Valiumträume

Und dann sinke ich wie ein Block Blei in die Tiefe meines Schlafs. Verharre dort regungslos. Für Stunden. Am Ende dann doch der Traum.

Meine Eltern haben ein Haus in Bonn, ich bin der Pflichtgast, die Bootsfahrt dahin war anstrengend. Das Haus liegt neben dem Stadion, es ist laut. Die geladenen Gäste piesacken mich mit Fragen und Scherzen auf meine Kosten wie damals, als ich noch ein Kind war, aber alt genug, um schlechten Humor zu erkennen. Eine deutsche Hip Hop-Band gibt eine Einlage und auch die ist mies, wie Fettes Brot auf kindisch und ohne die Ironie. Diese Jungs lassen mich nachts nicht schlafen mit ihren Witzen. Nach Berlin fliege ich zurück, aber man hält mich stundenlang am Flughafen auf und durchsucht mein Gepäck. Zurück in Berlin, ich bin verabredet mit einem alten Bekannten. Mit dem Fahrrad rase ich einen Berg hinunter, der mich verdächtig an den Uniberg in Regensburg erinnert. Ganz verdächtig. Ich komme an ein weißes Gebäude, vor dem eine Grünfläche liegt. Grasgrün, ohne Hundedreck. Die Hip Hop-Jungs aus Bonn geben eine Einlage und haben sich als Proleten verkleidet, so wie Dendemann das gerade macht. Eine kleine Menge Menschen steht herum. Maximal neugierig, aber noch nicht einmal interessiert. Als die Bonner Hip Hopper mich sehen, sind sie erfreut.
„Der Mann mit dem Led Zeppelin T-Shirt.“, sagen sie und kann sein, dass ich das gestern noch anhatte.
Sie packen ihr Zeug zusammen und wir gehen in das Innere des weißen, einstöckigen Gebäudes. Es ist eigentlich eher ein Überdach, ein steinerner Pavillon mehr als ein Gebäude. Die Hip Hopper reden mit mir, aber ich kann fast nichts hören vor lauter Sonne. Und nichts sehen, ich muss die Augen fast schließen, weil egal wo ich stehe, scheint mir die Sonne ins Gesicht, überblendet alles. Die Seite des steinernen Pavillons, die nicht zu der Grasfläche hinausgeht, zeigt aufs Meer. Sie liegt mindestens 30 Meter über dem Wasser. Funkelndes blaues Wasser, wie soll man das anders sagen, wenn es halt so ist.
„Hör mal, Mann.“, sage ich zu einem von den Hip Hoppern. „Das hier ist wie in L.A. Das Licht, das Meer. Wenn du nicht wüsstest, dass wir in Berlin sind, das könnte auch der Pazifik sein.“
Der Hip Hopper aus Bonn nickt ehrfürchtig und starrt jetzt auch aufs Meer hinaus. Seine zwei Bandkollegen tun es ihm gleich. Ich gehe raus, den Abhang hinunter und frage mich, warum mir das mit dem Meer und dem Licht nicht schon eher aufgefallen ist. Unten angelangt stehe ich vor der Stadtautobahn, die am Ufer entlang führt. Die 100. Schade eigentlich, dass noch eine Straße vor dem Wasser liegt. Aber vielleicht ist das auch nur eine urbane Besonderheit, die eben zu unserer Stadt gehört und man sollte nicht undankbar sein, denn welche Stadt hat schon ein Meer und so ein Licht obendrein.

Und dann bin ich aufgewacht und da muss sich jetzt keiner wundern, dass die Sonne ins Schlafzimmer hineingebrochen ist wie ein Scheinwerfer.

