Die schäumenden Ufer des Styx

Auf einem fetten Greise rittlings reitet
Ein nacktes Weib mit schwarzem Flatterhaar.
Und ihren Schoß und ihre Brüste breitet
Sie lüstern aus vor der Verdammten Schar.

(Georg Heym -Styx)

I

ch habe neulich eine Liebe zu Birnenkuchen entwickelt und von einem paradiesischen Ort geträumt. Es waren die schäumenden Ufer des Styx, in ihrem Wohlklang wie einem Heym-Gedicht entnommen und sie lagen irgendwo in Südengland. Das Flußbett war sandig, das Wasser ganz seicht und transparent und schäumende Kleinstwellen schmiegten sich an das flache Ufer, das in gut gemähten Grasstreifen nur leicht ansteigend nach oben führte, wo sich ein ebenso gut gemähtes und gepflegtes Fußballfeld, ein Bolzplatz, befand. Wir zogen unsere Schuhe aus und wateten durch das lauwarme Wasser. Es war himmlisch unten am Styx. Am nächsten Tag entdeckte ich meine Liebe zu Birnenkuchen.

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Das Biest schläft


I feel it in my bones when the storm is close
Then await for the rain and the wind to blow
As dark colors fill the sky I’m drenched I’m feeling so alive
Eyes closed tight my ears open for the boat

(Chuck Ragan – The Boat)

Es ist schon seltsam, wieviel Energie ich aufbringen kann, um meine oder die Miseren der Anderen in bluttriefenden Bildern an die Wände zu malen. Aber will ich einfach sagen, wie gut es mir geht und das in ein paar angenehme Bilder packen, komme ich mir naiv und schwülstig vor und am Ende fehlen mir die Worte. Die Poesie ist ein Instrument des Bösen.

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Ich bin ein bisschen zu früh auf dem Zionskirchplatz und habe Zeit mich in die hinterste Bank der ausschließlich mit Kerzenlicht ausgeleuchteten Kirche zu setzen. Außer mir befinden sich nur sechs weitere Leute in der Kirche. Über mir in der Empore höre ich Schritte. Unvermutet fängt eine Querflöte an zu spielen. Die Melodie klingt leicht orientalisch und auf eine sanftmütige Weise traurig. Ich lege meine Hände übereinander, für Fremde mag es aussehen, als würde ich beten. Mit der Melodie kehrt eine rührende Stille in mir ein. Ich stelle mir vor, wie mein Handy klingelt und die Stille zerfetzt. Ich würde rangehen. Die wohlbekannte Stimme eines toten Mädchens würde etwas am anderen Ende der Leitung flüstern, das so grauenvoll klingt, das ich es nicht niederschreiben will. Dann würde ich die Zionskirche verlasssen und aus der Stadt für eine Weile weggehen. Aber es ist nur die Vorstellung von dem Furchtbaren. In Wahrheit bleibt die traurige Melodie in der kalten Abendluft, die über das offene Portal von draußen kommt, unter der Empore über mir hängen und tröstet mich, wo es nichts zu trösten gibt. Dass der namenlose Schrecken dem Schönen so nahe beiwohnt hat keinen Trost verdient. Das ist nur der Alltag. Ich würde gerne beschreiben wie gut es mir in diesem Moment geht, aber mir fehlen die Worte.

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Die Stadt, die aus dem Sumpf kam

Berlin ist eine Stadt,
verdammt dazu,
ewig zu werden,
niemals zu sein.

(Karl Scheffler, 1910)

