Gegen den Regen

Während die Stadt schläft, stehe ich wach am Fenster und sehe auf die Häuser gegenüber. Ich schlafe kaum. Schlaf ist zum Luxus verkommen. Manchmal wenn ich Fieber habe, dann schlafe ich, um gesund zu werden. Sonst schlafe ich kaum. Mein Kreislauf ist schwach, obwohl ich ständig in Bewegung bin. Kalter Schweiß benetzt den ganzen Tag meinen Körper. Es ist geruchloser, schwerer, kühler Schweiß, wie nach einem Fieber. Einst war ich mir sicher, dass man – egal was passiert – nicht seine Seele und nicht seine Liebe zu den Dingen verlieren kann. Doch das hat sich relativiert. Es ist schwarz in mir drin geworden. Doch ich erinnere mich an eine Zeit des Aufbäumens gegen die Schwärze und den kalten Schweiß.

Ich war auf der Autobahn und vor mir fuhr ein LKW. Es war nass, kalt und dunkel. Das blaue Licht meiner Amaturen schien auf meine Hände, die das Lenkrad festhielten. Der LKW vor mir war lange Zeit das Einzige was ich in der Dunkelheit erkennen konnte. Es war ein Oktoberabend – es war nicht einmal Nacht – und ich war auf dem Weg zu meinen Eltern, den ganzen Weg, all die Stunden durch ein im Oktoberregen vergehendes Deutschland. Als ich an einer Raststätte hielt, roch ich kurz an einem der letzten Luftfetzen des Sommers. Doch die Luft war schon längst vergiftet von den Schwaden des aufziehenden Winters. Wie eine Absperrung umgaben sie das Land und hielten es für Monate fest. Monate, die mir wie ein ganzes Jahr erschienen. Der LKW vor mir fuhr schnell, so schnell, dass ich mich nicht traute, ihn zu überholen. Irgendwann kamen wir zwei Nebelscheinwerfer entgegen. Ich war nicht sicher, ob es auf meiner Hälfte der Autobahn geschah oder auf der Gegenfahrbahn. Ich weiß, dass ich nie grellere Nebelscheinwerfer sah als in dieser anbrechenden Oktobernacht auf einer deutschen, stockdunklen Autobahn. Ich schloss für einen Moment die Augen und als ich sie wieder öffnete, sah ich wie der LKW die Leitplanke streifte und anschließend ins Schleudern geriet. Er kippte und raste auf der nassen Autbahn quergestellt über den Asphalt. Mein Abstand war groß genug. Ich musste nicht einmal scharf bremsen. Langsam und neugierig fuhr ich dem ausser Kontrolle geratenen Monster hinterher. Schnell kollidierte der LKW in einer Kurve erneut mit der Leitplanke und riss ein Loch in die Absperrung. Hinter der Leitplanke ging es einen Hang hinauf, was verhinderte, dass der LKW die Fahrbahn verließ. Wie ein erlegter Elefant lag er jetzt in dem tiefschwarzen Regen und dampfte vor sich hin. Ich war auf dem Standstreifen zirka 20m dahinter stehen geblieben und saß mit zitternden Händen in meinem Auto. Das blaue Licht der Amaturen leuchtete mich an und außen suchte mein Fernlicht den verunglückten LKW. Ich blickte auf den hilflosen Blechtorso, wie er da leblos lag und stieg aus. Ich näherte mich der Unfallstelle, man hörte nichts außer dem Regen und keine Autos kamen. Es war zu dunkel um etwas in dem LKW zu erkennen. Das Führerhaus lag von mir weggekippt. Ich sah, dass Benzin auslief und ich nahm mein Feuerzeug und zündete ein Taschentuch an. Ich verdeckte es mit meiner Jacke, damit der Regen es nicht auslöschte, dann warf ich es auf die Benzinspur. Ein matte Flamme entzündete sich und setzte sich ein paar Meter fort. Sie brannte nicht lange, nur ein paar Minuten, bevor der Regen sie ausmachte. Doch sie war das Schönste was ich seit Langem gesehen hatte. Das einzige echte Licht an diesem tiefschwarzen verregneten Abend. Ich starrte auf die aus dem Benzin schlagenden Flammen und fühlte mich vollständig. Mit der Erinnerung an diese Flammen, die für einen Moment dem kalten, brutalen Regen trotzten, konnte ich den drohenden Winter überstehen. Ich stieg zurück in den Wagen und drehte. Nach ca. 500 Metern Geisterfahrt gelangte ich an eine Ausfahrt. Ich war keinem weiteren Fahrzeug begegnet. So fuhr ich weiter durch Deutschland, nach Hause zu meinen Eltern.