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Dylan Thomas

O may my heart’s truth
Still be sung
On this high hill in a year’s turning.
(Dylan Thomas – Poem In October)

So you watch the sunrise sinking, and she’s talking in her sleep. Das läuft im Autoradio. Auf der Rückfahrt. Weil ich ja dort im ersten Industrieort nach den zig Kilometern aus der Stadt heraus erst die CD kaufen werde. In meinem Szenario sind wir aber noch auf der Hinfahrt, wie das halt oft so ist mit Erinnerungen, reinste Eigenkomposition. Es ist vermutlich schon Anfang Oktober, aber ich schwöre, das ist der einzige Oktober, der das Prädikat golden verdient hat seit ich in der Stadt bin. Alleen, Alleen, die Bäume streicheln die Straße, so tief und grün hängen sie. Von Herbst keine Rede und keine Spur. Perspektive, nichts als Perspektive.

Nach einem Monat Berlin bin ich high wie der Mond über dem Boxhagener Platz, wo ich fast wohne. Nicht schön da, aber ein fast krimineller Gegensatz zur toten Idylle Schwabings noch vor einem Monat. Ich bin am Leben wie eine Seuche und das in zwei Welten. Diese Tage in Berlin ohne Idee, die erst dann aufhören, wenn man es will und in den Zwischentagen in München, dieser innerhalb von vier Wochen völlig fremdartig gewordenen Stadt. In Haidhausen bei der blonden Freundin, die in einer Agentur gearbeitet hat. Die süße blonde Freundin in der blinden Stadt. Diese Idylle im unverschämten Sonnenlicht, hinter dem sich angeberisch die anmaßenden Alpen abzeichnen, wenn man einmal nicht aufpasst. Über den in Sonnenlicht ertränkten Platz gehen und immerhin ist da ein Laden auf dem Hell steht.

Und in wenigen Stunden wieder in der neuen Welt, auf Parties, zu denen man nie eingeladen werden wollte, endlich wieder wildfremd und voller Idiotien. Eine Weile keine Ahnung haben und dabei keine Angst, das ist eine Gauklerei, die mir danach nur noch in den zwei Monaten Barcelona gelingen wird. Noch sind alle Türen ausgehängt, alle Wege offen. Und in die Nächte hineinversinken mit Medizin und Gin Tonic, das geht eine Weile gut, aber am Ende wird es nicht gut ausgehen. Und am nächsten Ende ein paar Jahre später dann vielleicht doch wieder. Und dann…, wer weiß. Aber jetzt einmal noch das Fenster aufmachen – im Auto von dem einen Freund, der mitgereist ist – und an der goldenen Luft fast ersticken. Just one More drink and then I should be on my way home. I’m not entirely sure what you’re talking about, sagt das Autoradio und zuhause kriecht schon Dylan Thomas aus den Startlöchern.

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Der Gummiball

Ich weiß auch nicht, ob ich einfach nur mit jedem Jahr grantiger werde, oder ob es an den Anderen liegt. Ich hoffe ja auf das Erstere. Denn wenn ich derzeit morgens den Spiegel Online oder die SZ Offline aufschlage, dann lang ich mir zunächst ans Hirn. Standardgeste. Egal, welchen Wochentag wir haben, die sogenannten Aufmacher sind immer Sachen, wo man denkt: „Ja, seid’s ihr nicht gescheiter?“.

Die Leute streiten sich um Geld, was längst nicht mehr da ist, hauen sich die Köpfe aus Gründen zusammen, die sie selbst nicht mehr wissen, die meisten armen Schweine ham eh nix zum Fressen und zwischendrin haut die Natur immer wieder mal mit dem Dampfhammer rein, um uns zu erinnern, dass wir hier nicht die Hosen anhaben. So Unmenschen wie Guido Westerwelle dürfen sich ungestraft Minister nennen und von Schröders Politik der ruhigen Hand sind wir mit der Merkel bei der Politik der Hand in der Hosentasche angelangt. „Unser“ Papst ist dabei, einen verbrecherischen Ignoranten und Antijudaisten wie den Pius selig zu sprechen und einen Revisionisten wie den Johannes Paul Part 2 gleich noch heilig. Fehlt nur noch dass der ehemalige Hitlerjunge selbst zu Lebzeiten seine eigene Himmelfahrt bewerkstelligt.
Der Kulturteil beherbergt so Finsterlinge wie Helene Hegemann und Maxim Biller und deutsche Theaterproduktionen sind sowieso längst dem Wahnsinn verfallen. Im Fernsehen regiert der interessierte Laie, ob als Moderator, Kameramann, Schauspieler oder Sänger und im Radio läuft immer noch Summer Of 69. Nur der Fußballsport scheint eine unverwüstliche Delektable im Leben eines modernen Menschen sein, auch wenn Wolfsburg neulich Meister geworden ist.

