Das falsche Tagebuch: 12. Januar 2014

Vier Tage Bandprobe liegen hinter mir. Die Band kommt aus verschiedenen Teilen Deutschlands zusammen, um im Wedding vier Tage am Stück zu spielen. Das ist beinahe wie eine Woche in Männerurlaub zu fahren. Mit Whiskey schon nachmittags, dem Absturz in finsterste Albernheiten, ewiger Verbrüderung, aber auch menschlischer Dampfkessel-Entlüftung. Klassische Psychohygiene also, die soziologischen Mechanismen einer Familienfeier greifen hier, auch auf den Alkoholkonsum bezogen. Es sind zwei neue Songs entstanden, einer klingt nach Maiden, der andere nach Sabbath. Und natürlich in keinem Zusammenhang steht die Tatsache, dass die Band „The Prisoner“ und „Supernaut“ von besagten Bands nachgespielt hat. Ende Februar geht die Band auf eine kurze Bayerntour, und ich hab ein wenig Angst, weil ich touren eigentlich nicht leiden kann und zudem nichts ungerner tue als weite Strecken mit dem Auto fahre. Außerdem bin ich nicht gern von der Familie weg, noch nicht einmal drei Tage. Dann wiederum gefällt mir die Idee, sich gehen zu lassen, um für kein Geld abends wenige Leute bestmöglich zu unterhalten. Weil es radikal und ideell ist. Rock’n’Roll ist in seinen Anfängen immer eine völlige Selbstverleugnung und eine Abweisung vernünftiger Lebenswege, deswegen ist er grade am Anfang immer so gut. Sobald die Infrastruktur Einzug hält, leidet die Inspiration. Chemieunfall in West Virginia, 300.000 Menschen ohne Wasser.

Das falsche Tagebuch: 6. Januar 2014

Kaum ein Auge zugetan, weil das neue Jahr gedanklich mit voller Wucht bereits nachts über mich hereingebrochen ist. Beginn der ersten „Arbeitswoche“. Es gibt noch nicht viel Arbeit, aber es steht schon wieder zuviel auf dem Spiel für meinen Geschmack. Das Geld, das Renommee, der Seelenfrieden. Der neue Mandel ist längst fertig, aber bisher hab ich keinen Gedanken an ihn verschwendet. Seit drei Tagen – seit ich anfange, Veranstalter für die Lesereise anzuschreiben – denke ich in ausgiebigen Schleifen an ihn und was er mir bringen wird – oder eben nicht.

Am Wochenende war ich betrunken. In einem Club, auf einer dieser Feiern. Dieser, weil jeder weiß, was ihn erwartet. Eine dieser, die ich im Nachhinein als eine Wilson-Gonzales-Ochsenknecht-Party bezeichnet habe, völlig unabhängig davon, ob er überhaupt da war: Enge und Inhaltsleere, Koks und Hip Hop. Hip Hop ist überhaupt das neue Elektro. Ich habe das schon zu Café-Moskau-Zeiten gesagt, als es noch als prolliger galt. Und im Rio in dem kleinen Zimmer oben haben sie das auch schon gehegt und gepflegt. Alles darf dreckig, sexuell, kaputt und gleichzeitig fröhlich sein, wenn Hip Hop läuft. Sogar Hits sind erlaubt.

S. stellt mir seinen Friseur vor. Auf den ersten Blick ein Hardrocker auf den zweiten Blick ein Schönling, auf den dritten ein Depp. Er ist ganz nervös, der Friseur. Er erwartet sich noch eine Menge von dem Abend, das kann man sehen. Jemand steckt ihm einen Briefumschlag zu, vielleicht war es das, was ihn nervös gemacht hat und noch machen wird. Wie ein Reh springt er manchmal verschreckt und ohne Not hoch und streckt dabei die Arme weit von sich. S. geht mit dem Friseur aufs Klo. Später wird er von „Rattengift“ sprechen, das ihm dargereicht wurde.

