Kritik zu Little Miss Sunshine

Ein Schlag in die Fresse des American Way Of Life. Keine „Winner takes it all“-Ideologie, stattdessen gilt: „Losers fuck it all up and end up winning; well, in a way.“ Das ist jetzt beileibe keine komplexe Lebensweisheit und ein Marcel Proust wäre höchst unzufrieden mit soviel simplifizierter lebensbejahender Lebensmüdigkeit – wie Onkel Frank bestätigen würde -, aber es ist ein unerlässlicher Bestandteil der empathischen Moral dieses Film, der einer der besten des Jahres ist.

„Little Miss Sunshine“ wartet mit einem entfesselten Alan Arkin als hedonistischer Opa, einem Steve Carrell (aus der amerikanischen The Office-Variante) auf der Höhe seines komödiantischen Darbens als sarkastischer Suizidkandidat, einem vor allem mimisch brillanten Greg Kinnear als Opfer seines eigenen Tschaka-Schakras, einer gewohnt souveränen Toni Colette, dem mir bisher unbekannten und besorgniserregend talentierten Paul Dano als Teen Angstler mit Schweigegelübde, der herzzereissenden Abigail Breslin als Pussycatdoll in spe und bis ins kleinste Blutkörperchen dieser herzblutigen Melokömodie besetzen Nebendarstellern auf. Eine emotional verlotterte, aber im Kern intakte Familie von Selbstbetrügern gerät unter die Hufe einer Katastrophenherde und in einen Desillusionierungstornado auf dem Weg und „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (Proust) durch ein paar vereinigte Staaten zum widerwärtigsten Schönheitswettbewerb der Filmgeschichte.

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Dass am Ende ein Nichts und mit dem Nichts erst das eigentliche Sein herausspringt, ist eigentlich eine zutiefst buddhistische Weisheit. Dass am Ende des Films dann mit „No Man’s Land“ auch noch derjenige Sufjan Stevens Songs läuft, der mich diesen Spätsommer in die Arme von Selbstbestimmung und wohlmeinenden Hirngespinsten getrieben hat, ist keine Ironie des Schicksals. Denn das Schicksal ist nicht ironisch. Das ist nur eine menschliche Eigenschaft, die wir einem spirituellen Gegenstand zuschreiben, den es nicht gibt und nie gab. Gott sei Dank. Und jetzt weiter auf die Fresse fallen, damit man merkt, dass das Gras nirgendwo grüner, aber dafür im Schatten der Familie weicher ist.

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Die Knochen (Los Huesos)

Als ich an dem halbdunklen Bahngleis stehe und aus dem Schatten des Berges die Scheinwerfer des Zugs nach Barcelona Innenstadt hervorbrechen, überkommt mich die Erinnerung an die ersten kalten Nächte in meinem alten Zuhause. Der Sand des Sommers klebte noch in unseren Kleidern, rieb sich an unseren Händen und bedeckte das Bettlaken wie brauner Zucker. Wir sahen, dass es gut war und ließen es gut sein.

Als du mir deinen Hüftknochen gegen mein Kinn schlägst, wird mir bewusst, dass ich wieder unter den Lebenden weile. Als ich deinen Knöchel wie mit Klauen umschließe bis deine Haut schwarz wird, weißt du, dass ich wieder da bin. Und selbst du schaust kurz bei den Lebenden vorbei, als ich mit Fäusten gegen dein Steißbein hämmere und du dir die meisten Zähne an meinen Ellenbogen ausbeisst und mir mit den verbliebenen die Fingernägel abziehst. Wir spießen uns mit unseren Knochen auf und lassen die Bänder schnalzen, so dass es die Nachbarn aus den Betten wirft. Die Kreuzbänder reißen und die Dämme brechen und als endlich Blut fließt, ist die Nacht um und die Keilerei vorbei, aber dich holt kein Krankenwagen und mich wenigstens der Teufel früher oder später.