Ich versuche mich wirklich ernsthaft zu erinnern, ob ich mich die Desillusion über das moderne Dasein schon mal so verdrossen hat und ich werde vielleicht in den 80ern und 90ern fündig, als mir Gudrun Pausewang noch Angst vor Atomkrieg und Atomkraft gemacht hatte, als der Regen noch sauer und die Raketen scharf waren, als die Mauer noch stand und Leute wie Ceausescu und Milosevic praktisch vor der Haustür über Leichen gingen. Irgendwie hatte ich nach dem Ende des Kosovo-Konflikts gedacht, man befände sich globalpolitisch auf einem langsamen aber steten Weg der Humanisierung. Man kann jetzt gegen Schröder, Fischer und Konsorten sagen was man will, aber auch in Regierungsfragen machte ein anderer Ton die Musik. Das Bollwerk sozialer Ignoranz, die Ecclesia Kohl, zerfiel und vorbei waren scheinbar auch die Zeiten solcher Agitzündler wie Strauss oder Geissler, von Schönhuber mal ganz zu schweigen. Und im Gazastreifen sind Frauen in kurzen Röcken in ein Kino gegangen, glaub es oder nicht.

Mir kommt es vor, als hätte man die Uhren unserer Kultur wieder um ein ganzes Stück zurückgedreht. Aber vielleicht ist unsere Zivilgesellschaft auch an eine nicht zu überquerende humanitäre Grenze gestoßen und davon abgeprallt wie ein Gummiball.

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Palästina

How long will you wait
At the shady end of the slope
Am I already late
With my pyramide sized hopes
(Kashmir – Still Boy)

Die Mädchen im Zug scherzen herum. Mädchenscherze, das kann man hören, auch wenn man kein Hebräisch kann. Süß sehen sie aus mit ihren Locken und der dicken Schminke, auf jeden Fall nicht erwachsen. Die Uniformen sitzen toll, das sieht ganz organisch aus. Selbst die polierten Griffe der Maschinengewehre in ihren Händen glänzen angenehm träge in der Mittagssonne. Überhaupt ist die Stimmung ganz gelassen in dem Zug. Die Mädchen scherzen herum und der Rest telefoniert.

In Tel Aviv sitzen wir an dem Frühstückskiosk und trinken frisch gepressten Orangensaft. Am Nebentisch zwei Models, eins einheimisch, das andere wo anders her. Die Frühjahrssonne lullt uns in den Vormittag hinein. Kein Mensch möchte bei so einem Wetter arbeiten oder Krieg führen. Ich würde rauchen, aber mein Magen ist ruiniert. Unten am Meer, in Jaffa, mit den Katzen und dem Auf und Ab der kleinen Treppen, hat man den weißen Blick auf Tel Aviv. Die Hochhäuser dort kennen eine Menge Tricks und Kniffe. An einem Sabbath liegen die Leute am Meer und ein paar betätigen sich als Surfer. Das Dolphinarium ruht brach und verfault über dem Wasser, seit sich 2001 jemand freiwillig mit vielen Unfreiwilligen in die Luft gesprengt hat. Eine 747 kommt übers Meer, über den Strand, in die Stadt.

Nachts ist alles so, wie man es kennt. Die scharfen Weiber sind in den Clubs mit der scheiß Musik und die gute Musik ist da, wo die Ökos und Emos sich die Zeit vertreiben. Bist du DJ aus Berlin, bist du wer, das kann man den Südländern einfach nicht austreiben. Und die ganzen Restaurants. In Tel Aviv machen sie was aus ihrem vielen Gemüse. Anders als in Jerusalem, wo sie eine Gurke und eine Tomate in kleine Teile schneiden und damit hat sich’s. Mein ruinierter Magen hat eh nichts davon. Kein Mensch kann vernünftig Auto fahren und der Asphalt ist noch warm vom Nachmittag.

