschlichen Grenzen auszuloten. Und wo geht das besser als auf einer Rock’n’Roll-Tour.

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Das falsche Tagebuch: 17. Februar 2014

Mich stört die Berlinale nicht. Abgesehen davon, dass ich zwei Wochen nicht ins Cinestar kann (wo die Filme im Original laufen), und sich kein Berliner Kinobetreiber des neuen Poltfilms erbarmt, stört mich die Berlinale nicht. Ich muss nicht hin, ich muss aber auch nicht weg. Ich warte, bis mich jemand auf eine Premiere oder eine Party einlädt, aber wenn das nicht passiert, sitz ich freiwillig weiter zuhause und spiele Mark-Knopfler-Licks der ersten Dire-Straits-Platte auf meiner weißen Fender Strat mit den Fingern nach (bester Song, bestes Riff: Down To The Waterline) oder lese in meiner Tommy-Iommi-Biografie, wie die Band einst ihren Schlagzeuger Bill Ward mit Goldfarbe eingesprüht und mit Klarlack fixiert hat. Offensichtlich hatte die Band bis dahin nie „Goldfinger“ samt Shirley Eatons glänzender (!) Darstellung gesehen, sonst hätte sie gewusst, dass man so Leute umbringt. Auf jeden Fall wäre Bill Ward beinahe erstickt, denn der Mensch atmet nicht nur durch den Mund – was ich nur deshalb aufschreibe, weil es so malerisch klingt.

Zurück zur Berlinale: Manchmal warte ich jahrelang auf eine Einladung, dieses Jahr war ich bei einem Film und gleich zwei Parties. Die Höflichkeit verbietet es, über Festivitäten zu schimpfen, die einen umsonst mit Mousse Au Chocalat (mit Knusperteig im Innern) und Whiskey-Ginger-Ale ausstatten, aber wie so viele Veranstaltungen nach Veranstaltungen (sprich: Aftershow-Parties) ist das oft nur ein schwaches Nachglühen von Glamour, falls da vorher einer gewesen sein sollte. Schlechte Musik, alte Männer und geschmacklos gekleidete Frauen in schwarzlackierten Bars. Der Berliner Filmschick erinnert mich an eine Mischung aus Kunstpark Ost und den falschen Gourmet-Restaurants, in denen meine Eltern in den Neunzigern ihre Abende verbracht haben – die so Namen trugen wie La Mirage etc. Andererseits bin ich beinahe im Alter meiner Eltern in den Neunziger Jahren.

Ich schreibe ein Lied auf Deutsch, was mir sehr schwer fällt. Aber eine gute Zeile hab ich: „Ich werd die Hunde des Krieges ableinen.“

Das falsche Tagebuch: 11. Februar 2014

Merde. Wenn man ab Oktober rechnet, war ich etwa genau die Hälfte der Zeit bis jetzt grippal. Vollständige Gesundheit ist im Winter überhaupt ein rares Gut geworden, seit von allen Seiten Kinderviren auf einen einhageln. Nicht dass ich in früheren Wintern gesünder gewesen wäre, aber das war quid pro quo: saufen wie ein Loch, ausfiebern, weitersaufen wie ein Loch. Immerhin trinke ich seit ein, zwei Jahren beinahe nur noch Whiskey und dann sogar fast ausschließlich Jameson. Ja, ich denke, das ist gesünder und hält schlanker als Bier. Ja, ich denke das wirklich. Und wenn jetzt wieder die Leier vom echten torfigen schottischen Singlemalt losgeht, dann patz ich Ihnen eine. Einfach so mitten ins Gesicht. Mit derselben kalten Verachtung, wie mich so mancher Berliner „Barmann“ (..und Anführungszeichen sind noch euphemistisch) anschaut, wenn ich einen irischen Whiskey mit Eiswürfen bestelle. Ich habe lange in einer Bar gearbeitet (allerdings in einer Dienstleistungsgesellschaft, sprich in Bayern) und da galt die Maxime: Der verdammte Kunde ist der verdammte König, außer er will ein Bananenweizen.