Ich treffe meinen literarischen Zeitgenossen Nagel. Das hätte ich ja gerne: so einen Verbund an befreundeten Schriftstellern wie die Gruppe 47. Aber vielleicht sage ich das nur, weil ich Aufmerksamkeit brauche, eigentlich will ich ja keinem Verein und keiner Gruppe angehören. Nagel dürfte aber in meine Gruppe. Weil er so viele Mädchen kennt, erzähle ich ihm von einem prähistorischen Aufriss, als es die Hotelbar in der Zionskirchstraße noch gab. Das Mädchen und ich waren so betrunken, dass ich im Prinzip erst morgens richtig verstanden habe, wie sie aussieht. Sie kam dann aus der Dusche und ich habe so etwas gesagt wie: „Du siehst ja hübsch aus“. Und sie hat so etwas geantwortet wie „Glaubst du, das weiß ich nicht?“. Sie ist Schauspielerin aus München und 21, hat sie damals behauptet. Am Vorabend hat sie noch laut auf der Straße geschrien: „Oh nein, ich habe einen neuen Freund, ich habe einen neuen Freund“, aber dann hat sie sich nie auf meine SMS gemeldet, die ich einen Monat später geschickt habe, weil mir der Abend selbst irgendwie unangenehm war. Ich frage Nagel, ob er sie kennt, aber er kennt sie nicht und findet es vermutlich ein wenig seltsam, dass ich annehme, er könnte sie kennen.

Ich bleibe noch ein bisschen und sitze kraftlos herum. Eine Gruppe junger Mädchen setzt sich neben mich und ich fühle mich beobachtet – ich weiß dann immer nicht, was ich mit den Beinen machen soll, wie man sie am indifferentesten übereinander schlägt. Weil ich nicht draufkomme, gehe ich nach Hause.

Heute ist ein Tag, an dem viel von Emails abhängt. Meistens kommt den ganzen Tag über keine Nachricht, erst wenn ich keine Zeit mehr habe, weil ich mit meinem Sohn unterwegs bin, treffen alle auf einmal ein. Merkel beim Langlauf verletzt. Gleich postet wieder jemand einen lustigen Artikel vom Postillon dazu. Der Postillon ist wie die Satireseite in meiner Schülerzeitung damals. „Mampf“ hießt die Zeitung und ich habe auch Satire geschrieben. Zum Beispiel über Känguruhs, die sich auf Tragflächen von Flugzeugen ins Land schmuggeln. Das war wegen der Asylpolitik damals, Ende der Achtziger. Diese Art von Satire ist scheiße, weil die Realität der Satire ja uneinholbar voraus ist, hat damals der Sigi Zimmerschied ganz richtig gesagt. Eine gescheite Satire, wenn es so etwas gibt, ist die lakonische und nur sanft annotierte Wiedergabe von Tatsächlichem. Der Hildebrandt hat das super gemacht, Priol, Pelzig und Schramm können das. Polt und Loriot sind in ihren Sketchen oft so wenig von der Realität abgewichen, dass die Pointe eigentlich das Schwächste an den Inszenierungen sein musste.

„Horst Seehofer ist der Antichrist“, habe ich neulich auf Twitter geschrieben. Das ist mehr als nur ein billiger Witz. Die CSU motiviert die Leute abseits aller Fakten dazu, sich vor Überfremdung und dem Fremden an sich zu fürchten. Ich bin nicht mehr in der katholischen Kirche, aber das erscheint mir nicht gerade sehr christlich, wenn ich das Neue Testament richtig verstanden habe.

Ich muss jetzt schon den Druck aus dem neuen Jahr nehmen, merke ich. Ich bin angespannt, aber es kann auch der Hunger sein, weil ich außer einem Franzbrötchen nichts gegessen habe.