Daran muss ich denken, als die grellen Lichter des Zugs mich blenden. An die ersten kalten Nächte im alten Zuhause. Als der Sand an unseren Wangen klebte und sich mit unserem Blut vermischte.

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Die Lichter

Du hast es aufgebracht. Und dabei schwöre ich dir, dass ich mich nicht verändert habe. Ich stehe immer noch hier und warte auf dich. Wie all die Jahre zuvor. Das Gewicht, unsere Eingeweide und die Spannung. All das ist doch noch da. Du gehst noch einmal auf die Bühne und weißt selbst nicht warum. Aber dir ist klar, dass du gerade Geschichte schreibst. Wir brennen beide und ausglühen können wir auch später noch auf dem Teufelsberg, hoch über den Häusern.

Und du erhellst diese Stadt. Du bist das Benzin für all ihre Maschinen. Und die Lichter der Straßen brennen für dich. Bleib heute nacht noch hier.

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Du hast es dir selbst und niemand anderem versprochen. Dass du in meiner Nähe bleibst, aber nie bei mir. Es gibt nur eine schemenhafte Vorstellung von heute nacht. Aber das reicht dir. Im schlimmsten Fall brechen die Kanäle und unsere Wasservorräte stürzen ins Meer, aber deine Augen sind bereit, alles zu vernichten, was dir in die Quere kommt. Die Stille in uns hat sich schick gemacht, um endlich auszugehen. Bleib genau da stehen. Ich will ein Foto in meinem Kopf machen. Ich brauche eins zum Weinen, wenn du mal berühmt bist. Und die Anzeige dieser Maschine hier flackert und erlöscht. Es ist das neue Jahr, die Lichter machen dem Morgen Platz.

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Die Dunkelheit

Der Tag, an dem die Dunkelheit übers Land zog, schien ein Herbsttag wie jeder andere zu sein. Niemand wunderte sich, schliesslich wurde es ja ohnehin früh dunkel im November. Niemand ahnte, dass sich diese Dunkelheit vier Jahre lang nicht mehr von der Stadt erheben sollte. Tagsüber wurde es zwar heller als nachts, aber ein Schatten klebte auf den Dächern und Häuserwänden und verschleierte den Blick auf den Himmel. Die Sonne drang nicht durch die Dunkelheit und bei Nacht konnte sich kein Mond auf den nassen Strassen spiegeln. Da sich die Temperaturen nicht änderten, bemerkte nahezu niemand den gravierenden Einschnitt in seinen Tagesablauf. Nur einige wenige beobachteten und forschten, doch konnten keine Lösung für die Dunkelheit über der Stadt finden. Sie konnten weder die Quelle noch das Phänomen genau benennen, denn die Dunkelheit war unsichtbar.

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Maria war schuld an der Dunkelheit, aber das wusste sie nicht. Sie hatte den Lichtgeber ermordet, ohne es zu ahnen. Monatelang war sie nicht von seiner Seite gewichen, hatte ihm die Stadt gezeigt und ihn in ihre Welt gelassen. Anfangs zögerte er, doch dann willigte er in diese merkwürdige Liaison ein. Der Lichtgeber und das schüchterne Mädchen. Irgendwann bemerkte Maria, dass der Lichtgeber nicht auf Dauer bleiben würde. Das wusste sie, bevor er es wusste. Und so verliess sie ihn, um sich in Sicherheit zu bringen. Sie traf einen unscheinbaren und ebenso schüchternen jungen Mann und heiratete ihn, aber schrieb weiter Briefe an den Lichtgeber und bedauerte in ihnen ihren Weggang. Der Lichtgeber antwortete nicht. Innerhalb weniger Tage setzten die Entzugserscheinungen ein. Sein Stoffwechsel hatte sich auf Marias Gegenwart so unerwartet schnell eingestellt, dass die bald die Farbe aus seiner Haut wich und seine Knochen begannen, sich aufzulösen. Er beantwortete die ersten Briefe von Maria schon nicht mehr, weil er zu schwach war. Irgendwann, als sie aufhörte zu schreiben, war der Lichtgeber längst verstorben. Er zerfiel in seiner kleinen Wohnung über der Stadt und mit ihm wich das Licht von der Stadt.