Dass Berlin schon seit geraumer Zeit den Nimbus der Halbfertigen, der wunschlos Unglücklichen und des Underdogs unter den Molochs dieser Welt trägt, ist keine Neuigkeit. Berlin ist keine Schönheit, kein Traum von einer Stadt und es vermag das Chaos von Millionenstädten zumindest nicht mit prunkvollen Hinterlassenschaften einer glorreichen Vergangenheit aufzuwiegen. Berlin ist jung und verwegen, entgleist und geschändet, im ewigen Wiederaufbau begriffen, im ästhetischen Hintertreffen, glaubt man der Meinung der Vielheit. Die auf Sumpf gebaute Stadt ist immer bemüht die Balance auf dem wässrigen Untergrund zu wahren, Sicherheiten gibt es hier nicht viele, sprengt man ein Haus in die Luft, gehen ganze Häuserblocks mit unter. Und dennoch wahrt Berlin für mich eine Ruhe, die ich in noch keiner anderen Großstadt erfahren durfte. In seiner dreisten Breite und seiner launischen Länge gibt es mir stets genug Platz, mich zu entfalten, mich zu drehen und zu wenden. Und Platz bedeutet Freiheit. Mag mein Seelenwohl auch ein wenig der bayerischen Gemütlichkeit hinterher klagen, die Berliner Gemütlichkeit tröstet mich darüber hinweg. Denn Weitläufigkeit ist das neue Gemütlich. Ich mag diese Stadt und ich mochte sie von Tag eins an, denn wenn sie eines nicht tut, dann ist es beengen.
Dass die Schäbige und Vernachlässigte jetzt endlich wieder die unpolitische Aufmerksamkeit der reiselustigen Welt bekommt, sei ihr von Herzen gegönnt, auch wenn es bedeuten könnte, dass die Freiheiten und Weitläufigkeiten bald ein wenig abnehmen werden.

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In dem abgebildeten Reiseführer von 1936, in dem die Nazis mit keinem Wort erwähnt sind außer bei einer Ämterauflistung samt NSDAP-Zentralen, spiegelt sich derselbe Nimbus wieder, von dem oben die Rede ist. Zu einem Zeitpunkt, als noch kein Krieg durch die Straßen gewütet hatte. Kein flammender und kein kalter. Wie man Berlin sieht und wie es geworden ist, ist freilich auch die Summe der historischen Resultate, aber es scheint so etwas wie einen Grundcharakter zu geben. So decken sich Schefflers Zitat mit der Einleitung des Reiseführers, mit meiner Einschätzung und mit der gängigen Meinungen über Berlin. Vielleicht schaffte es die Stadt auch nie, ihrem eigenen eifrig tradierten Stereotyp zu entkommen. Und das, obwohl sie sich eine Menge traut.

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Gute Nacht, süßer Slasher-Bär

Ich muss noch eine kleine Gruselgeschichte nachtragen. Als ich vor wenigen Wochen bei meiner Schwester in Grafentraubach im Kinderzimmer meiner kleinen Nichte übernachtete, konnte ich nicht schlafen, weil ich den Blick dieses Bären nicht ertrug. Er starrte mich mit einer Diabolik aus dem Spielzeugregal heraus an, wie man sie sonst nur von Chuckie und anderem Mörderspielzeug kennt. Als ich den Bär in die Hand nahm, fing er plötzlich an, ganz klagend und vorwurfsvoll zu erzählen und zu singen, von wegen wie alt er sei und dass man ihn lieb haben soll. Es kann auch etwas ganz Anderes gewesen sein. Vielleicht hat er auch gedroht, uns alle im Schlaf abzustechen. Auf jeden Fall stellte ich das Ding einigermaßen verängstigt wieder ins Regal zurück, aber mit dem Gesicht gegen die Wand, damit mich dieser Knopfaugenblickterror nicht in den Schlaf verfolgen konnte. Ich war bereits kurz vorm Einschlafen, als die Augen des Bärs plötzlich anfingen zu blinken, sich der Kopf in meine Richtung drehte und wieder dieses Lied begann. Und ich hätte schwören können, dass ich das Ding ausgeschaltet hatte.

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Das Mysteriöse

Ich weiß, du magst das Mysteriöse mehr als das Ehrliche. Ich weiß, die Finsternis macht dich mehr an als das Licht. Ich weiß, du mutmaßt lieber als dass du vertraust. Ich weiß, du schläfst lieber statt wach zu bleiben. Ich weiß, du liebst die Stärke, weil du die Schwäche der Anderen schwach findest. Ich weiß, ich weiß, ich weiß. Und wenn ich jetzt sage, dass du all die Dunkelheit in mir erstickt hast, dass du meine Hornhaut abgeschält und mich verwundbar wie ein kleines Kind gemacht hast, ich auf beiden Augen wieder volle Sehkraft besitze und manche Dinge in ihrer bedrückenden Schönheit ebenso wie in ihrer ewigen Grauslichkeit sehen muss, dann enttäuscht dich das sicher maßlos. Das ist nicht das, was du eingekauft hast. Das hast du nicht bestellt, nicht abgeholt und noch nicht einmal gewollt. Aber das ist es, da bin ich und jetzt, wo wir uns nackt begegnet sind – denn auch deine Tarnung fiel ab und das vor allen Leuten – könnten wir eigentlich wieder ganz von vorne anfangen. Und ich schwör dir, da ist noch mehr Finsternis abzutöten. Auch wenn es momentan nicht danach aussieht, ich werde dich vernichten eines Tages und erst dann wirst du dir wünschen, du hättest mich nicht für so ehrlich gehalten.