Und wie in vielen Nächten zuvor stehe ich am Fenster und lausche dem kalten, stechenden Regen, wie er den Rest des Sommers aufspießt. Ich schaue auf die Häuser gegenüber und sehe wie Lichter an- und ausgehen. Ich habe kein Auto mehr. Wie gerne würde ich jetzt ins Auto steigen und die vielen hundert Kilometer nach Hause zurücklegen, durch ein dunkles Deutschland. Immer in der Hoffnung noch einmal einem strauchelnden LKW zu begegnen. Und in ihn hineinrasen, in einer Explosion, die weit über die Wälder zu sehen ist, eine Explosion, die den Regen verdampfen lässt und die Nacht erhellt.

Veröffentlicht am
Kategorisiert in Texte

Brick Lane

Als wir die Brick Lane entlang gehen, weht uns der Rauch der Barbecues aus den Innenhöfen um die Nase. Bierkrüge geraten aneinander und die Straßen sind verstopft mit burlesken East-Endern und neureichen Afterwork Arschlöchern. Der Sommer gibt heute abend sein erstes Gastspiel in London. Ich habe das Mädchen aus Litauen von der Arbeit abgeholt und sie hat mir ihre hochhackigen Schuhe in die Sporttasche gesteckt und ist in Ballerinas geschlüpft. Sie ist unmöglich geschminkt und jedes zweite Wort ist „wicked“, aber ich mag sie, weil sie eine leise Ahnung davon hat, wie man jemand das Gefühl gibt, er sei am richtigen Ort, ohne dass er es ist. Und ich mag ihr Parfüm, auch wenn es viel zu viel ist. Ich habe es schon am Flughafen Luton gerochen, hundert Kilometer weit weg von der Innenstadt. Ich fühle mich wohl hier, der Ort meiner schlechten Träume ist zu einem guten Ort geworden.

Zuvor war ich den ganzen Tag durch die Stadt gelaufen. Immer an der Themse entlang, über die Tower Bridge durch Regen und Wind bis der Tag in einer sonnigen Dämmerung verebbte und ich in der Brick Lane ankam. Es war noch nicht dunkel, aber die Lichter gingen an und es waren viele. Ich ging bis zur U-Bahn Station Shoreditch und von dort beobachtete ich ein Flugzeug, das im Tiefflug die Brick Lane in Richtung Old Spitalfields Market überquerte, über die alte Christ Church hinweg. Ich konnte dich sehen, dich hören, dich riechen. Du hast deine auralen Spuren hier hinterlassen. Es war fast, als könnte ich deinen Geist sehen, wie er durch die Brick Lane irrt auf der Suche nach dem Echtesten aus deinen ganzen englischen Gefühlen. Mir war, als würde dich jeder hier kennen, aber du warst weg. Ich habe London gehasst, das East End, die Brick Lane. Sie haben dich von mir abgelenkt.