Vier Jahre später sitze ich an meinem Fenster und betrachte die aufziehende Dunkelheit der Nacht. Es ist eine angenehme Dunkelheit. Der klebrige Schleier der vierjährigen Finsternis hat sich gelichtet. Diese Nacht wird die erste sein, die wieder hell ist. Das Gerücht verbreitet sich, dass ein neuer Lichtgeber in die Stadt gezogen ist.

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Wer Sturm sät

Es ging ihr nicht gut und es ging ihr um Kontrolle. Es war nicht nur einmal vorgekommen, dass jemand gegangen war. Nicht nur einmal, was schlimm genug gewesen wäre. Es war mehrmals vorgekommen. Und dem Vorgekommenen musste man in Zukunft einfach nur zuvorkommen, damit es nicht mehr vorkommen konnte, dass man der Letzte war. Dass man der war, der dablieb. Ab jetzt würde eine neue Zeitrechnung beginnen, in der mit dem Schlimmsten gerechnet wurde und die Reissleine vor dem Ausreissen des Anderen gezogen wurde. Nicht mit ihr. Nicht mehr.

Es ging ihm ganz gut und er war auf dem Weg nach Hause. Eigentlich wollte er sich dabei nicht mehr von Fremden ansprechen lassen. Es war schon öfter vorgekommen, dass ihn jemand vom Weg abgebracht hatte. Mit klerikaler Sorgfalt nahm man ihn manches Mal ins Gebet und kniete vor ihm nieder, bis er wieder in einem Anflug von aufflammendem Glauben und kurz stehenblieb. Das würde nicht wieder vorkommen. Er würde den Weg zuende gehen und er würde heute nacht damit anfangen. Die Leuchtfeuer unterwegs lenkten ihn nicht mehr von der Dunkelheit der Straße ab, an deren Ende ein Morgen in einem Haus und einer großen Tasse Kaffee stehen würde.

Die gesamte Vorderfront des Hauses war mit einer Plane verkleidet und der Wind fuhr beleidigt darunter und wühlte sie auf. Den ganzen Nachmittag bis weit hinein in die Nacht schlug die Plane gegen das Gerüst und die Fenster hinter ihr. Der Wind ließ nicht ab und erst spät, in einer viel zu warmen Oktobernacht, gab er Ruhe. Die Plane hing matt und zur Hälfte abgelöst an der Fassade. Jemand würde sie an den entsprechenden Stellen wieder befestigen müssen.

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(Foto von Lisa Rank)

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Requiem: Die Radieschen von unten

Ich kann kaum glauben, dass heute ein neuer Tag anbrechen konnte, an dem die Sonne scheint und es Kaffee und Brötchen zum Frühstück gibt. Dass es überhaupt noch so etwas wie Alltag und Normalität geben kann nach der gestrigen Nacht. Was hat er gestern nur wieder angestellt, der Depp, fragt ihr euch vielleicht. Hat er endlich mit Heike Makatsch geknutscht? Hat er das Bode-Museum angezündet oder haben ihn Außerirdische entführt um herauszufinden, wie ein einziger Mensch nur soviel hochprozentigen Alkohol in sich speichern kann? Nein, nichts dergleichen. Also zumindest nichts, was euch was angeht.