Der Busbahnhof von Jerusalem ist waffenstarr. Ich muss hier weg. Die alte Jaffa-Straße in die Altstadt. Vorbei am Markt, der unzerstörbare Markt. Alles wirkt wie eine Echtzeitumsetzung vom ersten Assassin’s Creed. Wie modellgetreu die Stadt von Süleyman dem Ersten immer noch wirkt. Wir suchen uns aus, ob wir über die Dächer gehen oder unten durch. Ein Labyrinth, ein Spiel, genau wie die Windungen und Ecksäle der Grabeskirche, wo der Griechisch-Orthodoxe die Leute ins Grab Jesu hinein- und wieder hinausherrscht. Der Tempelberg, der Felsendom, das gelobte Plateau, und es kümmert sich niemand um den Olivengarten dahinter. Der an die Stadtmauer heranreicht. Die Stadtmauer über dem goldenen Tor, das zugemauert ist, nur für den Fall, dass der Messias doch noch. Müll und Katzen in dem Olivengarten. Im arabischen Teil ist es lauter, freundlicher, gelassener. Niemand nimmt Notiz oder Abstand von uns. Wenn man muss, kann man miteinander.

Mitten in Bethlehem. Mitten in der West Bank. Eine Kolonne Autos der Fatah. Niemand schießt mit dem Maschinengewehr in die Luft, aber es wird gleich dunkel. Ich habe die Mauer zuerst für einen Schallschutz gehalten. Zu grotesk erschien mir die schiere Gewalt der Trennung. In Berlin kennen wir keine Mauern mehr. Über diesen Satz habe ich nachgedacht, ihn trotz des übermächtigen Klischees hier hinein geschrieben. Wir nehmen die falschen Abzweigungen und sind die plötzlich die Einzigen. Jetzt erkennt man uns. Alle sehen uns zu, wie wir etwas suchen. Ein unangenehmes Gefühl ist das. Zuflucht vor diesem Gefühl haben wir in der Geburtskirche gefunden. Die Holzbalken hoch oben haben was Katholisches in mir aufgeweckt. Eine Ehrfurcht. Ich habe mich ohnehin schon gefürchtet. In der West Bank. An den Checkpoints. In dem Land.

Die Ruhe vom Toten Meer ist schwarz. Eine stille Masse Wasser, lautlos, farblos und dunkel. Ein paar Meter nur nach Jordanien. Ein paar Meter nur bis zum heiligen Gral aus Indiana Jones und der letzte Kreuzzug. Um das Tote Meer herum ein paar ausradierte Landschaften. Leere Häuser, Einschusslöcher, Bushaltestellen. Mitten in der Wüste, gleich neben Jericho so tief alles unter dem Meeresspiegel. Still ist es, selbst wenn jemand vorbei fährt. Eine Rauchsäule, man denkt gleich Uh. Aber dann nur Palmenblätterverbrennung. Es riecht nach Verbranntem, kilometerweit und schon wieder ein bisschen Ehrfurcht, aber diesmal nicht katholisch. Im Bus spricht uns ein palästinensisches Mädchen an. Es geht in die sechste Klasse in Jerusalem und lernt Deutsch. Sie will wissen, warum wir hier sind. Überhaupt wollen das immer alle genau wissen.

Um den Flughafen herum überall diese Orangenbäume. Im Flughafen drin eine Ruhe. In all dieser Ruhe gesamtbiografische Durchsuchung. Ich mach einen Spaß nach dem anderen, trotz Aviator-Sonnebrille und dunklem Haar, vielleicht gerade deshalb. Tief in die Augen wird einem geschaut und gestoppt wie lange es dauert, bis man auf seinen phonetisch verhunzten Vornamen anspringt. Man sollte nie zulange mit etwas warten hier, bei aller scheinbaren Ruhe. Zwei Hosen und einen Magen hab ich mir hier ruiniert. Aber es geht ja immer weiter.