Das falsche Tagebuch: Kurzanleitung

Dieses Blog gibt es seit April 2005 und es ist seitdem viel Blödsinn hier geschrieben worden (mit so einer Passivkonstruktion spricht man sich selbst ein bisschen von der Verantwortung frei). Aber manch Blödsinn war immerhin ein (wenn auch meist wehleidiger) Zeuge seiner Zeit, und mancher war vielleicht gar kein Blödsinn. In den letzten Jahren ist meine Seite mehr denn je zu einer Fußballangelegenheit geworden, gepaart mit ungenügend getarnter Eigen-PR für meine Bücher und Veranstaltungen. Beides kann und mag ich auch nicht sein lassen, allerdings juckt es mich, das Medium wieder literarischer und protokollarischer zu nutzen.

Ergo heißt das, was ich hier ab heute versuchen werde: DAS FALSCHE TAGEBUCH und behandelt das halbwahre Leben des Bloggers namens St. Burnster in unberechenbaren Intervallen. Halbwahr, weil es ein Publikumstagebuch ist, weil ich die Wahrnehmungen steuere und weil ich theoretisch wie gedruckt lügen kann, wahrscheinlich aber zu bequem dafür bin. Wie man das falsche Tagebuch liest, bleibt dabei jedem selbst überlassen: wie ein echtes Tagebuch, wie einen Roman oder wie die Bildzeitung – das Blog ist ja immer auch das Eigentum seiner Leser.

Egal worum es geht, ich bin dafür

2013 ist mir eines ganz unangenehm aufgefallen. Ein gemeingefährlich trotziger Impuls zur Widerrede wider der Widerrede. Zum Beispiel: wenn Til Schweiger sein Leben lang nur Scheißfilme dreht, muss man nicht aufhören, das zu sagen, nur weil alle das sagen, oder er fünfzig wird. Oder: wenn ich die von der Leyen scheiße finde, höre ich nicht auf, sie scheiße zu finden, nur weil ob der großen Koalition eine neue Hämewelle ob ihrer Frisur über uns hereinbricht. Ich werde nicht plötzlich emphatisch, nur weil ich auch schon schlechte Frisuren im Leben hatte. Ich bin nicht plötzlich dafür, nur weil alle dagegen sind. Ich werde auch nicht in Bully Herbigs „Buddy“ gehen, nur weil er sich soviel Mühe damit gegeben hat. Ich hätte ja beim Trailer schon auf- und davonlaufen können. Manchmal glaube ich, dass der Deutsche letztlich nichts mehr schätzt als Beharrlichkeit. Wer die ganze Zeit immer denselben Mist macht, muss offensichtlich im Recht sein. Bald findet sich unter den jungen Leuten wieder eine große Lobby für Kernkraftwerke, Tierversuche und sauren Regen. Hat ja Tradition, kann also so verkehrt nicht sein.

Die große Koalition

Als es für die SPD das letzte Mal darum ging, zu regieren aber doch zu parieren (sprich: mit Merkel als Kanzlerin), war ich dafür. Die Bundestagswahl 2005 ging super-super-superknapp aus, der Stimmerfolg gab der SPD recht, sich trotz der Kompromisse nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen.

Jetzt sieht das ganz anders aus. Salomonisch gesprochen könnte man sagen: besser eine Regierung mit SPD-Beteiligung als eine, in der Merkel und Seehofer frei herumlaufen. De facto trägt man aber nur weiter zur Apotheose von Angela Merkel bei, wenn man in dieser Regierung etwas bewerkstelligt.

Egal wieviele Kompromisse man der Union in den Verhandlungen jetzt abgerungen hat und wieviel Minister man unterbringt, man hat sich das eigentlich nicht verdient, weil hinter dem Wahlkampf keine Idee steckte und hinter der Beteiligung an einer großen Koalition noch viel weniger. Das Mitreden an sich ist freilich eine passable Motivation für eine Volkspartei, und da alles andere als Realpolitik im Moment als schwer uncool gilt, traut man sich kaum noch querzudenken, geschweige denn gesellschaftliche Utopien mehr als im stillsten Kämmerlein zu diskutieren, aber mir reicht das nicht.