Und dann stand ich da inmitten der Brick Lane und die Trümmer meiner Erinnerung an deine Berichte aus London fügten sich zu einer Szenerie zusammen. Eine Szenerie voller Musik, voller Freunde. Die Drogen und Eitelkeiten, die Psychosen, die Messer im Bettkasten deiner Mitbewohnerin, der ganze neue Sex, die schwarzen Nächte, all das fügte sich den Gesetzen des East Ends. Und das hatte sich für Gastfreundlichkeit enschieden. Es hatte beschlossen, dich aufzunehmen. Dich und deine Freunde. Dich und deine neuen Freunde. Und jetzt nahm es mich auf. Müde und mittellos war ich nach London gekommen und hatte den ganzen Tag gesucht. Von West Kensington über Notting Hill über die Oxford Street und Covent Garden runter ans Wasser, die Themse entlang bis ich ankam. Und dann stand ich unter all den Fremden und konnte dich sehen, wie du eine von ihnen warst und nicht eine von uns und ich fand das Gleiche, was du vor genau zwei Jahren hier vorgefunden hattest. Ich fand meinen Frieden. Und Sufjan Stevens sang „All Things Go.“ Ich und du, wir waren uns das erste Mal einig, obwohl wir uns längst nicht mehr trafen.

Stunden später hole ich das litauische Mädchen und ihre Schuhe von dem Friseur und wir gehen durch die Brick Lane. Ich habe verschwiegen, dass ich heute schon einmal hier war. Ich habe verschwiegen, dass ich dich fast angerufen hätte, hätte ich deine Nummer noch besessen. Ich verschweige, dass ich einfach nur gerne hier sitzen will und rauchen. Doch ich bin ihr Gast und sie führt mich herum. Wir treffen einen Freund von ihr, der in leeren Häusern wohnt. Wir gehen in eine volle Bar und trinken Weißwein. Ich schlafe tief und friedlich in dieser Nacht und träume von einem Haus in der Brick Lane, in dem wir wohnen. Am nächsten Tag geht das litauische Mädchen früh zur Arbeit, ich packe mein Zeug und verlasse ihr Haus, fahre zu jemand in der Vorstadt und komme nicht mehr zurück.

bricklane.jpg

Veröffentlicht am
Kategorisiert in Texte

Die Auflösung

Unsere Freunde sind fort
vielleicht haben wir sie gar nicht gesehen, vielleicht
sind wir ihnen begegnet als noch der Schlaf
uns nah an die atmende Welle trug
vielleicht suchen wir sie nur weil wir das andere Leben suchen
das Leben jenseits der Statuen

(aus Giorgos Seferis – Wir kannten sie nicht)

Vor Jahren dachte ich, dass ich mich auflöse. Die Indizien dafür waren tatsächlich vorhanden. Ich brach aus einem sozialen Umfeld heraus, ich wurde kaum mehr wahrgenommen. Ich vergaß Dinge und Personen und Personen und Dinge vergaßen mich. Meine Pläne waren gescheitert, es gab keine Alternativen. Die Feuerleitern waren vom vielen Herauf- und Herunterlaufen rostig und brüchig, praktisch unbrauchbar. Meine Freizeit verschwand und den Teil, der blieb, trank ich in die Nonexistenz. Ich schlief jeden Tag angetrunken ein und verbannte so alle Träume aus meiner Nacht. Morgens wachte ich angetrunken auf und fügte mich ein in einen anonymen Alltag.

Ich war tatsächlich dabei, mich aufzulösen. Mit einer Idee fing es an. Zuerst löste sich diese Idee auf, dann begann mein Körper mitzuziehen. Meine Haare wurden grau und brüchig, meine Augen müde und farblos. Sie war in die Sonne gegangen und hatte mich in einem ewigen Januar zurückgelassen. Einem Januar, dessen ruchlose Kälte ans Bett fesselte und die Muskeln lähmte. Ich zählte die Tage bis zu meiner endgültigen Auflösung. Viele konnten es nicht mehr sein. Ich tippte auf ca. 600. Jeden Tag war ich ein bisschen weniger, ein bisschen mehr in die Nonexistenz vorgerückt. Es würde eine Art buddhistische Loslösung sein. Ich würde einfach aufhören zu existieren. Keine Bedrohung für Leib und Leben, kein Selbstmord, keine trauernden Angehörigen. Einfach aufhören. Die Mär vom friedlichen Einschlafen konnte mir gestohlen bleiben. Einfach aufhören, ohne Umstände, ohne Aufwand. Niemand, der meine Reste beseitigen musste.