Kontextbefreite Anmerkung: Warum sind viele dieser neuen Büro- und Funktionalgebäude in Berlin schwarz oder dunkelgrau? Wer will an einem Montagmorgen ein schwarzes Gebäude mit der Aussicht betreten, den Löwenanteil seines Februars dort zu verbringen?

Das falsche Tagebuch: 28. Januar 2014

Von der Mulmigkeit in den Wurstmonaten und der Zerbröselungspanik

Ein mulmiges Gefühl. Denk ich an Berlin bei Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht. Ein mulmiges Gefühl. Ein mulmiges, leich defätistisches Gefühl habe ich, wenn ich mir die Stadt anschaue. Ich kann nicht „meine“ Stadt schreiben, es geht einfach nicht, ich brings nicht übers Herz. Mir ist vollkommen klar, dass meine Mulmigkeit in nachbarschaftlich guten Beziehungen zur Paranoia steht, aber die Ratio gibt klein bei.

Eine ehemalige Arbeitskollegin und gebürtige West-Berlinerin hat vor beinahe zehn Jahren gesagt: Das größte Problem an Berlin ist, dass jeder denkt, um die Ecke kommt noch was Besseres. Sie hat das damals eher auf Parties, Drogen, Sex und Hockeyclubs in Zehlendorf bezogen, aber das lässt sich tatsächlich auf jeden Lebensabschnitt übertragen. Jetzt ist es die bessere KiTa, die bessere Schule, die größere Eigentumswohnung etc. Klar, der Mensch denkt, er muss sich weiterentwickeln, Zufriedenheit ist auf der Stelle treten, das ist verpönt, suspekt und vermutlich sogar verwerflich. Ist es einfach die Gewissheit der eigenen Endbarkeit, der horrende Schiss vor der eigenen unvermeidlichen Zerbröselung, den uns jemand in den Gencode geschrieben hat, oder ist es einfach der gnadenlose Neid (was ja vielleicht einfach die Folge ist)?

Ich fühle einen Hauch von Panik. Das äußert sich vor allem im Umgang mit Kindern. Da ich selbst eins habe, muss ich mich gezwungenermaßen mit anderen Eltern abgeben und mein Leben ist seitdem schlechter geworden. Ich bin tätowiert, arbeite zuhause und man kann mich googeln. Das reicht, um den meisten Leuten hier (in Berlin Mitte) Angst einzujagen. Nicht, dass ich den geringsten Wert auf eine gemeinsame Freizeit mit den Eltern aus der KiTa legen würde, aber eine friedliche Ko-Existenz, bei der man noch nicht einmal im Ansatz darüber nachdenkt, wie der andere eigentlich ist und was er macht, wäre drin. Kinder intensivieren den Wahnsinn in den Leuten. Plötzlich schaut jeder ganz genau hin, obwohl es ihn einen Scheißdreck angeht. Was macht der andere mit dem Kind, wie ist die Frisur und die des Kindes, wann geht er zur Arbeit, wer ist das überhaupt, der sein Kind in die Nähe des meinigen lässt?

Und dann kommt das: Zwangssozialisierung, Lästern, Kinder nicht zu Kindergeburtstagen einladen. Kinder nicht miteinander spielen lassen. Und natürlich schwingt sich irgendeine Mutter (ja, es sind leider immer die Mütter) zum Blockwart (westdeutsch: Hausmeister) auf und schreibt ach so freundlich mahnende E-Mails an ALLE. Um nichts auf der Welt möchte ich auf unseren Sohn verzichten. Dennoch wünsche ich mich manchmal wieder in die soziale Isolation zurück, die man als kinderloses Paar genießt.

Dass alles zugeschneit ist, beruhigt mich. Die kaputte Stadt hier kann sich auf den Kopf stellen in ihrem kollektivindividualistischen Massenegoismus, es sieht trotzdem jedes Penthouse und jeder SUV gleich aus. Klar treibt mich auch der Neid der Besitzlosen um, das will ich nicht leugnen. Die Impulse sind ja nicht das Gefährliche, die mangelnde Impulskontrolle ist es, oder in anderen Worten: der Stil.