Ich will eine Vision, ich will einen klaren Widerspruch. Zu NSA, zu Vermögensspekulation, gegen Deutschtümelei und den sanften Separatismus, den man mit der Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft andeutet. Ich will schnellere Lösungen mit der Atomkraft und gerechtere Verteilung des Vermögens, mindestens eine marginale Regulation der Marktwirtschaft und das Ablegen des blinden Glaubens an Wirtschaftskreisläufe.

Was ich nicht will, ist eine „Der Weg ist das Ziel“-Philosophie der SPD, in der Politik ist das nur eine Ausrede. Vier Jahre Erfolg in der großen Koalition bedeuten zudem nur eins: weitere vier Jahre in der Koalition oder vier in der Opposition. Die Früchte wird nie ein Sigmar Gabriel tragen, wenn es welche zu tragen gibt, dazu fehlt ihm eine halbwegs sympathische Außenwirkung, das hat nichts mit seinen Fähigkeiten als Politiker oder seiner Gesinnung zu tun, schauen Sie sich nur die Beliebtheitswerte an.

Im besten von diesem schlechten Fall, zieht man sich in den kommenden vier Jahren mit Hannelore Kraft heimlich einen furchterregend roten Merkel-Golem heran, während man die Union in der Koalition einlullt.

Jetzt wird wieder in die Hände gespukt

Nenn mich amerikanophil oder einfach nur kindisch, aber ich adaptiere dieses Halloween gerne. Leider bin ich selbst zu groß und mein Kind noch zu klein, um verkleidet von Tür zu Tür zu gehen, und dann kommt dazu, dass es hierzubierernstenlandes so gut wie keinen Gruselkonsens und somit auch keine dekorierten Wohnungen und Haustüren gibt. Was mich abgesehen von Süßigkeiten und Kürbisgewitter immer schon fasziniert an der ganzen Allerheiligen-Preshow: dass man eine ganze Nacht den Toten widmet. Ich finde das wildromantisch, beängstigend und hoffnungsvoll in ein und demselben Gedankengang. Man stelle sich nur vor, der Tote an sich hat eine Nacht lang Ausgang. Was er wohl für melodramatische Dinge anstellen mag, weil so ein Tod geht ja in den seltensten Fällen spurlos an einem vorüber. Oder in diesem Falle spuklos. So angegruselt wie ich eh schon bin und wo grade ein paar der letzten Sturmnächte die Wolken so herrlich vor sich hergepeitscht haben und einen schwarzblauen Symbolhimmel preisgegeben haben, möchte ich eigentlich den ganzen Tag nur Gruselfilme schauen. Leider komme ich nie vor 23.00 Uhr dazu und meine Lebensdauer vorm Einschlafen beträgt dann nur noch zirka 15 Minuten.

Zur Bayernwahl und überhaupt

Warum kann ein Wendehals und Egotist wie Seehofer trotz Nepotismus, Bankenskandalen und vollkommen zerstocherter Parteipolitik solche Mehrheiten auf sich vereinen? Nicht schwer zu erklären: Unsere Gesellschaft, die deutsche meine ich im Speziellen, ist motiviert von Angst und Phlegma. Nie zuvor wurde (auch dank Internet) soviel genörgelt und konvers dazu so wenig getan. Das Kehren vor der eigenen Haustür geht halt viel besser, wenn sich der Status Quo nicht ändert und damit ist das bundesdeutsche wie das bayerische Wahlverhalten erklärt. Die Leute haben eine Heidenangst und sind obendrein faule Schweine.

