Berlin ist eine Stadt,
verdammt dazu,
ewig zu werden,
niemals zu sein.
(Karl Scheffler, 1910)
Dass Berlin schon seit geraumer Zeit den Nimbus der Halbfertigen, der wunschlos Unglücklichen und des Underdogs unter den Molochs dieser Welt trägt, ist keine Neuigkeit. Berlin ist keine Schönheit, kein Traum von einer Stadt und es vermag das Chaos von Millionenstädten zumindest nicht mit prunkvollen Hinterlassenschaften einer glorreichen Vergangenheit aufzuwiegen. Berlin ist jung und verwegen, entgleist und geschändet, im ewigen Wiederaufbau begriffen, im ästhetischen Hintertreffen, glaubt man der Meinung der Vielheit. Die auf Sumpf gebaute Stadt ist immer bemüht die Balance auf dem wässrigen Untergrund zu wahren, Sicherheiten gibt es hier nicht viele, sprengt man ein Haus in die Luft, gehen ganze Häuserblocks mit unter. Und dennoch wahrt Berlin für mich eine Ruhe, die ich in noch keiner anderen Großstadt erfahren durfte. In seiner dreisten Breite und seiner launischen Länge gibt es mir stets genug Platz, mich zu entfalten, mich zu drehen und zu wenden. Und Platz bedeutet Freiheit. Mag mein Seelenwohl auch ein wenig der bayerischen Gemütlichkeit hinterher klagen, die Berliner Gemütlichkeit tröstet mich darüber hinweg. Denn Weitläufigkeit ist das neue Gemütlich. Ich mag diese Stadt und ich mochte sie von Tag eins an, denn wenn sie eines nicht tut, dann ist es beengen.
Dass die Schäbige und Vernachlässigte jetzt endlich wieder die unpolitische Aufmerksamkeit der reiselustigen Welt bekommt, sei ihr von Herzen gegönnt, auch wenn es bedeuten könnte, dass die Freiheiten und Weitläufigkeiten bald ein wenig abnehmen werden.
In dem abgebildeten Reiseführer von 1936, in dem die Nazis mit keinem Wort erwähnt sind außer bei einer Ämterauflistung samt NSDAP-Zentralen, spiegelt sich derselbe Nimbus wieder, von dem oben die Rede ist. Zu einem Zeitpunkt, als noch kein Krieg durch die Straßen gewütet hatte. Kein flammender und kein kalter. Wie man Berlin sieht und wie es geworden ist, ist freilich auch die Summe der historischen Resultate, aber es scheint so etwas wie einen Grundcharakter zu geben. So decken sich Schefflers Zitat mit der Einleitung des Reiseführers, mit meiner Einschätzung und mit der gängigen Meinungen über Berlin. Vielleicht schaffte es die Stadt auch nie, ihrem eigenen eifrig tradierten Stereotyp zu entkommen. Und das, obwohl sie sich eine Menge traut.