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An einem dieser schwarzen Tage

Don’t tell me it’s the right time to pack it up
Don’t tell me it’s the right time for a bitter goodbye.

(The Draft – Impossible)

An einem dieser schwarzen Tage, wenn der Himmel bleischwer und vollgepumpt mit Regen über dem Berliner Morgen hängt, wenn du aufstehst und du noch blutest aus der Nacht davor, wenn das Kissen unter deinem Arm rot ist und du kaum die Kraft hast, die Augen zu öffnen. An einem dieser schwarzen Tage und den Stunden dazwischen wird dir bewusst, dass die Stadt voller Zorn und Gewalt ist und es ein fataler Irrglaube sein muss, sich aus der Stadt heraushalten zu können. An einem dieser schwarzen Tage siehst du ein Video von Snow Patrol, eine rasant gefilmte Kamerafahrt durch eine Stadt im Halbdunkel des verglühenden Nachmittags und du erinnerst dich an Barcelona. Wie es dich eingelullt hat und fast nicht mehr hergegeben hätte, hättest du an Berlin nicht längst deine Seele verschachert Die Vanity Fair ruft München wieder zur heimlichen Hauptstadt aus und du denkst darüber nach, wie es wäre, sich einfach in den Zug zu setzen und zu verschwinden. Sich einfach ins Seehaus im Englischen Garten auf die Bierbank am Wasser zu setzen und die Beine in den Weiher zu halten und zuzusehen, wie es weiter regnet. Und wie der scheidende Mehmet Scholl sagen zu können: „Mein Leben hat gerade erst angefangen.“

An einem dieser schwarzen Tage bin ich es leid, die Fäden in der Hand zu behalten. An einem dieser schwarzen Tage, wenn die Spree vor meinem Bürofenster schwarz und schlingend ans Ufer droht und die Telefone still stehen. An einem dieser Tage, nachdem in Norditalien die Feuerwerke über der Lagune abgebrannt sind und wir nur weiter auf den stinkenden Fluß starren, der sich weiter mit Regen füllt, an einem dieser Tage möchte ich zurück zu Neunzehn. Als wir noch aufbrachen, statt festzusitzen, als wir noch in See stachen, statt am Fluss zu darben. An einem dieser schwarzen Tage frage ich mich, ob Zeitreisende von dieser Periode überhaupt etwas mitbekommen, ob dieser Tag nichts als ein Funken in ihren Träumen, ihrem Schlaf hinüber in eine bessere Zeit ist. An einem dieser schwarzen Tage, wenn tausende von Kindern jetzt gleich auf die Spielplätze gehen und die feuchte Luft an ihren Schläfen klebt und sie das Gefühl schon kennen, aber noch nichts ahnen vom Ausmaß der Brutalität dieser Stadt.

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Patrona Bavariae

So, St. Softdrink verknistert sich erstmal für ein paar Tage nach Grafentraubach, Niederbayern und stellt sich seinen Hinterbliebenen als Auferstandener samt neuem Lebenskonzept vor. Schließlich haben mich die Eltern ja das letzte Mal vor meinem Ableben lebendig gesehen. Bin auch gespannt wie die Moosbüffel aus Ratisbona (Zwischenstop) auf lebende Tote und unheilige Berliner Exilanten reagieren. Vermutlich mit der für sie typischen saturierten Gleichgültigkeit, die sie mir auch schon prämortal entgegen gebracht haben. Auch wurscht, ich geh erstmal dahin, wo ich herkomm. Servus, bis nachad. Euer Burnstl.

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Das langsame Verlassen

You don’t move from that graceful pose
And I never want to close my eyes.
Every move that I make is phoney
And every word I say is lies

(The Unbelievable Truth – Settle Down)

Ich habe es schon oft gesehen und ich habe es selbst schon gespürt. Wie es ist, ganz langsam und schleichend verlassen zu werden. Ich habe es selbst oft grausam präzise praktiziert. Wenn sich der Körper anfängt zu sträuben, wenn einen die Nerven allzuschnell verlassen und man beim Einschlafen wünscht, der andere wäre gar nicht mehr da, obwohl man noch so sehr an dem Konstrukt hängt, das man sich im dreissigsten Anlauf erschraubt hat, damit dieses Mal gefälligst alles passt. Dann fängt man langsam an, den anderen liegen zu lassen, währen man selbst aufsteht.