In meiner Wahrnehmung hat diese groteske Lebensangst mit dem 11. September begonnen und ihre nächsten sich selbst bestätigenden Kapitel mit der Lehman-Bankensause und der Staatspleite von Griechenland erfahren. Dazu kommt das, was ich die globale Gewissheit nenne: wir saturierten Eurpäer sind nicht mehr alleine auf der Welt, und unser Artverwandter, die USA, hat seine abschirmende Hegemonialstellung verloren. In der größeren Hälfte der Welt erheben nun (und eigentlich schon immer) Krieg, Hungersnöte und Revolution ihr meist hässliches Haupt. Im Angesicht dieser Kumulation von Unwägbarkeiten hilft nur eine Bewahrungsmentalität und wie man etymologisch unschwer herleiten kann, entspricht der politische Konservatismus dieser Geisteshaltung am besten. Dazu kommt noch ein bisschen Rückzug ins Private und Materielle (ein neues Biedermeier, sprich die Eigentumswohnungsbewegung) und fertig sind die Machtverhältnisse der Achtziger Jahre. Wir erinnern uns: auch damals war die Angst groß: vor Waldsterben, Atomkrieg und den Russen.

Expo Hannover

Honestly, we lie through our teeth
But our bodies just survive the weeks
If we’re rolling over, we’ll meet when we sink.
Until we hand over Hannover.

(Maritime – Hand Over Hannover)

2000 mit dem Bassisten auf der Expo Hannover. Ex-Bassisten um genau zu sein – wir reden wieder miteinander. Mit dem Zug. Ich fahre nie Zug. Familien mit ganzen Mittagsmenus machen sich breit. Ich bin Mitte zwanzig und eine Familie ist das undenkbarste auf der Welt, was klar ist, wenn man bedenkt, dass ich erst vor sieben Jahren von meiner weggezogen bin. Der Sommer fängt gerade erst an, es ist mein letztes Jahr in der alten Stadt. Das weiß ich, weil ich es so beschlossen habe, egal was noch passiert. Ich habe gerade ein Jobangebot aus Hamburg abgelehnt, und ich weiß nicht, was ich tun soll, aber ich bleibe nicht in der alten Stadt. Das geht nicht mehr. Die ganzen Jahre habe ich mir überlegt, was ich tun soll, wen ich anrufen soll, aber für den letzten Sommer in der alten Stadt habe ich mir vorgenommen, einfach nur da zu sein und abzuwarten. Abwarten und zusehen, wie schön es in der alten Stadt sein kann, wenn man sie nicht für den Irrsinn verantwortlich macht dem man zwischenzeitlich anheim gefallen ist. Wahnsinn, wie verrückt man in nur sechs Jahren werden kann. Die alte Stadt kann nichts dafür, sie hat den Sommer, die Hügelkette, den breiten Fluss und die Mädchen. Und ich bin nur undankbar.

Ich weiß nicht, was eine Expo ist, was eine Weltausstellung ist. Ich weiß nicht, was ich hier soll. Ich habe gelesen, dass Monumente und ganze Stadtteile zu vergangenen Expos entstanden sind. Hier ist nur ein Messegelände. Danach wird mich das Thema so lange nicht loslassen, bis ich einen Bildband mit allen Weltausstellungen und allen wichtigen Pavillons und Gebäuden gefunden habe. Aber jetzt bin ich nur verwirrt, darüber, wie viel ich laufen muss, wie lange ich in Schlangen stehe und wie wenig ich verstehe. Ich verstehe die Ausstellung nicht, aber da es mein letzter Sommer ist, beschließe ich, mein Unverständnis nicht zu hinterfragen. Irgendwann liege ich unter einer Installation auf Kopfsteinpflaster, Laserstrahlen durchstreifen den riesigen improvisierten Raum und eine Art Meditationsmusik kommt angespült. Ich fühle mich leer und zufrieden, ich schlafe für ein paar Minuten ein. Es ist beinahe das beste Gefühl, das ich je hatte. Ich werde es erst sechs Jahre später wieder in Barcelona um die Mittagszeit vor dem MACBA haben, als ich den Skatern zuschaue und ein Brot mit Salami esse. Aus diesem Gefühl der Leere heraus lasse ich mich mit dem Ex-Bassisten durch die immer leerer werdenden Straßen der Weltausstellung fallen. Todmüde. In einer kleinen Pension, deren Zimmer mich an Zimmer im Kloster Vilshofen erinnern, liege ich mit leichtem Kopfschmerz, trinke ein Bier aus der Flasche und schaue ein Fußballspiel, das vielleicht etwas bedeutet.

