Die Auflösung

Unsere Freunde sind fort
vielleicht haben wir sie gar nicht gesehen, vielleicht
sind wir ihnen begegnet als noch der Schlaf
uns nah an die atmende Welle trug
vielleicht suchen wir sie nur weil wir das andere Leben suchen
das Leben jenseits der Statuen

(aus Giorgos Seferis – Wir kannten sie nicht)

Vor Jahren dachte ich, dass ich mich auflöse. Die Indizien dafür waren tatsächlich vorhanden. Ich brach aus einem sozialen Umfeld heraus, ich wurde kaum mehr wahrgenommen. Ich vergaß Dinge und Personen und Personen und Dinge vergaßen mich. Meine Pläne waren gescheitert, es gab keine Alternativen. Die Feuerleitern waren vom vielen Herauf- und Herunterlaufen rostig und brüchig, praktisch unbrauchbar. Meine Freizeit verschwand und den Teil, der blieb, trank ich in die Nonexistenz. Ich schlief jeden Tag angetrunken ein und verbannte so alle Träume aus meiner Nacht. Morgens wachte ich angetrunken auf und fügte mich ein in einen anonymen Alltag.

Ich war tatsächlich dabei, mich aufzulösen. Mit einer Idee fing es an. Zuerst löste sich diese Idee auf, dann begann mein Körper mitzuziehen. Meine Haare wurden grau und brüchig, meine Augen müde und farblos. Sie war in die Sonne gegangen und hatte mich in einem ewigen Januar zurückgelassen. Einem Januar, dessen ruchlose Kälte ans Bett fesselte und die Muskeln lähmte. Ich zählte die Tage bis zu meiner endgültigen Auflösung. Viele konnten es nicht mehr sein. Ich tippte auf ca. 600. Jeden Tag war ich ein bisschen weniger, ein bisschen mehr in die Nonexistenz vorgerückt. Es würde eine Art buddhistische Loslösung sein. Ich würde einfach aufhören zu existieren. Keine Bedrohung für Leib und Leben, kein Selbstmord, keine trauernden Angehörigen. Einfach aufhören. Die Mär vom friedlichen Einschlafen konnte mir gestohlen bleiben. Einfach aufhören, ohne Umstände, ohne Aufwand. Niemand, der meine Reste beseitigen musste.

Heute bin ich immer noch da. In letzter Sekunde hast du den Auflösungsprozess gestoppt. Wie du das gemacht hast? Ich weiß es nicht mehr genau. Wir waren bei deinen Eltern und du warst plötzlich eine Tochter, statt einer Verrückten. Wir sind mit deinem Hund ins Moos gewandert. Die Berge und das scheidende Licht der Samstagssonne. Der dämliche Dalmatiner hat den halben Fluss umgegraben. Dann hat er uns angelächelt. Ich habe soviel Fotos mit meinem Gedächtnis geschossen. Bis der Speicher voll war. Die schönsten hab ich entwickeln lassen. Eins, wo du neben dem Hund gehst, mit deinem tollen Hintern und deinen unglaublichen Haaren, hab ich aufgehängt. Gleich neben dem Bild mit der Sonnenbrille. An diesem Nachmittag hab ich aufgehört, mich aufzulösen und gleichzeitig wieder damit angefangen.

Es war nicht unkompliziert. Während einige Gedächtnislücken geschlossen wurden, fiel der Verfall mich erneut am anderen Ende meines Seins an. Es hat Zeit gebraucht, bis ich merkte, dass ich dieses Mal nicht selbst schuld war. Meine eigene Auflösung hast du gestoppt, aber mich gleichzeitig mit deiner infiziert. Es hat viele Monate, vielleicht sogar Jahre gedauert, bis wir miteinander schliefen. Du wolltest es sehen, wie es aussieht, wenn wir uns vereinigen. Zwei Halbexistierende, zwei Semiwesen. Danach bist du weg. Du wolltest nicht, dass ich dich so sehe, so halb, so nahezu verschwunden. Und dann ging es schnell bei mir. Ich konnte nun nicht mehr leugnen, dass bereits Teile von mir fehlten. Nachdem die Zugehörigkeit zu der Stadt verloren ging, verlor ich an Halt und ein stetig wiederkehrendes Fieber suchte mich heim. Viele meiner Freunde hörten auf, sich an mich zu erinnern. Sie heirateten und besannen sich auf ihre Familien. Ich hingegen streckte die Hand nach dir aus, aber deine Auflösung war bereits zu weit fortgeschritten, du warst nicht mehr genügend vorhanden, um meine Hand zu nehmen.

Jetzt liege ich da und mit dem abtretenden Sommer verliert nicht nur das Licht seine Konsistenz. Ich tippe mal, ich habe noch bis Dezember, bevor ich weg sein werde. Es ist in diesem Stadium kein unangenehmes Gefühl, weil man bereits zuviele Ideen eingebüßt hat, so dass man sich nicht aufbäumt. Süßlich und anziehend erscheint es mittlerweile, das Verschwinden. Deine Auflösung ist zu meiner geworden. Und vielleicht ist das besser, als einfach so Lebewohl zu sagen. An der Krankheit des anderen zu Grunde zu gehen, ist die letzte große Romanze dieses sterbenden Sommers.

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