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Tut man mir das an, bemerke ich es natürlich sogleich. Aber ich kann ja schlecht sagen: „Schluss mit langsam verlassen, denn ich geh jetzt von alleine. Ätsch, schneller gewesen.“ Das kann man ja nicht sagen, will man auch nicht, solange die Hoffnung bei einem Prozent verbleibt, dass man sich täuscht und der andere nur eine seltsame Phase durchlebt. Oder man ist es so wie ich leid, etwas zu sagen und lässt die Dinge nur noch mit sich geschehen. Tag für Tag entfernt sie sich dann ein bisschen mehr, verliert an Euphorie, an Kraft und an Schönheit. Tag für Tag zieht sie sich ein Stückchen mehr zurück. Sie hört nicht mehr genau zu, sie ist ständig mit ihrem Handy beschäftigt, sie hört auf mit dir zu schlafen und es nervt sie, dir beim Aufstehen zuzusehen.

Es ist ein grausamer und schleichender Verfall. Fast so, als würde man langsam und bewusst verwesen, während man in einem offenen Sarg vor den Augen der Kondulanten liegt. Ein unaufhaltsamer Verfall, denn hat sie sich einmal entschieden, kann niemand auf der Welt sie umstimmen. Sie wird noch eine Weile brauchen, bis sie sich ihr erneutes Scheitern eingesteht, aber dann wirst du irgendwann aus ihr verschwunden sein und sie entschläft dir eines Nachts und von da an ist dein Bett wieder leer. Ich habe es passieren sehen und es wird wieder passieren. Wer es einmal erlebt hat, sieht es immer wieder. Überall.

(Der Song zum Text von The Unbelievable Truth)

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Kurzkritik zu Death Proof

Jedes Mal wenn ein neuer Tarantino kommt, denk ich bei mir, nö, den guckste nicht, irgendwann is genug mit Tarantino-Filmen. Dann seh ich ihn aber meistens aus Neugier doch und bin wieder aufs Neue begeistert, dass es da jemand gibt der seinen Job als Filmemacher noch ernst zu nehmen scheint und jede Einstellung, jeden Schnitt und jede Dialogzeile ins bestmöglichste, liebevolle Licht rückt. Aber was heißt ernstnehmen? Eigentlich geht es Tarantino bei dieser Hälfte vom Grindhouse-Doublefeature vorwiegend um seinen eigenen Spaß. Nur geile Weiber am Set, die Lieblingsmusik auflegen, Nahaufnahmen von Schnaps, klasse Retro-Karren abfilmen, einen neuen Standard in Sachen Autoverfolgungsstunts setzen und ganz nebenbei zum x-ten Mal einem abgehalfterten Altstar (K. Russell) zu neuer Glorie verhelfen. So würde mir Filmemachen auch Spaß machen. Ich hab zwar keine Ahnung, wie man auf so eine kranke Storyline kommt, aber Hauptsache jemand ist draufgekommen. Apropos draufkommen. Auf den Geschmack bin ich bei Fräulein „Butterfly“ Vanessa Ferlito gekommen. Tolles Mädel, toller Film trotz und gerade wegen der Frauengespräche, sagt St. Softdrink.

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Ena

Alle sind sie gekommen. Alle Verwandten und Bekannten. Sogar die Clique, aus der sie sich herausgewunden hatte und die im Anschluss nicht mit subtilen Anfeindungen und Intrigen gegeizt hat. Alle sammeln sie sich jetzt um Enas Grab herum und die Angst steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Es ist nicht die Trauer um Ena, die sie lähmt, es ist die nackte Furcht ums Überleben, die Großangst vor der eigenen Sterblichkeit. Es geht ihnen nicht um Ena. Es ging ihnen nie um Ena. Aber wem ging es schon je um den anderen? Beziehungen, Elternschaften, Verwandschaften, Ehen und Angestelltenverhältnisse. Wem geht es denn da um den anderen? Niemandem. Und so geht es auch heute an dem Tag, an dem es ausnahmsweise nur um Ena gehen soll, vermutlich am wenigsten um sie.