Am nächsten Morgen sind wir noch einmal kurz auf dem Ausstellungsgelände. Ich esse eine Wurst und ein Eis und gehe in den Schweden-Pavillion, weil er am Vormittag nicht so überlaufen ist. Nichts interessiert mich, und nichts stört mich. Ich habe seit ein paar Wochen ein Mobiltelefon und erschrecke mich zu Tode, wenn es klingelt. Kaum jemand hat meine Nummer. Die Kinowelt AG aus München ist dran und will mir einen Festvertrag anbieten, obwohl ich gerade von der Universität komme und so gut wie keine praktische Erfahrung in Online-Redaktionen habe. Das ist das Jahr 2000. Ich sage, ich rufe später zurück, und gehe aufs Klo. Auf dem Klo ruft MTV an und bietet mir einen Festvertrag als Online-Redakteur an. Vor zwei Wochen war ich eine Stunde zu spät zum Vorstellungsgespräch gekommen, weil ich in der großen Stadt München mein Auto nicht mehr finden konnte. Ich sage zu. Ich sage zum Ex-Bassisten, dass ich ab Herbst in München arbeiten werde. Und dass ich jetzt zurück in die alte Stadt fahren will.

Grubenpferd

Ein Grubenpferd schleppt sich durch die Minengänge, ein Musiker versucht, all die Lücken zwischen seinen Noten zu füllen. Ein Installateur flucht das ausgeleierte Gewinde an und ein Schauspieler findet die zweite Version des Stücks noch furchtbarer als die erste. Niemand glaubt in diesem Moment an irgendetwas anderes als an die Machbarkeit der Dinge. Erst danach kommt die Religion. Mit der Verzweiflung über die Unmachbarkeit der Dinge. Mit der Verzweiflung kommt die Religion. Mit der Nacht kommt die Angst. Mit der Nacht kommt die Wut. Mit der Wut kommt die Politik.

Unter Tage hat man vergessen, wie spät es ist. Über den Autobahnen ist man mit den Gedanken auf dem Boden, nur bei der Machbarkeit. Schau hin: der Lagerist will sich umbringen, nicht weil er Lagerist ist, sondern weil alles zusammenkommt. Das behauptet auch der Leiter einer erfolgreichen Kleinkunstbühne in Jena. Das Grubenpferd wird abgeseilt, der Musiker schreibt ein schlechtes Lied, weil er die Lücken zwischen den Noten mit Mist gefüllt hat. Der Installateur hat ein neues Gewinde angebracht, das Thermostat funktioniert wie am ersten Tag. Der Schauspieler hat gelernt zu spielen, was er spielen muss. Manchmal ist da eine Metapher, aber immer ist es Machbarkeit. Sie kommt lange vor der Religion. Sie kommt weit vor der Wut und der Politik.

Ich kann mir ein bisschen verzeihen, ich kann es mir ein bisschen nachsehen, aber ich kann nicht so sein. Ich brauche eine Idee. Noch vor der Machbarkeit, noch vor der Wut, noch vor der Religion.