Das hier soll gar keine Abhandlung über die Berliner Gesellschaft sein, dafür kenne ich sie zu wenig. Man pendelt ja nur zwischen Mikrokosmen. Es ist nur die Bestandsaufnahme einer Stimmungsmisere, die ärgerlicher als ihre Gründe ist. Statt mich auf ein paar grundsätzliche buddhistische Regeln zu konzentrieren, wie ich das zu meinen besten Zeiten (die sind allerdings rar) im Ansatz schaffe, maule ich mit den Haien und vermiese mir selbst die Schneetage, die zum Besten gehören, was die zwei Wurstmonate Januar und Februar zu bieten haben. Und frag mich nicht, warum Wurstmonate. Das ist hier ein falsches, aber dann doch ein Tagebuch. Man schreibt auf, was man vom Feeling her so fühlt.

Was ich auch noch irgendwo aufschreiben will: True Detective ist großartig. Ich glaube, ich kenne nach Agent Dale Cooper und Marshall Raylan Givens keinen so großartigen „Gesetzeshüter“ wie Rust Cohle. Seine Art von Weltverneinung ist fast zärtlich und er hat einen derart feinen Sinn für Humor, dass es beinahe unmöglich ist, seine Belustigung von seiner Erschütterung zu trennen. Natürlich trägt die Serie visuell und dialogisch ganz ganz dick auf, aber irgendwie tut sie das von ganz unten, mit einem langsamen, scheinbar endlosen Ausatmen.

Das falsche Tagebuch: 20. Januar 2014

Ich bin gereizt. Ich bin sauer. Ich habe das Gefühl, es offenbaren sich jeden Tag mehr Schwachstellen an Geist und Körper. Meine Haut durchlebt seit November (da fing dieses höllische Wechselwetter an) einen Koller nach dem anderen und überall sehe ich zwischen die Ritzen, sehe die Sollbruchstellen und visioniere mir Schreckszenarien ins Haus. Das Internet wird jeden Tag etwas schwächer und meine Frisur sieht bescheuert aus. Wenn ich Whiskey trinke, wirkt das nicht wie die übliche Befreiung, sondern wie eine Vergiftung. Auch das Kind fühlt sich nicht wohl in seiner Haut, das merke ich doch. Ich glaube, ich kenne das Gefühl, es ist ein uraltes. Es ist meistens eine Art Verpuppung, bevor sich entwas entlädt, und das muss weiß Gott nichts Schlechtes sein. Hauptsache irgendetwas passiert. Das alte Warten und vielleicht sogar freudige Hineinstürzen ins Getümmel, ins Gefecht, in den nächsten Weltkrieg.

Wenn ich mich umschaue, dann scheine ich nicht der Einzige zu sein, dem der Dampf zu den Ohren hinauskommt. Alles wetzt und wartet gleichzeitig und kehrt letztlich panisch vor der eigenen Haustür bevor das Dach darnieder rauscht. Die anderen Eltern schauen mich komisch an, aber langsam verstehe ich, dass sie Angst haben, dass ich ihre Angst bemerke. Tu ich auch, ist mir aber scheißegal. Denn glauben Sie’s oder nicht, auch ich hab Sorgen. Sorgen, dass wir in einer Stadt aus Asche leben, die nur noch so lange dasteht bis der geringste Windhauch sie in ein Nichts zerweht. Tiny City made of Ashes in der Version von Sun Kil Moon. Gesellschaftsparanoia ist meine Lieblingsexzentrizität zur Zeit, und ich bin froh, dass ich endlich wieder eine habe. Ich bin Künstler verdammt noch Mal. Ich trinke zu wenig, rauche nicht und habe keine Liebhaberinnen oder Liebhaber. Irgendeinen Hau muss ich haben, wie soll ich sonst schreiben?