Heute bin ich immer noch da. In letzter Sekunde hast du den Auflösungsprozess gestoppt. Wie du das gemacht hast? Ich weiß es nicht mehr genau. Wir waren bei deinen Eltern und du warst plötzlich eine Tochter, statt einer Verrückten. Wir sind mit deinem Hund ins Moos gewandert. Die Berge und das scheidende Licht der Samstagssonne. Der dämliche Dalmatiner hat den halben Fluss umgegraben. Dann hat er uns angelächelt. Ich habe soviel Fotos mit meinem Gedächtnis geschossen. Bis der Speicher voll war. Die schönsten hab ich entwickeln lassen. Eins, wo du neben dem Hund gehst, mit deinem tollen Hintern und deinen unglaublichen Haaren, hab ich aufgehängt. Gleich neben dem Bild mit der Sonnenbrille. An diesem Nachmittag hab ich aufgehört, mich aufzulösen und gleichzeitig wieder damit angefangen.

Es war nicht unkompliziert. Während einige Gedächtnislücken geschlossen wurden, fiel der Verfall mich erneut am anderen Ende meines Seins an. Es hat Zeit gebraucht, bis ich merkte, dass ich dieses Mal nicht selbst schuld war. Meine eigene Auflösung hast du gestoppt, aber mich gleichzeitig mit deiner infiziert. Es hat viele Monate, vielleicht sogar Jahre gedauert, bis wir miteinander schliefen. Du wolltest es sehen, wie es aussieht, wenn wir uns vereinigen. Zwei Halbexistierende, zwei Semiwesen. Danach bist du weg. Du wolltest nicht, dass ich dich so sehe, so halb, so nahezu verschwunden. Und dann ging es schnell bei mir. Ich konnte nun nicht mehr leugnen, dass bereits Teile von mir fehlten. Nachdem die Zugehörigkeit zu der Stadt verloren ging, verlor ich an Halt und ein stetig wiederkehrendes Fieber suchte mich heim. Viele meiner Freunde hörten auf, sich an mich zu erinnern. Sie heirateten und besannen sich auf ihre Familien. Ich hingegen streckte die Hand nach dir aus, aber deine Auflösung war bereits zu weit fortgeschritten, du warst nicht mehr genügend vorhanden, um meine Hand zu nehmen.

Jetzt liege ich da und mit dem abtretenden Sommer verliert nicht nur das Licht seine Konsistenz. Ich tippe mal, ich habe noch bis Dezember, bevor ich weg sein werde. Es ist in diesem Stadium kein unangenehmes Gefühl, weil man bereits zuviele Ideen eingebüßt hat, so dass man sich nicht aufbäumt. Süßlich und anziehend erscheint es mittlerweile, das Verschwinden. Deine Auflösung ist zu meiner geworden. Und vielleicht ist das besser, als einfach so Lebewohl zu sagen. An der Krankheit des anderen zu Grunde zu gehen, ist die letzte große Romanze dieses sterbenden Sommers.

aufloesung.jpg

Veröffentlicht am
Kategorisiert in Texte

Stilles Licht

Der Schlaf umhüllte dich, wie ein Baum, mit grünem Laub
du atmetest, wie ein Baum, im stillen Licht
in der klaren Quelle betrachtete ich dein Anlitz:
die Lider geschlossen und die Wimpern streiften das Wasser.
Meine Finger fanden im weichen Gras zu den deinen
ich hielt einen Augenblick lang deinen Puls
und spürte von fern das Weh deines Herzens

(Giorgos Seferis)

Es ist windig, als ich in die mir noch unbekannte Straße einbiege. Ich bin einfach losgelaufen, nach Wochen der Krankheit und des Fiebers. An meinem ersten Tag nach der Krankheit, als ich gerade wieder stehen konnte, bin ich losgelaufen. Ich bin losgelaufen, hinein in die Straßen meiner Stadt. Ich habe die bekannten Straßen benutzt, damit sie mich zu den unbekannten führen.