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Russischer Spam

Hier hat sich alles festgefroren, könnte man meinen. Weil selbst der Akismet-Spam kommt offensichtlich aus der Tundra. Immer eine beispielhafte deutsche Kältesteppe ist auch das Berlin. Aber das Berlin ist einem nicht feindlich gesinnt, das ist ein populäres Missverständnis. Angegriffen von der Kälte fühlt sich nur derjenige, der auch sonst gern in die Defensive geht. Zum Beispiel weil der Arbeitskollege mehr verdient. Oder weil das einjährige Kind nur langsame Fortschritte im Englischunterricht macht. Oder der Baby-Yoga-Kurs zuviel kostet. Aber ansonsten ist es halt einfach kalt. Eine Weile hat keiner reagiert, weil so ein Frost ist ja auch immer eine gute Ausrede fürs Nichtreagieren auf irgendwas. Aber langsam tut sich was, das merkt man. Jetzt wieder der Mayer mit seinem Pathosgetriefe vom nahenden Frühling. Nein, so weit wie bis zum Frühling geh ich jetzt nicht. Hannibal ad portas, so spät ham wir’s noch nicht. Ein paar eiserne Vorräte müssen wir schon noch aufbrauchen bis zum Auftauen. Aber passieren tut schon wieder ein bisschen mehr als noch in der ersten Januarwoche, das kann ja wohl keiner leugnen. Phoenix haben einen Grammy bekommen und der Bruder vom Australier an der Ecke hat Sundance gewonnen. Und die Russen mit der Spaminitiative nicht zu vergessen. Also doch nicht alles festgefroren.

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Verständnishorizont.

Heute, weil bemitleidenswert bettlägrig und erkältet, über Schwarze Löcher gelesen. Und über den Ereignishorizont. Es war mir nicht bewusst, wie viel Poesie in diesen Umständen steckt. Ein Stern, ein Riese, eine Existenz kracht vollkommen in sich zusammen. Das Resultat dieser Zerstörung ist viel zu groß, als dass das Universum mit seinen herkömmlichen Naturgesetzen den Verlust verkraften könnte und so entwickelt es ein eigenes Phänomen, eine galaktische Sickergrube, in der keine einzige der bekannten Regeln mehr gilt. Der Rand dieser Sickergrube nennt sich Ereignishorizont. Das Wort alleine, ich bitte dich. Wenn einer auf ein schwarzes Loch hinzufliegt, heisst es, dann merkt er, wie er sich nach hinlänglich bekannter Physik dem Ereignishorizont nähert. Irgendwann zumindest. Wenn ich aber jetzt eben dieser Person beim Hineinfliegen zuschaue, kommt er in meinen Augen nie am Ereignishorizont an, weil sich in meiner Perspektive grundverschiedene metrische Abhängigkeiten vermischen. Heute, weil ziemlich erkältet und im Bett, über Schwarze Löcher gelesen. Und über den Ereignishorizont. Und über den Zukunftslichtkegel. Wenig verstanden wie bei einem Keats-Gedicht, aber von der Poesie her genauso tadellos.