Am Freitag war ich wieder beim Stand-Up. Ich praktiziere das, ich tue es, aber ich tue es beinahe heimlich. Nicht weil ich mich schäme, ich finde sogar, dass mein Sieben-Minuten-Programm (das ich fatalerweise jeden Monat komplett umschreibe) mittlerweile ziemlich gut funktioniert. Heimlich, weil es schön ist, ein geheimes Hobby zu haben, wenn ich schon nicht in Puffs gehe. Heimlich auch, weil ich noch nicht an Punkt kommen will, wo man mich berechtigterweise fragt, was ich damit erreichen will. Noch kann ich sagen, ich bin neugierig. Am Anfang war ich ein wenig entsetzt ob der cliquenhaften Natur des Kleinvarietés in Schöneberg. Dieses Zwangszusammensein mit Anwesenheitspflicht, was einem nur wieder verdeutlicht, dass man nicht dazugehört, wenn man sich nicht zu einer sozialen Regelmäßigkeit aufraffen kann – story of my life. Doch die Leute dort sind toleranter als ich gedacht habe. Die Profis (und meine Güte, gibt es da Leute mit gutem Timing) und die Nieten gleichermaßen. Es ist die demokratischste und unprätentiöseste Form von Unterhaltung, die ich je gesehen habe, wenn man von den Moderatoren des Abends mal absieht, welche die einzige Form von Hierarchie repräsentieren. Aber nichts schweißt mehr zusammen als die kollektive Zuarbeiter-Erfahrung. Ich geh bald wieder hin, sage aber niemanden Bescheid. Wenn Sie mich in zehn Jahren lesen sehen und sich fragen, warum ich ein Timing-Gott bin, dann wissen Sie Bescheid.

Ich übersetze ein Sachbuch über Beschiss im Weltfußball, verschobene Spiele und so. Verschobene Spiele darf ich nicht sagen, weil der Laie sonst denkt, es handle sich um ein verspätetes Spiel. Es geht viel um Singapur, ich denke seit zwei Tagen andauernd über Singapur nach. Das erleichtert mir ein bisschen die Berlin-Paranoia. Die Sonde, die gerade aufwacht, wäre eigentlich ein roter Teppich für Außerirdische, den Weltuntergang oder einfach irgendwas. Hauptsache es passiert irgendwas, damit die Wut und die Anspannung weg gehen.

Das falsche Tagebuch: 16. Januar 2014

Durchbruch im Schlaf! Seit Jahren, praktisch seit meinem Abitur, träume ich davon, noch auf der Schule (manchmal auch an der Uni) zu sein, weil mir die entscheidende Abschlussprüfung in Mathematik fehlt. Die Lebensumstände im Traum sind oft dieselben wie in der aktuellen Realität, nur mit dem nagenden, alles in Frage stellenden Unterschied, dass ich diese scheiß Prüfung noch nicht bestanden habe. Und ehrlich gesagt auch keine Ahnung habe, wie ich sie schaffen soll, weil ich im Unterricht nicht aufgepasst habe, weil ich keinen Sinn für Details und eigentlich schlichtweg keine Ahnung von der Materie besitze. Es ist ein Albtraum des schlechten Gewissens, dazu muss man kein Therapeut sein.

Gestern im Schlaf dann der unerwartete, scheinbar revolutionäre Paradigmenwechsel: Die Prüfung lag längst hinter mir und ich hatte sie in der Tat bestanden. Und obacht: Ich war jetzt Mathematiklehrer an meinem alten Gymnasium! Die erste Stunde im neuen Schuljahr absolvierte ich mit Smalltalk und kruden Wiederholungen, dann schrillte die Glocke zur Pause und wir wurde bewusst, dass ich gar nicht wusste, was ich da eigentlich unterrichtete. Ja, mir fiel sogar auf, dass ich kein Lehrbuch besaß. Mein alter Deutschlehrer, Herr R., sagte zu mir: „Du weißt eigentlich gar nicht, was du das tust, oder?“.