Und jetzt biege ich in diese Straße ein und es ist windig, als sie mich diesem über allem thronenden Hochhaus entgegen führt. Die Fassade ist grau und abgenutzt, das Dach ist flach und unerreichbar und es ist ein Turm, mehr als ein Haus. Als ich auf der schmalen Terasse vor dem Turm stehe, sehe ich Menschen mit Verbänden und Bademänteln. Sie rauchen. Sie stehen. Sie sitzen. Sie bewegen sich, aber niemand lebt. Der Wind weht ihnen durchs Haar. Es ist ein kühler Wind. Ich gehe an ihnen vorbei und versuche, sie nicht zu beachten. Ich bin etwas erschöpft von dem langen Spaziergang, ich bin etwas erschöpft von meiner langen Krankheit. Die Empfangshalle ist voller Hinweisschilder und Warnungen. Es gibt einen kleinen Zeitschriftenladen. Ich gehe über die Treppe in den dritten Stock. Enge weiße Gänge treiben mich vorwärts, nur selten kreuzt ein Pfleger meinen Weg. Es ist still, aber es ist hell. Die weißen Wände führen mich im Kreis herum. Nach einer Weile verliere ich das Gefühl für die Weile und bekomme das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Ich suche die Treppe zur Empfangshalle. Im Treppenhaus ist es etwas dunkler. Ich sehne mich nach etwas Dunkelheit.

Auf meinem Weg nach Hause, sehe ich ein Mädchen, das mich an dich erinnert. Ich wechsle die Straßenseite und stehe neben ihr an der Ampel. Wir könnten jetzt sprechen, aber das Licht wechselt und wir gehen, bevor sich unsere Richtungen verlieren. Ich bin noch nicht gesund genug, ich muss noch einmal zurück in die Matratzengruft. Nur ein paar Tage noch schlafen. Es ist immer noch hell draußen, als ich meinen Blick auf die weiße Decke richte und die Augen schließe.

londonsempty.jpg

Veröffentlicht am
Kategorisiert in Texte

Don’t Fear The Reaper

Fürchtest du den Wechsel der Jahreszeiten, dann fürchtest du den Wechsel im Allgemeinen. Dann fürchtest du den Tod, dann fürchtest du dich selbst. Das denke ich, als ich mit dem Fahrrad durch das Dunkle rase, ohne darauf zu achten, wohin es geht. Ohne darauf zu achten, worum es geht, wenn ich blind in die Dunkelheit schieße.

Ich denke an den einen, den tödlichen Sommer, den wir nur überlebten, weil wir die Stadt verließen. Ich denke an den Geruch von Tod, der den ganzen Sommer lang in der Luft hing. Dieser süßliche Verwesungsgeruch, an den wir uns fast gewöhnt hätten. Ich denke daran, wie sehr wir zusammenhielten und uns um den anderen sorgten. Wir zogen uns an den Haaren durch die glitzernden Wochen an den gefährlichen Ufern der Isar. Und als es kalt wurde, aber die Hitze nicht mehr aus den Steinen der alten Stadt wich, gingen wir weg, so heimlich wie wir gekommen waren.

An deinem letzten Abend warst du ganz ruhig. Ungewöhnlich besonnen. Man konnte sehen, dass dich deine Furcht verlassen hatte. Ich war krank am morgen meiner Abreise. Wir trafen uns wieder in diesem Koloss aus Staub und Stein und gingen gemeinsam getrennte Wege. Immerhin hatten wir uns das Leben gerettet, das reichte für einen Sommer. Diesen einen tödlichen Sommer, der sich in einen tödlichen Herbst verwandelte, in einer anderen, noch viel gefährlicheren Stadt. Und doch fürchte ich nicht den Wechsel der Jahreszeiten. Ich sehne ihn herbei. Ich fürchte weder Tod noch Teufel, wie man so schön sagt. Ich fürchte nur den Stillstand, er ist es, der mich wie ein Besessener durch die blinde Nacht rasen lässt, in der Hoffnung, endlich meiner Angst zu begegnen.