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Liebes Kriegstagebuch

Bevor ich jetzt noch den zweiten Teil vom Paten anschaue oder/und noch einen tiefen Schluck Wodka On The Rocks einnehme, muss ich schnell erzählen, dass ich mich jedes Jahr gescheit erschrecke, wenn diese Raketen losfliegen. Ich mein, ich war ja nie im Krieg, und livetwitternder Zeuge einer Bombenexplosion war ich auch noch nicht, also ein Trauma ist nahezu auszuschließen, und doch hab ich jedes Jahr das Gefühl, dass da jemand auf mich schießt. Grad hat so ein Depp mir unten auf der Straße einen Kracher direkt vor die Füße geschmissen und die Explosionsbruchstücke sind mir ins Gesicht gedönst. Splittergranate, sag ich nur. Ist ja schön, wenn die Menschen ein bisschen einen Enthusiasmus bekunden von wegen neues Jahr und Jahrzehnt, aber ich wette, spätestens ab Montag lässt man sich in altbewährter Tradition ganz unenthusiasmiert wieder gegenseitig über die Klingen springen. Aber ich will das neue Jahrzehnt nicht mies machen, bevor es überhaupt richtig angefangen hat. Das war jetzt schon die erste Lüge im neuen Jahrzehnt. Aber Schwamm drüber. Weil eigentlich wollt ich euch ja nur meinen Neujahrsvorsatz offenlegen. Ich hab mir nämlich vorgenommen, dass ich im neuen Jahr nicht mehr so oft die heiße Badewanne einlass. Hab ich meiner Frau auch versprochen, weil sonst die Heizkosten, totale Explosion. Nebenkostensplittergranate quasi.

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Wind Wetter Sex Gewalt

Das kann ja nicht gutgehen, wenn es so lauwarm draussen ist im November. Das muss ja den Einen oder Anderen auf dumme Gedanken bringen. Diese fönartigen Luftstöße aus dem viel zu blauen Berliner Himmel in die viel zu warme Stadt hinunter, das wühlt die Leute so auf, das glaubt man nicht. Es fing ja im Prinzip schon gestern Nacht an.

Vor mir ging so ein Mann und ein anderer kam ihm entgegen. Der Entgegenkommende sah den vor mir Gehenden mit einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen an. Neugieriger Hund wie ich bin, habe ich überholt, um zu sehen, was es denn da so Entsetzliches zu sehen gab. Und ich hab mich wirklich sehr gewundert. Der Mann, der dem Entgegenkommenden entgegen kam, sah genauso aus wie sein Gegenüber. Kein Wunder, dass sich der Entgegenkommende zu Tode erschrocken hat. Da hab ich schon gewusst, dass etwas nicht stimmen kann.

Heute morgen dann in der Friedrichstraße eine Polizeikolonne ohne erkennbaren Grund. Danach das Wetter in Neukölln ein einziger lauwarmer Stoß aus Regen und Wind. Dann hab ich in der U-Bahn nach all den langen Jahren herausgefunden wie man gut ankommt bei den Frauen. Also denen in der U-Bahn zumindest. Weißes Hemd, schöner Mantel, graue Strähnen und das Wichtigste: Das Wetter vor 15 Jahren von Haas in der Taschenbuchausgabe lesen und dabei schauen, als könnte man kein Wässerchen trüben. Irrsinnsresonanz, glaubt man nicht. Aber erstens bin ich ja so zehnermäßig verheiratet, dass mir das auch nichts gebracht hat, ausserdem lags wohl nicht an mir, sondern an den Windstößen und der übernatürlichen Temperatur in der Stadt. Und natürlich an der Polizei.

Weiß doch jeder, dass man sexuell ganz anders stimuliert wird, wenn Gewalt in der Luft liegt. Zur Polizei komme ich gleich noch. Erst einmal hat die U-Bahn ganz lange angehalten und der Fahrer hat per Durchsage gefragt, ob ein Arzt in der U-Bahn ist, man benötige ganz dringend einen Arzt. Nach fünf Minuten ist die U-Bahn dann in die Haltestelle Rosenthalerplatz eingefahren und unten haben alle gedrängelt, um nach oben zu kommen. Oben warteten Hundertschaften von Polizisten und eine kaum zählbare Anzahl an Einsatzwägen. Das besetzte Haus in der Brunnenstraße. Das wirds sein. Hab ich mal zwei Wochen daneben gewohnt. Laut, die Leute da drin, meine Herren. Aber von mir aus können die da gerne wohnen, solange sie nicht so laut sind. Die vielen wartenden Polizisten scheinen mir aber auch ein wenig wirr von dem Wind zu sein. Viele schauen besorgt in den Himmel. Dort dröhnen und lauern die Polizeihubschrauber. Keiner weiß genau, was hier vor sich geht, die Polizei scheins auch nicht. Als würde gleich etwas in die Luft fliegen, so kommt einem das vor.