In New Jersey kam grade heraus, dass der republikanische Gouverneur und Präsidenschaftskandiat in spe, Chris Christie, aus Rache am Bürgermeister von Fort Lee (der hatte ihn wohl nicht bei den Wahlen „endorsed“ – was bei einem Umfragevorsprung von ca. 20 Punkten auch scheißegal gewesen wäre), die George Washington-Bridge hat sperren lassen, einen der Hauptverkehrsknoten im Bundesstaat, um den Verkehr vorsätzlich zum Erliegen zu bringen, wie man so schön sagt. Vielleicht ist es nur ein albernes Vorurteil, das ich aus meiner Übersetzung von „Boardwalk Empire“ mitnehme, aber die Uhren ticken offensichtlich anders in der Heimat vom Boss und Bon Jovi. Ein bisschen bananenrepublikanischer, andere sagen auch mafiös dazu. Oder wie John Stewart das neulich ausgedrückt hat: „We literally have a severed horse’s head on our state flag.“

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Das falsche Tagebuch: 12. Januar 2014

Vier Tage Bandprobe liegen hinter mir. Die Band kommt aus verschiedenen Teilen Deutschlands zusammen, um im Wedding vier Tage am Stück zu spielen. Das ist beinahe wie eine Woche in Männerurlaub zu fahren. Mit Whiskey schon nachmittags, dem Absturz in finsterste Albernheiten, ewiger Verbrüderung, aber auch menschlischer Dampfkessel-Entlüftung. Klassische Psychohygiene also, die soziologischen Mechanismen einer Familienfeier greifen hier, auch auf den Alkoholkonsum bezogen. Es sind zwei neue Songs entstanden, einer klingt nach Maiden, der andere nach Sabbath. Und natürlich in keinem Zusammenhang steht die Tatsache, dass die Band „The Prisoner“ und „Supernaut“ von besagten Bands nachgespielt hat. Ende Februar geht die Band auf eine kurze Bayerntour, und ich hab ein wenig Angst, weil ich touren eigentlich nicht leiden kann und zudem nichts ungerner tue als weite Strecken mit dem Auto fahre. Außerdem bin ich nicht gern von der Familie weg, noch nicht einmal drei Tage. Dann wiederum gefällt mir die Idee, sich gehen zu lassen, um für kein Geld abends wenige Leute bestmöglich zu unterhalten. Weil es radikal und ideell ist. Rock’n’Roll ist in seinen Anfängen immer eine völlige Selbstverleugnung und eine Abweisung vernünftiger Lebenswege, deswegen ist er grade am Anfang immer so gut. Sobald die Infrastruktur Einzug hält, leidet die Inspiration. Chemieunfall in West Virginia, 300.000 Menschen ohne Wasser.

Das falsche Tagebuch: 6. Januar 2014

Kaum ein Auge zugetan, weil das neue Jahr gedanklich mit voller Wucht bereits nachts über mich hereingebrochen ist. Beginn der ersten „Arbeitswoche“. Es gibt noch nicht viel Arbeit, aber es steht schon wieder zuviel auf dem Spiel für meinen Geschmack. Das Geld, das Renommee, der Seelenfrieden. Der neue Mandel ist längst fertig, aber bisher hab ich keinen Gedanken an ihn verschwendet. Seit drei Tagen – seit ich anfange, Veranstalter für die Lesereise anzuschreiben – denke ich in ausgiebigen Schleifen an ihn und was er mir bringen wird – oder eben nicht.

Am Wochenende war ich betrunken. In einem Club, auf einer dieser Feiern. Dieser, weil jeder weiß, was ihn erwartet. Eine dieser, die ich im Nachhinein als eine Wilson-Gonzales-Ochsenknecht-Party bezeichnet habe, völlig unabhängig davon, ob er überhaupt da war: Enge und Inhaltsleere, Koks und Hip Hop. Hip Hop ist überhaupt das neue Elektro. Ich habe das schon zu Café-Moskau-Zeiten gesagt, als es noch als prolliger galt. Und im Rio in dem kleinen Zimmer oben haben sie das auch schon gehegt und gepflegt. Alles darf dreckig, sexuell, kaputt und gleichzeitig fröhlich sein, wenn Hip Hop läuft. Sogar Hits sind erlaubt.