Der Fairness halber muss man sagen, dass es Ena tatsächlich auch fast auschließlich um sie selbst ging. Aber ihre Egomanie war keine böswillige. Es war noch nicht einmal Fahrlässigkeit. Ihre Rücksichtslosigkeit war eigentlich nur ein Versehen. Sie ging einfach nur voran und wusste haarklein, was sie wollte. Ihr Problem war, dass sie dabei niemanden aus dem Weg räumen wollte. Aber wenn man das nicht will, dann bekommt man auch nicht was man will und dann ist man unglücklich und am Ende tot wie Ena. Und liegt da zwischen all den Freunden und Bekannten, von denen keiner auch nur den blassesten Schimmer hatte, dass so etwas passieren kann. Dass so etwas vor allem unserer Ena passieren kann. Aber wie sollten sich auch etwas ahnen? Zum einen hätten sie sich mit Ena auseinandersetzen müssen und das fiel nicht leicht, weil Ena beinahe arrogant in ihrer aufgesetzten Sorglosigkeit wirkte, zum anderen hätte man Ena keines ihrer Probleme auch nur im Ansatz angemerkt. Niemand hat es kommen sehen. Niemand außer mir.

Für mich waren die Zeichen überall. Jeden Morgen lag der Tod ein bisschen intensiver in der Luft. Beim Aufwachen fand ich sie bereits halb tot vor in letzter Zeit. Und beim Einschlafen machte sie mir eine Heidenangst, denn sie drehte sich weg und rutschte ganz weit auf ihre Seite des Betts, damit ich nicht hören konnte wie kleine Tränen ihre Wange hinabliefen. Wenn sie lachte, lachte sie nicht aus tiefem Herzen, sie zeigte nur ihre makellosen Zähne. Und sobald wir alleine waren, schlief sie sofort ein. Sie entzog sich mir sofort. Sie wollte alleine sein.

Dass sie ihren Weg verloren hatte, merkte ich schon nach wenigen Wochen. Sie benutzte kein Make-Up mehr wenn wir ausgingen und bald gingen wir überhaupt nicht mehr aus. Sie ertrug mich mehr, als sie mich mochte, und das obwohl sie mich jahrelang verehrt hatte und seit wenigen Monaten endlich ihr Eigen nennen konnte. Aber das, aber ich half wohl auch nichts mehr. Ena war oft weggetreten, wenn sie las oder arbeitete. Man sprach sie an, aber sie hörte einen nicht. Oft rief sie tagelang nicht an, weil sie es vergaß. Weil sie einfach vergaß, dass es noch jemanden gab in ihrem Leben. Selbst ihr Vater, musste manchmal bei ihr klingeln, um mit ihr zu sprechen. Ena hatte vergessen ihr Telefon anzumachen. Seit fünf Tagen.

Ich weiß nicht genau, wie Ena früher war. Ob sie schon immer so war. Und ob es jetzt nur zuviel von diesem Immer war. Ich kannte sie ja kaum und erst seit ich mit ihr zusammen bin, verstehe ich sie in ihrer verzweifelten Gänze. Vielleicht hätte ich etwas tun können, um sie zu retten. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich irgendeinen Einfluss auf sie hätte ausüben können. Um ehrlich zu sein, hatte ich nicht einmal das Gefühl, ihr Freund zu sein, obwohl sie mich so nannte. Ich habe kein schlechtes Gewissen. Ena war schon verloren, als wir zusammen kamen und vielleicht war sie das immer schon. Es ist nicht meine Schuld. Aber für mich war das eindeutig. Eindeutig, dass es so kommen musste. Die anderen haben es nicht kommen sehen. Sie stehen hier versammelt und fürchten sich vor der Eindeutigkeit. Ich habe keine Angst. Ich wusste, was auf uns zukommt. Ich wusste, wie Ena ist. Ich weiß, wie fürchterlich das Leben sein kann. Ich beneide Ena sogar ein wenig, jetzt wo sie das hinter sich hat.

(Anmerkend: Artikel aus der Kategorie B-Files sind fiktiver Natur. Es ist auch niemand gestorben, den ich kenne und ich kenne auch niemanden, der jener Ena ähnlich ist. Also keine Sorge, liebe Leser. Alles ist gut soweit.)

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