matala.jpg

Veröffentlicht am
Kategorisiert in Texte

Jürgen

Es macht Spaß, die kurvenreichen Straßen des Berglands an der östlicheren Südküste Kretas zu befahren. Links neben uns liegt ein ausladendes und für Kreta ungewöhnlich grünes Tal und rechts türmen sich die Berge des Umlands von Pirgos, schroff, aber hochsommerlich gelassen. Ich singe Del Amitris „Always The Last To Know“ vor mich hin, einen belanglosen Poprocksong aus den Neunzigern. Entschlackt man die Musik von Produktion und Pathos und lässt nur Text und Melodie über, erhält man ein trauriges kleines Lied über eine entwischte Liebe und eine schwindende Informationspolitik.

We spent summers up beyond the bay
And you said these are such perfect days
That if the bomb drops baby, I want to be the last to know
But now youre living up behind the hill
And though we share the same city and feel the same sun
When your winter comes
Ill be the last to know

An dieser Textstelle bin ich angelangt, als ich aus dem Augenwinkel zu meiner Linken am Rande dieses grünen Tals ein Schild mit der Aufschrift „Safari Park“ wahrnehme. Ich fahre daran vorbei, aber im Rückspiegel sehe oder besser erahne ich einen verfallenen Vergnügungspark und einen hochragenden, ausgetrocknetem Springbrunnen, der selbst aus der Entfernung morbide in seinem Abglanz florierenderer Zeiten wirkt. Ich sage zu Tim: „Achtung, ich wende.“ und er fragt mich wieso und ich sage: „Du wirst Augen machen.“ Und ich spreche es eher als Floskel, denn als ernst gemeinten Appetitmacher auf den Safari Park aus, weil ich glaube nicht, dass der sanfte Tim meine Vorliebe für Verfall und das Leben danach uneingeschränkt teilen wird.

Die Gewalt und das Verlangen

nb_lightning.jpg

Ich bin ein giftiges Gemisch aus Gewalt und Verlangen an diesen Tagen. Ein Brodeln. Die Hitze treibt die Wut und das Wollen aus den Poren. Die Haut tropft und ist zum Zerreissen gespannt. Die Gewalt und das Verlangen, die Hitze und die Wut, es zerreisst den Tag, es zerreisst die Nächte. Es kühlt nicht ab. Und es soll nicht mehr.

Es droht Gefahr an jeder Ecke, ich hab ein Gespür, eine Nase für Gefahr. Nur das Gespür nicht verlieren. Du gehst auf Zehenspitzen durch Straßenschlachten, du trinkst einen Kaffee auf den Schauplätzen der Brutalität, du zettelst sie an und mogelst dich an ihren Auswüchsen vorbei, während ich inmitten der Tumulte stehe. Ich will etwas wollen, was andere geben, ich will nichts spendieren, ich will nur noch einholen. Das Arschloch, das die Faust in die verregnete Dämmerung schlägt, damit ihr euch wundern könnt, euch abwenden, weil ich inmitten des Gewitters, statt mitten unter den Unterstand suchenden stehe.

Ich bin ein giftiges Gemisch aus Gewalt und Verlangen an diesen Tagen. Ein Brodeln. Die Hitze treibt mich an wie einen Motor und sie treibt mich zum Wahnsinn. Niemand beruhigt mich, nicht einmal Sufjan Stevens. Nicht einmal ich beruhige mich. Ich zerreisse den Tag, ich zerreisse die Nächte und der Regen kommt zu spät, es kühlt nicht ab. Und es soll nicht mehr.

Veröffentlicht am
Kategorisiert in Texte

Da draußen

Schüler: Lehr mich den Weg der Befreiung.
Meister: Wer bindet dich?
Schüler: Niemand.
Meister: Warum dann Befreiung suchen?