Gestern nacht stand ich an der Fußgängerampel und habe Musik aus Kopfhörern gehört. Draußen war der Verkehr einigermaßen laut und der Wind tobte um die Häuser. Die Ampel war rot. Ich hab die Augen zugemacht und trotz der Musik und des Winds gehört, wie die Leute auf der gegenüberliegenden Straßenseite losgegangen sind. Es war grün als ich die Augen wieder aufgemacht habe. Ich hab das alles so präzise wahrgenommen, dass ich mich gegruselt habe. Auch das hatte wohl was mit dem Wind zu tun, der die Geräusche so herüber geweht haben muss von der anderen Straßenseite. Auf jeden Fall wusste ich da schon, dass da etwas nicht stimmen kann. Jetzt sitz ich in der Wohnung und überall das Gebrüll von Sirenen und Helikoptern. Macht mich ganz scharf irgendwie.

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Enge Hosen

Da bist du ja grade noch rechtzeitig gekommen, duzt ihn die Verkäuferin von der Boutique mit den engen Hosen.
Warum, fragt der Mandel zurück.
Na, weil jetzt bald die Jodhpurhosen da sind.
Die was, bitte?
Das sind diese MC Hammer-Hosen. So pluderartig, sagt die Verkäuferin von der Boutique mit den engen Hosen.
Super, denkt sich der Max Mandel. Jetzt hat er sich nach zwei Jahren mal dazu überwinden können, sich so eine enge Hose zu kaufen, weil das jetzt ja alle tragen, die noch jünger sind, und jetzt kommt schon wieder was Neues.
Pluderhosen, das klänge fürchterlich, sagt der Mandel zu der Verkäuferin von der Boutique mit den engen Hosen. Ob man da drum herumkäme und ob es sich rein modisch noch rentiere, eine enge Hose zu kaufen.
In Independentkreisen ist das ein zeitloser Klassiker, versichert ihm die Verkäuferin von der Boutique mit den engen Hosen, was den Mandel ungemein beruhigt. Nicht, dass er sich jetzt zu einem Independentkreis gezählt hätte. Er ist schließlich schon längst zu alt für einen Kreis, ausserdem darf man sich da als Schreiber auch nie so festlegen. Aber der Mandel weiß, dass ein Independentkreis so rein stilistisch nie so daneben liegt, wo doch die Independence einfach nur ein Etikett für die neue Generation von Rockstars geworden ist, die wirklich jedes Mädchen gut findet. Von der Ku’Dammschnickse bis zur Elektromaus: wie die Strokes auszusehen, da spricht heutzutage gar nichts dagegen. Mandel lässt sich von der Verkäuferin von der Boutique mit den engen Hosen ein paar enge Hosen geben und geht in die Umkleidekabine.

In der Umkleidekabine zwängt sich der Mandel dann in die enge schwarze Hose und fragt sich, ob ihm das damals in den 80er Jahren vor dem Metallica-Konzert auch so schwer gefallen ist. Master Of Puppets war da erschienen, der Mandel war 14 und hatte sich eine blaue Stretch-Jeans gekauft, weil damals hieß das noch nicht Skinny Jeans. Aber Angliszismen hatte man damals schon ganz verschwenderisch benutzt, da muss man sich nichts vormachen. Weil die Leute sagen ja immer: jetzt, die Nullerjahre, alles so schlimm mit Anglizismen. Stimmt gar nicht. Da schauen Sie in die Achtziger: Laserdisc, sag ich nur. Das war auf jeden Fall die erste enge Hose vom Mandel gewesen und dann hatte er sich aus abgeschnittenen Socken Schweißbänder gebastelt. Weil solche trugen die Männer von Metallica auch. In Schwarz. Und vor dem Spiegel hat er mit dem Zirngiebl Andi Headbangen geübt. Damit man Abend nicht blöd dastand, wenn alle anderen professionell headbangten und man selbst war unsicher in der Kopfbewegung. Sehen Sie, schon wieder ein Anglizismus. Headbangen.