Es war viel schrecklicher. Ich habe einen Teil meiner Famile verloren. Bevor ihr jetzt aber vor Schreck Blut hustet, kläre ich auf: Ich habe mir gestern die letzte Folge der fünften Staffel von Six Feet Under angesehen und damit auch die Familiensaga beendet. Dass die meschuggen Fishers jetzt nicht mehr Teil meines Alltags sind, ist ja schlimm genug. Wie dann aber der Zuseher in der extralangen Episode unter der Regie von SFU-Schöpfer Alan Ball dramaturgisch und dialogisch gequält wird, gleicht meiner Vorstellung eines emotionalen Guantanamo Bay. Jemand den Abschied einfach machen, geht ganz anders. Aber nach den verlust- und tränenreichen vorhergehenden 62 Episoden, in dem einem wirklich gar nichts an menschlichem Abgrund erspart geblieben ist, hatte ich eigentlich sowieso kein Kinder-Pingui-Ende erwartet. Keine Sorge, ich verrate nicht wie es ausgeht, falls es jemand noch nicht gesehen haben sollte. Nur soviel: Selbst hier am Nordstrand wurden ein paar Tränen vergossen.

Und jetzt sitze ich hier und kann es kaum fassen, dass das meine letzte Zusammenkunft mit den Fishers gewesen sein soll. Denn nochmal tue ich mir den ganzen Wahnsinn nicht an. Meine DVD-Boxen wandern direkt an einen guten Freund, der noch an die Strahlkraft des Lebens glaubt und den Tod tapfer verneint. Aber wer weiß, vielleicht gibt es ja einen Kinofilm. Bis dahin gilt „Everyone’s Waiting“ und Rest In Peace, my bittersweet Lindenstraße Of Death.

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The South Will Rise Again

Ein Sonnenstrahl markiert heute überdeutlich die Grenze zwischen den alten und den neuen Bundesländern. Wir finden es kitschig, aber es kommt uns zu Gute, als wir die Brücke der Deutschen Einheit passieren. Denn schnell bauen sich die Landschaften auf, wie sie sollen. Grün und hügelig, satt und herbstlich, bewaldet und gut bestückt. Die relativ bergige Oberpfalz ebnet uns den Weg ins niederbayerische Flachland, hinein ins Land der Kreisverkehre und Umgehungsstraßen, der Neubaugebiete und Agrarflächen. Und überall baumeln die Seelen. Manche hat man aufgehängt, manche schaukeln sich in den Schlaf der Selbstgerechten. Hier ist nichts wie es nicht sein soll und seit Jahrzehnten dasselbe. Der Wildwuchs auf eigenem Grund und Bodens versöhnt mit der Armada von Kleingiebelhäusern der ewigen Dableiber und die Kunst zu beherbergen hat sich über Generationen in meiner Familie fortgepflanzt und wird auch durch Unkraut wie mich nicht entwurzelt. Die Sonne geht unter und ich könnte immer noch wie früher auf dem Spitzdach neben dem Kamin sitzen und rauchen, während sich die Straße weiter ins flache und vorhersehbare Land windet. An guten Tagen kann man den bayerischen Wald in der Ferne sehen, denke ich. Aber das ist nur ein Mythos meiner Kindheit. Ich bin gerne zuhause, aber ich war hier nie daheim.

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Regensburg saniert uns am nächsten Morgen mit Sonnenschein und Straßencafés im Schatten der Domtürme, doch die Assimilierung der Altstadt mit dem rücksichtslosen und subkulturfeindlichen Wirtschaftswachstum bereitet mir Magenschmerzen, anders als damals, als ich mit meinen Jungs die Kellerkneipen der Stadt leergetrunken habe und die Magenschmerzen vom Alkohol kamen. An dieser Stadt habe ich mich sattgelebt und mich letztlich an ihr vergangen. Und meine eigene Freundin hat im Haus gegenüber gewohnt und ich habe mich davor gefürchtet, ich Versager. Doch mein guter Freund sagt „Du warst noch ein Kind.“ und das beruhigt mich. Mein guter Freund bekommte es ein wenig mit der Angst zu tun bei soviel kontrollierter Idylle. Gut, dass ich keine Zeit habe, ihn auf die Winzerer Höhen zu führen. Hoch über der Stadt, wo ich einst im Sommer hinunter schaute und dachte: „Da unten ist sie jetzt. Dort küsst sie andere Jungs, während ich hier oben sitze und auf die Stadt starre.“