(Buddhistische Weisheit)

Es gibt ein Leben da draußen. Manchmal nehme ich daran teil und manchmal nicht. Manchmal, wenn ich daran teilnehme, habe ich immer noch das Gefühl, dass ich kein Teil davon bin. Dann trinke ich, arbeite ich und ficke ich wie alle Anderen und habe immer noch das Gefühl, kein Teil der Menge zu sein. Wenn ich dann kein Teil der Menge bin und weder ficke, arbeite noch feiere, dann fühle ich mich wie ein Tourist in einem Land, dessen Gepflogenheiten ich kaum kenne und keineswegs beherrsche.

Es ist wie Urlaub in Lorette De Mar mit zwanzig. Man sagt mir, hier blüht der Exzess, hier kannst du Sex finden, hier regiert der Spaß. Und es ist wie verhext, aber ich kann nicht dabei sein. Es geht einfach nicht. Obwohl ich zuhause in Regensburg trinke wie ein Vieh und den Röcken erfolgreich hinterher jage, ich kann nicht einsteigen ins Lorette De Mar Gefühl. Ich stehe da und blicke aufs Meer und die Lautstärke der Anderen bedrängt mich nur.

Ich frage mich, ob ich jemals aufhören werde, mich fremd zu fühlen. Ob ich jemals Herr der Gesamtlage sein werde. Ob ich jemals nicht das Gefühl haben werde, dass etwas ganz Großes an mir vorbei zieht. Ob ich jemals sagen kann: Das bin ich und ihr seid kein Teil davon, ohne das geringste Verlangen, ein Teil von euch zu sein.

Es gibt ein Leben da draußen. Komm und hol es dir, sagt man mir. Sei ein Teil davon. Und während so viele denken, ich sei das Leben da draußen, so bleibe ich doch hier drinnen und denke, sie sind es und ich werde es nie sein. Nichts davon ist wahr, nichts davon ist falsch. Alles was passiert, passiert einfach und wir alle sind ein Teil davon.

wedd.jpg

Veröffentlicht am
Kategorisiert in Texte

Schwabing ist tot

schwabing.jpg

Außen. Vor der Haustür eines Altbau Mietshauses. Der Stadtteil Schwabing in München.

MAX holt Umzugskisten aus seinem Auto und schleppt sie mühsam zu Hauseingang. Sein Freund PHIL hilft ihm schweigend. Die HAUSMEISTERIN kommt hinzu.

HAUSMEISTERIN
Sie, Herr Sommer. Passen’s fei auf, dass Sie nichts heraussen stehen lassen, wenn Sie die Wohnung einräumen. Nichts unbeaufsichtigt lassen. Da treibn sich ganz finstere Gestalten rum mittlerweile in Schwabing.

MAX (mit Umzugskiste auf dem Arm)
Aha.

HAUSMEISTERIN
Ja, ja. Weil Sie müssen wissen, dass des alles nimmer so ist wie früher. Seit diese ganzen Ausländer sich’s an der Münchner Freiheit bequem gmacht haben, ist Schwabing fürchterlich runtergekommen.

MAX
Soso.

HAUSMEISTERIN
Ja, ja. Ich würd ja an Ihrer Stelle sofort des Schloss auswechseln. Wer weiß ob Ihr Vormieter ned noch an Schlüssel hat.

MAX (stellt die Umzugskiste ab)
Wer war denn mein Vormieter?

HAUSMEISTERIN
Der Herr Al Sahif. Ein ganz Gschlamperter. Der hod seine Pflanzen imma in der Badwann zücht. Wahrscheinlich war’s a Haschisch. Nehmen Sie Haschisch, Herr Sommer?

MAX
Iwo, Frau Bäumel.

HAUSMEISTERIN
Mei, in den Siebzigern, da hat man des alles halt mit so einer Leichtigkeit genossen, aber jetzt mit den ganzen ausländischen Drogendealern… des is alles ganz kriminell jetzt. (brüllt) Lanka, gehst jetzt endlich her du Miststück!