Die Lesereise II – Hamburg

Es gibt eine Zeit für viele Worte, aber irgendwann musst du auch pennen gehen.
(frei nach Homer aus der „Odyssee“)

26.03.2013 Hamburg, Molotow

Das Schöne an Lesungen in Hamburg ist, dass man mit dem Zug fast genau so schnell von Berlin aus da ist, als würde man mit der S-Bahn zum Flughafen SFX (ehemals BER) fahren. Nach einem Leberkäse (schauen Sie mich nicht so komisch an, das stand da auf der Karte) auf der Reeperbahn sitze ich auch schon das letzte Mal im Rahmen der Black-Mandel-Reise hinter meinem Pult und lese ein paar Stellen aus dem kommenden Mandel vor, der sich „Der große Mandel“ nennt und sich unter anderem mit einem Wanderzirkus-Milieu namens „Wrestling“ beschäftigt.

In der betreffenden Stelle geht es um Maria, die große unbekannte, oft erwähnte, aber nie auftauchende Freundin von Sigi Singer (deren Beziehung ist ja auch eine Art Ringkampf) und so erfährt Hamburg als erste Stadt der Welt, wie sich Sigi und Maria damals kennengelernt haben. Stichwort: Rundlauf.

Apropos Sigi Singer: Die Lesung in HH widme ich dem echten Sigi Singer, der in München gewohnt hat, und mir mal einen sehr humorigen Brief geschrieben hat, weil er es toll fand, dass jemand der so heißt wie er, der Protagonist eines Krimis ist. Das hat mich gerührt und ein bisschen mehr gerührt hat mich die Nachricht, dass der echte Sigi Singer vor kurzem gestorben ist.

Vom Sterben zum Heiraten: Als ich nach der Pause wieder zum Lesetisch zurückgehe, stolpere ich und lande ganz fürchterlich ungelenk auf den Knien zu Füßen einer jungen attraktiven und mir Gottseidank bekannten Dame. Lässig aus so einem Sturz heraus zu kommen, ist unmöglich. Moment mal, mir fällt was ein. „Willst du meine Frau werden?“, sage ich und sie sagt ja. Jetzt bin ich verlobt und hab mich gleichzeitig gut aus der Affäre gezogen. Was meine Frau dazu sagen wird, steht auf einem anderen Blatt.

Die weitere Lesung verläuft ohne Zwischenfälle sprich weiteren Heiratsschwindel, aber so ganz stimmt das auch nicht. Ein unfassbar betrunkener und überwiegend fremdsprachiger Mann namens Christof (echter Name der Redaktion entfallen) setzt sich in die zweite Reihe und kommentiert jeden zweiten meiner Sätze. Das „Sicherheitspersonal“ vom Molotov würde ihn gerne entfernen, aber das Publikum und ich geben ihm eine faire Chance, wenn er die Schnauze hält. Und noch eine. Und noch eine. Und noch eine. Dann mache ich es wie bei meinem Sohn: Ich gehe direkt von verständnisvoll zu ungnädig über und schmeiße ihn gleich selbst hinaus. Christof ist das egal, analog zu meinem Sohn.

Nach der Lesung sitze ich im Molotov herum, weil ich noch nicht ins Bett will. Das ist das Schöne auf Lesereisen: das hinterbliebene Publikum hat mich anderthalb Stunden kennenlernen können, ich muss mich nicht mehr vorstellen, erklären oder krampfhaft Gesprächsstoff finden, wenn ich mich zu fremden Leuten setze und mit ihnen etwas trinke. Das ist meistens eine tolle Erfahrung und man fragt sich, warum man das in seiner eigenen Stadt nie macht. Irgendwann fordert der Jameson aber seinen Tribut und damit meine ich nicht nur den Jameson von Hamburg. Auf der nächsten Lesereise werde ich nicht mehr soviel Jameson trinken, sage ich mir, bevor ich ins Bett gehe. Bushmills ist ja auch nicht verkehrt.

PS: Wir sehen uns bald wieder HH, vielleicht schon zum Reeperbahnfestival. Den gesamten „Tourbericht“ kann man unter diesem Link nachvollziehen.