Einen Regionalexpress später sind wir in München. Englischer Garten, Biergarten, Hofgarten und doch entarten wir die romantische Erwartungshaltung unseres Gastes, als wir an die Schädelhöhe – die Theatinerkirche – kommen und bei erstem Nachtfrost kurz nach Sonnenuntergang den Königsplatz überqueren. Hier ist nicht alles in Ordnung und deshalb macht es mir keine Angst. Die Stadt hat Löcher, man sieht sie nicht, aber man fühlt sie. Ich erschrecke noch bei gewissen Staturen und gewissen Frisuren. Mich ängstigt die Kälte und die Dunkelheit weil uns der drohende November bereits kühl den Nacken hinunter bläst. Ich erinnere mich an finstere Winter in München. Enger, kälter und unberechenbarer als im weiten, grau ruhenden Winter Berlins. Erst eine Woche später, als es längst keinen Besuch mehr gibt, dem ich etwas beweisen könnte, wie schön es hier ist, erst dann erwache ich unter dem Himmel über dem Stiglmeier Platz mit fürchterlichen Kopfschmerzen aber dem Gefühl, mich wieder ein wenig mit der Heimat angefreundet zu haben. Jetzt kann ich ihr endlich wieder beruhigt fernbleiben.

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Cut & Go

Ich bin in einer anderen Stadt, in einem neuen Hotelzimmer. Ich bin entstellt und nicht abgeholt. Ich bin aufgeschnitten und verflixt, aber nicht zugenäht worden. Jemand hat mir die Heimat entwendet. Es war wohl nur ein Versehen, aber jetzt sitze ich fern von den Meinigen und starre auf diesen Bildschirm und sein blaues Licht entfacht sich in dem dunklen Hotelzimmer. Früher sah ich nur fern, jetzt bin ich es. Und ich muss ihr „Auf Wiedersehen“ sagen, weil man nirgendwo lange bleiben kann, wenn einem die Heimat entwendet wurde. Niemand kann sich auf ewig ein Hotelzimmer leisten. Sie kann mich vermutlich schon nicht mehr richtig sehen, ich verschwimme schon auf ihrem Gegenbildschirm. Sie dagegen ist noch dran, sie ist noch da und niemand kann mich davon überzeugen, dass ich alles richtig gemacht habe, als ich den Hörer auflege und den Kontakt unterbreche. Ich bin jetzt in einer schönen, scheuen Welt, die sich erst von mir überzeugen muss. Ich bin in einem anderen Leben, ich bin in einer neuen Verfassung. Ich bin zugeknöpft, geflickt und einsatzbereit.

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Bummer

Ihr werdet nie erraten, was mir mal passiert ist.

Meine Band Tri-Anger war fast drei Jahre lang tonangebend in meinem Studentenleben. Technisches Hardcore Gebolze mit der ein oder anderen melancholischen Note, das die Kleinstadt in Atem hielt. Zumindest dachten wir uns das so. In einem höchst komfortablen Zustand von totaler Selbstüberschätzung und mit dem Habitus von Rockstars ließen wir uns durch die Kulturkeller und Kneipen der Provinz treiben, mit der vollständigen Gewissheit, dass jeder unserer Auftritte ein Segen fürs Publikum war. Dabei verstanden wir uns noch nicht einmal so gut untereinander. Ole war ein Grobian, Toni ein Exzentriker und ich eine Diva. Da waren wir uns hinter dem Rücken des jeweils Anderen vollkommen einig. Doch wenn wir zusammen stockvoll eine Bühne betraten und die Maschine einschalteten, ereignete sich eine Dreiviertelstunde lang ein Gewitter, das wenigstens unsere ewige Perspektivenlosigkeit in punkto Weiber, Geld und Karriere über den Haufen brüllte. Selbstverständlich war euer guter, alter St. Burnster ganz die souveräne Bühnenpersönlichkeit. Bis auf das eine Mal.