(Ein großer Mischlingshund kommt um die Ecke)

MAX (zu Phil)
Jetzt hau ma noch den Fernseher naus und dann sperr ma den Wagn erstmal zu.

PHIL
Jawohl, Chef.

HAUSMEISTERIN
Wissen’s, die Lanka hob ich in Sri Lanka kennengelernt. Eine ganz junge Hundedame war sie… und heimatlos. Ich habs damals net mit nach Deutschland nehmen können, weil’s der Hubert verboten hat. Aber dann hab ich die Frau Schlüter, Ihre Nachbarin, hingeschickt mit Geld für den Zoll. Und die hat die Lanka dann hergeholt. (brüllend zum Hund) Gehst jetzt her, du blede Kuh.

MAX
Sie, Frau Bäumel, ich muss jetzt wirklich wieder a bisserl was arbeiten. Verstehen’s schon, gell?

HAUSMEISTERIN
Ja, aber eines sag ich Ihnen. Wenn Sie recht laut sind, dann muss ich bei Ihnen klingeln. Des Haus ist sehr hellhörig und mein Balkon liegt genau gegenüber von Ihrer Wohnung. Ich hab mei Balkontür immer offen. Sie sind ja hoffentlich kein Musiker.
(geht zum Umzugsauto und guckt hinein. Sieht Gitarrenkoffer)
Spielen Sie ihre Gitarre lieber im Englischen Garten bei den anderen Studenten.

MAX
Freilich.

HAUSMEISTERIN
Also, dann viel Glück in Schwabing. Es is ja nimmer des was einmal war, brauchen’s nur die Clemens Strasse da nunter gehen, da werdn Sie sich wundern, was sich da für Leut rumtreiben. Des ist nicht mehr die Boheme, die ich kenne. Schwabing ist tot, Herr Sommer. Schwabing ist tot.

MAX
Aha.

Veröffentlicht am
Kategorisiert in Texte

She’s Got The Whole World..

Dein Blut gefror manchmal wie der Mond
in der unausschöpflichen Nacht breitete dein Blut
seine weißen Flügel aus über
die schwarzen Felsen, die Schatten von Bäumen und Häusern
mit einem schwachen Schein aus unserer Kinderzeit

(Giorgos Seferis)

Als du da warst, ging es mit dem Land bergab. Kein Mensch vertraute mehr auf die Regierung. Niemand baute mehr auf die einstige Stabilität unseres Systems. Unsere Leute wurden arbeitslos und eine große Depression machte sich breit. Das Ausland wunderte sich, warum wir als ehemaliger Motor plötzlich all unseren Antrieb einbüßten. Wir ermüdeten und erlahmten schließlich ganz. Matt und ausgebrannt, voller Mißtrauern und mit leeren Mägen lagen wir am Boden der neuen, schrecklichen Tatsachen und konnten keinen Schritt mehr gehen. Uns kamen die Ideen abhanden und gingen die Visionen verloren. Es waren Jahre, in denen Altbauten verfielen und Neubauten nicht mehr zuende geführt wurden. Die große Sicherheit, die wir kannten, war von uns gewichen. Niemand wusste warum und wie schnell das geschehen konnte. Ich habe es erst erkannt, als es zu spät war. Wir beide hatten die Geschicke dieses Landes in unserer Hand und die Geschichte nahm ihren Lauf, der uns alle in eine tiefe Rezession stürzte.

Jetzt wo du weg bist, erblühen langsam ein paar neue Gedanken. Wir haben wieder angefangen zu bauen, wir sprechen wieder von der Zukunft, ohne dabei in den Boden zu starren, wir gehen wieder aus dem Haus, ohne Angst zu haben. Das Land liegt noch darnieder, aber es ist gerade dabei sich zu erholen. Wir haben Federn gelassen und doch bildet sich im Lauf der kommenden Jahre wieder ein Paar Flügel. Jetzt wo du weg bist, spielen wir sogar wieder ordentlichen Fußball.

engel.jpg

Veröffentlicht am
Kategorisiert in Texte