S. stellt mir seinen Friseur vor. Auf den ersten Blick ein Hardrocker auf den zweiten Blick ein Schönling, auf den dritten ein Depp. Er ist ganz nervös, der Friseur. Er erwartet sich noch eine Menge von dem Abend, das kann man sehen. Jemand steckt ihm einen Briefumschlag zu, vielleicht war es das, was ihn nervös gemacht hat und noch machen wird. Wie ein Reh springt er manchmal verschreckt und ohne Not hoch und streckt dabei die Arme weit von sich. S. geht mit dem Friseur aufs Klo. Später wird er von „Rattengift“ sprechen, das ihm dargereicht wurde.

Ich treffe meinen literarischen Zeitgenossen Nagel. Das hätte ich ja gerne: so einen Verbund an befreundeten Schriftstellern wie die Gruppe 47. Aber vielleicht sage ich das nur, weil ich Aufmerksamkeit brauche, eigentlich will ich ja keinem Verein und keiner Gruppe angehören. Nagel dürfte aber in meine Gruppe. Weil er so viele Mädchen kennt, erzähle ich ihm von einem prähistorischen Aufriss, als es die Hotelbar in der Zionskirchstraße noch gab. Das Mädchen und ich waren so betrunken, dass ich im Prinzip erst morgens richtig verstanden habe, wie sie aussieht. Sie kam dann aus der Dusche und ich habe so etwas gesagt wie: „Du siehst ja hübsch aus“. Und sie hat so etwas geantwortet wie „Glaubst du, das weiß ich nicht?“. Sie ist Schauspielerin aus München und 21, hat sie damals behauptet. Am Vorabend hat sie noch laut auf der Straße geschrien: „Oh nein, ich habe einen neuen Freund, ich habe einen neuen Freund“, aber dann hat sie sich nie auf meine SMS gemeldet, die ich einen Monat später geschickt habe, weil mir der Abend selbst irgendwie unangenehm war. Ich frage Nagel, ob er sie kennt, aber er kennt sie nicht und findet es vermutlich ein wenig seltsam, dass ich annehme, er könnte sie kennen.

Ich bleibe noch ein bisschen und sitze kraftlos herum. Eine Gruppe junger Mädchen setzt sich neben mich und ich fühle mich beobachtet – ich weiß dann immer nicht, was ich mit den Beinen machen soll, wie man sie am indifferentesten übereinander schlägt. Weil ich nicht draufkomme, gehe ich nach Hause.

Heute ist ein Tag, an dem viel von Emails abhängt. Meistens kommt den ganzen Tag über keine Nachricht, erst wenn ich keine Zeit mehr habe, weil ich mit meinem Sohn unterwegs bin, treffen alle auf einmal ein. Merkel beim Langlauf verletzt. Gleich postet wieder jemand einen lustigen Artikel vom Postillon dazu. Der Postillon ist wie die Satireseite in meiner Schülerzeitung damals. „Mampf“ hießt die Zeitung und ich habe auch Satire geschrieben. Zum Beispiel über Känguruhs, die sich auf Tragflächen von Flugzeugen ins Land schmuggeln. Das war wegen der Asylpolitik damals, Ende der Achtziger. Diese Art von Satire ist scheiße, weil die Realität der Satire ja uneinholbar voraus ist, hat damals der Sigi Zimmerschied ganz richtig gesagt. Eine gescheite Satire, wenn es so etwas gibt, ist die lakonische und nur sanft annotierte Wiedergabe von Tatsächlichem. Der Hildebrandt hat das super gemacht, Priol, Pelzig und Schramm können das. Polt und Loriot sind in ihren Sketchen oft so wenig von der Realität abgewichen, dass die Pointe eigentlich das Schwächste an den Inszenierungen sein musste.

„Horst Seehofer ist der Antichrist“, habe ich neulich auf Twitter geschrieben. Das ist mehr als nur ein billiger Witz. Die CSU motiviert die Leute abseits aller Fakten dazu, sich vor Überfremdung und dem Fremden an sich zu fürchten. Ich bin nicht mehr in der katholischen Kirche, aber das erscheint mir nicht gerade sehr christlich, wenn ich das Neue Testament richtig verstanden habe.

Ich muss jetzt schon den Druck aus dem neuen Jahr nehmen, merke ich. Ich bin angespannt, aber es kann auch der Hunger sein, weil ich außer einem Franzbrötchen nichts gegessen habe.