Es stand mal wieder ein Auftritt im Keller der alten Mälzerei auf der Tagesordnung und wir saßen noch zusammen in der zugehörigen Kneipe und tranken uns bühnenreif mit hellem Bier und Ramazotti sauer. Nun muss man wissen, dass mein Magen zur damaligen Zeit dermaßen ramponiert war, dass ich sogar romantische VHS-Abende mit Mädchen auf der Couch unterbrechen musste, um mich in kasualen Magenkrämpfen auf dem Boden zu winden. Dagegen half meist nur der 45% Obstler von meinem Mitbewohner. Dementspechend hing natürlich auch mein Stoffwechsel durch und so verbrachte ich mehr Zeit auf dem Topf als andere in der Mensa. Kurz vor dem Auftritt war es folglich auch noch einmal Zeit für einen kleinen Sicherheitsschiss und so ging ich aufs Herrenklo und tat was ein Mann tun muss, wenn er mal muss. Achtung, jetzt wird’s semi-eklig. Aber nicht wie ihr denkt.

Weil nichts kam, obwohl ich das Gefühl hatte, das eigentlich was kommen sollte, stemmte ich meinen Hintern mal kurz nach oben und ließ ihn wieder auf die Klobrille klatschen. Das hatte ich hundertmal geübt, das war ein narrensicheres Unterfangen. Bisher zumindest. Denn was jetzt passierte, sprengte im wahrsten Sinne des Wortes meine Vorstellungskraft. Denn mit Eintreffen meines Hinterns auf der Klobrille, gab die gesamte Kloschüssel unter mir nach und zersprang in tausend Teile. Das Scheißding war nämlich nicht am Boden, sondern an der Wand angebracht und offensichtlich mit meinen leicht beschleunigten 70 Kilo überfordert. Jetzt saß ich zwar nicht, wie man befürchten könnte, in der Scheiße, dafür aber in einem Keramikscherbenhaufen, einer Lache Wasser und einer fast ebenso großen Lache Blut. Die stammte aus meiner linken Arschbacke, in die sich eine Scherbe von der Größe eines Kapodasters gebohrt hatte und mir übrigens eine denkwürdige Narbe hinterließ.

Guter Rat war jetzt teuer. Ich wischte das Blut auf so gut ich konnte, stopfte mir 5 Quadratmeter Kloppapier in die eh schon zu enge Hose und ging zurück in die Kneipe. Nachdem ich meinen Bandkollegen das Malheur gebeichtet hatte, schritt ich zum Wirt der Kneipe, während sich hinter mir schon die Ersten mit brüllendem Gelächter unterm Tisch ablegten.
„Äh, Alex, mir ist da was Saublödes passiert.“ stammelte ich bar jeglicher Coolness gen Wirt.
„Was denn? Hast ein Glas z’sam g’haut?“
„Nein, was Anderes. Also es klingt jetzt echt saublöd, aber das Klo ist unter mir zusammengebrochen.“
„Jetzt verarscht du mich aber.“
„Leider nicht, ich kanns dir gerne mal zeigen.“

Und so folgte mir ein ohnehin schon perplexer Wirt zum Tatort, nur um sich da mit ungläubigen Kopschütteln den wohl kuriosesten Betriebsunfall seiner Gastrokarriere anzuschauen.

„Ja, was hast denn g’macht? Hast dich draufgstellt?“
„Nein, die ist einfach so weggebrochen.“ verschwieg ich meinen rückwärtigen Swing-Out von eben.
„Des gibt’s doch net.“ Alex konnte es immer noch nicht fassen und mir wurde die Sache so unerträglich peinlich, dass ich den Schmerz von der Scherbe im Hintern schon gar nicht mehr spürte.

Und weil die Zeit drängte, wechselte ich nochmal das blutgetränkte Klopapier in meiner beigen Hose aus und betrat gegen 22.00 Uhr mit dickem Hintern die Bühne, ging ans Mikro und sagte zu den anwesenden 50 Leuten.

„Ihr werdet nie erraten, was mir gerade passiert ist.“

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