Der Mandel hat jetzt die Hose an und die war um die Hoden herum schon arg eng, findet er. Also noch nicht so eng, dass es weh tut, aber schon so, dass er gesagt hätte, muss jetzt nicht sein. Er sieht sich im Spiegel an und findet, dass seine Beine zu kurz sind für die Stretchhose, die jetzt Skinny Jeans heißt. Er geht aus der Kabine hinaus und marschiert im Umkleidebereich auf und ab. Die Verkäuferin von der Boutique mit den engen Hosen beobachtet ihn und sagt: Das sieht aber ganz gut aus, oder?
Das Oder irritiert den Mandel. War das nicht die Aufgabe von so Verkäuferinnen, solche Oders gar nicht erst aufkommen zu lassen?
Ich nehm die, sagt der Mandel, weil er zu faul ist, die enge Hose wieder auszuziehen. Das wird abends vorm Bettgehen schwer genug werden. Und so packt die Verkäuferin von der Boutique mit den engen Hosen die alte weite Jeans vom Mandel in eine Tüte mit dem Logo von der Boutique mit den engen Hosen und der Mandel zahlt schon in der neuen Hose. Und in der neuen Hose geht er auch auf die Straße und denkt ein bisschen darüber nach, warum ihn die Veronika Malleck jetzt eigentlich gestern gesiezt hat, wo sie doch nur fünf Jahre auseinander sind.

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Aufstehen

Das ist schon etwas merkwürdig. Gerade träume ich noch, dass ich in dieser Redaktion arbeite. Und es ist wie in allen Redaktionen, in denen ich je gearbeitet habe. Es ist wie in der Schule. Selbst wenn man der Chefredakteur ist. Es kann auch gar nicht anders sein, wenn Menschen mit Selbstfindungsdrang sich unter Zwang mit Kultur beschäftigen. In dem Traum war es der letzte Tag vor dem Sommerurlaub, den Sommerferien, wenn man so will. Ich hatte mir vorgenommen, nach Irland und nach Holland zu fahren. Bevor ich das Büro verlassen konnte, bin ich aufgewacht und hatte diesen Zwan-Song im Ohr. Zwan war Billy Corgans etwas übermotivierter Versuch, sich im Bereich melancholischen Progrocks zu etablieren. Ich gehöre vielleicht zu einer Minderheit, aber ich mag die Platte. Ich wache also auf und habe diesen Song im Ohr und diesen Geruch in der Nase. Der Geruch ist Barcelona an einem verregneten Morgen. Die Luft ist leicht und der Regen mild. Es ist kalt, vielleicht 10 Grad, aber nie so kalt wie in Berlin bei 10 Grad. Ich schaue zum Fenster und das Stück Himmel, das ich von meinem Bett aus sehen kann, sieht genauso aus wie der Himmel an eben einem solchen Tag in Barcelona. Ich öffne das Fenster und es stimmt: es ist die selbe Luft, der selbe Geruch. Nur für ein paar Minuten, dann verflüchtigt sich der Geruch und es wird kalt werden im Lauf des Tages. Ich gehe ins Wohnzimmer an die furchterregende Batterie an Hunderten, vielleicht Tausenden von CDs in den Ikea-Türmen. Ich finde die Zwan-CD auf Anhieb und – ohne Scheiß – sowas ist mir noch nie gelungen, wenn ich eine CD mindestens ein Jahr nicht mehr gehört habe. Man muss wissen, ich habe kein System in der Anordnung meiner CDs. Vor zwei Jahren begann ich mal mit einer Katalogisierung in Musikrichtungen, aber der Versuch wurde zur Ruine, von der nur das Fundament Punk und Hardcore stehen blieb. Ich hör mir betreffenden Zwan-Song an und es ist, als hätte ich ihn grade vor 5 Minuten gehört. Noch ein paar Minuten riecht es nach Barcelona und ich reisse auch im Wohnzimmer das Fenster auf.

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